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UNSER HEIM

 

(Eine Stadt in der spirituellen Dimension)

 

(Nosso Lar)

 

 

 

 

 

Eine Beschreibung des Geistwesen André Luiz vom kommenden Leben

 

 

 

 

 

 

FRANCISCO CÂNDIDO XAVIER

 

 

 

 

1999

 

 

 

 

www.himmels-engel.de

 

www.angels-heaven.org


 

 

 

 

 

FRANCISCO CÂNDIDO XAVIER, besser bekannt als Chico Xavier, ist ohne Zweifel einer der bekanntesten und hervorragendsten Exponenten der brasilianischen Kultur des XX. Jahrhunderts.

 

Sein Leben hat er in den Dienst seiner Nächsten gestellt, mit seiner Unterstützung wurden sehr viele soziale Projekte ins Leben gerufen und daraufhin wurde er sogar für den Friedens-Nobelpreis vorgeschlagen.

 

Als er fünf Jahre alt war, begann er Stimmen zu hören und Geister zu sehen. Von da an pflegte er einen engen Kontakt zu der geistigen Welt. Dank seiner mediumistischen Fähigkeiten haben verschiedene Geistwesen 412 Werke durch ihn geschrieben. Francisco Cândido Xaviers Schaffen als Medium ist eindrucksvoll und seine psychographierten Bücher, mit mehr als 25 Millionen verkauften Exemplaren in portugiesischer Sprache, zählen zu den Bestsellern ihrer Art.

 

Bis zu seinem Tod im Jahr 2002 wurden Gedichte, Geschichten, Romane sowie wissenschaftliche, philosophische und religiöse Bücher durch ihn geschrieben.

 

Viele seiner medial geschriebenen Bücher gehören zu den meist verkauften und dienen Theaterstücken, Filmen (u.a. "Nosso Lar", 2010), Fernsehprogrammen usw. als Grundlage.

 

 

*  *  *

 

 

Internationaler Spiritistischer Rat

 

Titel der portugiesischen Orginalausgabe: NOSSO LAR (Brasilien, 1944)

 

 

*  *  *

 

 

ANMERKUNG DES HERAUSGEBERS:

 

Die überarbeitete 2. Auflage des Buches "Nosso Lar - eine spirituelle Heimat" erscheint nun unter dem Titel:

"Unser Heim" eine Stadt in der spirituellen Dimension.

 

Der portugiesische Name der Stadt "Nosso Lar" wurde im Buch beibehalten.

 

Wir bedanken uns bei allen Lesern für die Rückmeldungen, die wir seit dem Erscheinen der Erstauflage (2008) erhielten und wünschen Ihnen eine gute Lektüre.

 

 

 

 


 

INHALTSVERZEICHNIS

 

Vorwort

(*)       Botschaft von Emmanuel (Geistwesen)*1

(**)     Botschaft von André Luiz

(1)      In den Niederen Sphären

(2)      Clarêncio

(3)      Das Gemeinschaftsgebet

(4)      Der spirituelle Arzt

(5)      Die Betreuung

(6)      Wertvoller Rat

(7)      Lísias Ausführungen

(8)      Organisation der Dienste

(9)      Ernährungsfragen

(10)    Im Wald der Quellen

(11)    Nachrichten aus der Sphäre

(12)    Die Schwellenregion

(13)    Im Arbeitszimmer des Ministers

(14)    Clarêncios Ausführungen

(15)    Mutters Besuch

(16)    Vertrauliches Gespräch

(17)    Im Haus von Lísias

(18)    Liebe - Nahrung der Seele

(19)    Die Neuangekommene

(20)    Der Sinn der Familie

(21)    Fortsetzung des Gespräches

(22)    Der Stunden-Bonus

(23)    Lernen zu hören

(24)    Ergreifender Hilferuf

(25)    Wertvolle Ratschläge

(26)    Neue Aussichten

(27)    Endlich Arbeit!

(28)    Im Dienst

(29)    Franciscos Wahrnehmung

(30)    Erbschaft und Euthanasie

(31)    Vampire

(32)    Ministerin Veneranda

(33)    Seltsame Beobachtungen

(34)    Neuankömmlinge aus der Schwellenregion

(35)    Besondere Begegnung

(36)    Der Traum

(37)    Die Vorlesung der Ministerin Veneranda

(38)    Bei Tobias zu Hause

(39)    Frau Lauras Erläuterungen

(40)    Wer säet, der erntet

(41)    Aufruf zum Kampf!

(42)    Der Appell des Gouverneurs

(43)    Die Gesprächsrunde

(44)    Die Region der Finsternis*

(45)    Der Musikplatz

(46)    Das Opfer einer Frau

(47)    Frau Lauras Rückreise

(48)    Andacht in der Familie

(49)    Frau Lauras Rückkehr nach Hause

(50)    Bürger von Nosso Lar

(***)    Glossar

 

1) Im Glossar dieses Buches werden die mit * gekennzeichneten Begriffe erklärt

 

 


 

VORWORT

 

 

Das Geistwesen André Luiz hat durch das brasilianische Medium Francisco Cândido Xavier mittels der Psychographie2 das vorliegende Buch geschrieben. Das Original in portugiesischer Sprache wurde 1944 und die erste deutsche Übersetzung im Jahr 2008 herausgegeben.

 

In diesem Werk erzählt das Geistwesen André Luiz, was er nach dem Tod des physischen Körpers und nach dem Übergang in die spirituelle Welt (das Jenseits) erlebt hat. Der geistige Autor schreibt im Stil der 40er-Jahre, berichtet über Begebenheiten und gibt Informationen preis, wie sie zu der damaligen Zeit sowohl auf der Erde wie auch in spirituellen Kreisen aktuell waren.

 

Die vorliegende Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit größter Sorgfalt erstellt, um nichts von der Essenz des Originals zu verlieren.

 

Dieses Buch ist eine Bereicherung für jeden, der erfasst hat, dass das Leben auf Erden mehr ist als nur ein Leben voller Höhen und Tiefen; bietet es doch die Gelegenheit der Wiedergutmachung begangener Fehler und Irrtümer.

 

Wir hoffen sehr, dass Sie, verehrte Leser, ebenso von der Weisheit, wie auch von der hoffnungsvollen Freude dieses Werkes bewegt und berührt werden.

 

Winterthur, Januar 2009

 

2) PSYCHOGRAPHIE: Bedeutet: nach psychischem Diktat geschrieben. Das Medium leiht im Trancezustand dem Geistwesen, bzw. dem geistigen Autor Arm und Hand als Werkzeug, damit sich dieser unmittelbar - zuweilen in seiner spezifischen menschlichen Handschrift, eventuell auch in einer dem Medium unbekannten Sprache - äußern kann. Automatisches Schreiben ist eine andere Bezeichnung für diesen Vorgang und ist relativ weit verbreitet.

 

 

 


(*)

 

BOTSCHAFT VON EMMANUEL

(Geistwesen)*

 

 

Ein neuer Freund

 

In dem Vorwort wird meistens der Autor vorgestellt, seine Leistung wird hervorgehoben und man geht auf seine Persönlichkeit ein. Der Leser wird versuchen heraus zu finden, wer der Arzt André Luiz auf der Erde gewesen war. Vergebens! In der Anonymität liegen Einfühlungsvermögen und wahre Liebe verborgen. Es ist sogar notwendig, dass auch der geistige Verfasser dieses Buches anonym bleiben muss.

 

Zum Schutze des Geistwesens nimmt er einen anderen Namen an, um folgenschwere Verfehlungen seiner Vergangenheit unerkannt gutmachen zu können. Außerdem erlaubt es die Gnade Gottes, dass er seine Vergangenheit vorübergehend vergisst.

 

Auch André Luiz beugte sich dieser Notwendigkeit und nahm einen anderen Namen an, damit er die wertvollen Informationen an seine Brüder und Schwestern auf Erden weitergeben konnte, ohne seine Liebsten, die noch in der Illusion leben, nicht zu verletzen. Niemandem ist es erlaubt, sich über Verbliebene hinweg zu setzen und Persönliches der Öffentlichkeit preiszugeben.

 

Wir sind uns bewusst, dass dieses Buch nicht das einzige seiner Art ist und dass das Leben nach dem Tod schon von vielen Autoren beschrieben wurde. In diesem Werk stellen wir daher nicht den Arzt vor, der auf der Erde gewirkt und gelebt hat, sondern einen uns liebgewordenen und auf ewig verbundenen geistigen Freund und Bruder.

 

Seit längerer Zeit hegten wir dennoch den Wunsch, jemanden in unsere spirituellen Kreise zu holen, der seine eigenen Erfahrungen in allen Einzelheiten weitergeben würde. Jemand, der auf eine verständliche Art berichten kann über die Bemühungen und guten Absichten der Nichtinkarnierten*, während sie sich in den für Menschen unsichtbaren Sphären nahe der Erde aufhalten.

 

Mit Sicherheit werden einige Stellen im Buch dem Leser merkwürdig erscheinen, denn Ungewöhnliches ist schon mehrfach auf Unglauben gestossen. Man sollte jedoch bedenken, dass auch die Ideen des Fliegens, der Elektrizität und des Radios zu Beginn belächelt wurden.

 

Die Überraschung, das Staunen und den Zweifel erleben alle Schüler, welche die Lektion noch nicht gelernt, bzw. noch nicht erlebt haben. Das ist normal und nachvollziehbar. Zudem soll sich jeder Leser über das Gelesene seine eigene Meinung bilden, uns liegt es fern, darüber zu urteilen.

 

Unser Hauptanliegen gilt dem Zweck dieses Werkes. Der Spiritismus verbreitet sich immer weiter und Millionen von Menschen bekunden Interesse am Wesen des Spiritismus. Man möchte mehr über dessen Experimente und Methoden erfahren. Doch bei so viel Neuem sollte der Mensch sein eigenes Ziel - das spirituelle Wachstum - nicht in den Hintergrund stellen.

 

Mit Sicherheit genügt es nicht, nur mediumistische Phänomene zu untersuchen, Lippenbekenntnisse abzulegen oder Statistiken anzulegen. Ebenso sollte der Wunsch, Andersdenkende zu unterweisen und bekehren zu wollen oder die Gunst des Publikums zu gewinnen, nicht der Antrieb sein. Obwohl in irdischen Kreisen solche Absichten durchaus ehrbar sind. Unerlässlich ist es jedoch, sich unseres unendlichen Potentials bewusst zu werden und unsere Kenntnisse für das Gute einzusetzen.

 

Der Mensch ist kein von Gott vergessenes Geschöpf. Als Sein Kind, soll er die irdische Existenz als Lebensschule zu spiritueller Weiterbildung nutzen. Die Herausforderungen des Lebens sind der Weg zur Meisterschaft und dieses Buch kann ihm als Werkzeug dienen.

 

Der Kontakt zur geistigen Welt soll den erhabenen Zweck erfüllen, das wahre Christentum zu neuem Leben zu erwecken. Jeder Einzelne darf sein Dasein auf Erden nicht gering schätzen und sollte dort gedeihen, wohin der Herr ihn gestellt hat.

 

André Luiz lässt uns wissen, dass nach dem Tod des Körpers eine große Überraschung auf uns wartet: Die Begegnung mit unserem Gewissen, das uns zeigt, ob wir den Himmel errichtet oder das Fegefeuer erschaffen haben oder in qualvolle Abgründe gestürzt sind. Er möchte uns daran erinnern, dass die Erde eine heilige Werkstatt ist und dass niemand sie vernachlässigen kann, ohne einen schrecklichen Preis für seine Irrtümer zu bezahlen.

 

Lies dieses Buch und nimm seinen Inhalt in Deiner Seele auf. Sie wird Dir laut sagen, dass es nicht genügt, sich an das irdische Dasein zu klammern. Es ist notwendig, dieses Dasein richtig zu nutzen. Die Schritte eines jeden Christen sollen ihn wahrhaftig zu Christus führen, unabhängig davon, welcher Konfession er angehört. Wir benötigen den Spiritismus und den Spiritualismus, aber in erster Linie bedürfen wir der Spiritualität.

 

 

 

(**)

 

BOTSCHAFT VON ANDRÉ LUIZ

(Geistwesen)

 

 

Das Leben hört nicht auf, es ist eine ewige Quelle. Der Tod ist nur eine Illusion. Der Fluss geht seinen Weg bevor er ins weite Meer mündet und ebenso ergeht es der Seele. Sie geht auf verschiedenen Wegen in vielen Etappen, auf denen sie um neue Kenntnissen bereichert wird. Die Seele wird in ihrem Ausdruck stärker und ihre Eigenschaften werden geläutert, bevor sie in das ewige Meer der Weisheit mündet.

 

Mit dem Abstreifen der körperlichen Hülle werden keine Schicksals- und Seinsfragen beantwortet, auch werden wir nicht erleuchtet.

 

Oh, Wege der Seele, geheimnisvolle Wege des Herzens! Es ist unabdingbar, diese Wege zu begehen bevor man dasEwige Leben findet. Auf dem langen Weg zur spirituellen Vervollkommnung ist es unerlässlich, dass Ihr Euch den persönlichen Konflikten stellt und Euch selbst in allen Einzelheiten kennenlernt. Denn es wäre leichtsinnig, zu glauben, dass der Tod alle Fragen der Ewigkeit beantwortet. Eine Existenz ist ein Akt Ein Körper - ein Gewand Ein Jahrhundert - ein Tag Eine Tat - eine Erfahrung Ein Sieg - eine Errungenschaft Der Tod - ein Atem der Erneuerung. Wie viele Existenzen, wie viele Körper, wie viele Jahrhunderte, wie viele Taten, wie viele Siege brauchen wir noch, und wie viele Male müssen wir noch sterben?

 

Überall gibt es Religionsgelehrte, die über endgültige Urteile und unabänderliche Schicksale sprechen. Viele sind in den Doktrinen bewandert, wissen jedoch nichts über die Seele!

 

Der Mensch muss sich sehr anstrengen, wenn er der Bildungsstätte des Christus Evangeliums beitreten will. Der Eintritt dort erfolgt meistens auf merkwürdige Weise: Der Mensch ist allein, der Meister steht ihm bei dem mühseligen Lehrgang zur Seite, der Unterricht findet in unsichtbaren Klassen statt, in denen er lange wortlose Dissertationen vernimmt.

 

Unsere Reise ist anstrengend und lang. Es ist unser bescheidener Versuch, Euch eine kleine Vorstellung von dieser grundlegenden Wahrheit zu geben. Danke, Freunde!

 

Wir bleiben anonym so wie die brüderliche Nächstenliebe es verlangt. Das menschliche Dasein ist immer noch wie ein zerbrechliches Gefäß, das die ganze Wahrheit noch nicht fassen kann. Wir beschränken uns deshalb auf tiefere Erfahrungen und gemeinsame Werte. Wir möchten niemanden mit der Idee der Ewigkeit abschrecken, denn zuerst muss dieses Gefäß gefestigt sein. Wir widmen diese kurze Erzählung dem wissenshungrigen Geist unserer Brüdern und Schwestern, die sich auf dem Weg zur spirituellen Erfüllung befinden und die Reife haben zu verstehen, dass der Wind nicht kontrollierbar ist und dort weht, wo er will.

 

Freunde, möge dies Papier meine Dankesworte wiedergeben, meine Sympathie und Dankbarkeit Euch gegenüber ausdrücken.

 

Meine Zuneigung und Anerkennung, meine Liebe und Freude sei Euch gewiss. Ich habe diese Gefühle für Euch im Innersten meines Herzens aufgenommen.

 

Gott beschütze uns.

 

André Luiz

(Geistwesen)

 

 

 


(1)

 

IN DEN NIEDEREN SPHÄREN

 

 

Ich stand unter dem Eindruck, das Zeitgefühl verloren zu haben. Das Gespür für Ort und Raum war mir schon länger entschwunden. Obwohl ich überzeugt war, nicht mehr den Inkarnierten* dieser Welt anzugehören, fühlte ich, wie meine Lungen in langen Zügen atmeten. Seit wann war ich ein Spielball von unwiderstehlichen Kräften geworden? Es war mir unmöglich, dies zu erklären.

 

In Wahrheit fühlte ich mich wie ein vergrämter Kobold, gefangen hinter dunklen Gittern des Schreckens. Meine Haare sträubten sich, mein Herz raste und entsetzliche Ängste beherrschten mich. Viele Male schrie ich wie ein Wahnsinniger, flehte um Mitleid und klagte über die schmerzende Niedergeschlagenheit, die meinen Geist bedrückte. Wenn meine laute Stimme nicht gerade von der unerbittlichen Stille verschluckt wurde, antwortete mir noch mehr Mitleid erregenderes Wehklagen als das Meinige. Andere Male durchbrach finsteres Gelächter die Stille des Raumes. Es klang wie von einem unbekannten Leidensgenossen, der dem Wahnsinn verfallen war. Manchmal erschienen mir diabolische Gestalten, einfältige Gesichter, fürchterliche Fratzen, die mein Entsetzen noch vergrößerten.

 

Meistens lag über der Landschaft ein dichter Nebel, der ab und zu von gleißendem Licht durchdrungen wurde, als sei ein wärmender Sonnenstrahl hindurchgelangt.

 

Die seltsame Reise ging weiter. Zu welchem Ziel? Wer konnte es mir sagen? Ich wusste nur, dass ich weiter flüchtete. Die Angst trieb mich kopflos weiter. Wo waren mein Heim, meine Frau, meine Kinder?

 

Ich hatte den Orientierungssinn verloren. Bereits im Grab, losgelöst von den letzten physischen Banden, war ich nicht fähig frei zu denken, denn die Angst vor dem Unbekannten und die Furcht vor der Finsternis fraßen mich fast auf.

 

Das Gewissen quälte mich; es wäre mir lieber gewesen, nicht mehr zu existieren. Am Anfang weinte ich sehr viel. Nur in seltenen Augenblicken konnte ich mich am Segen des Schlafes erfreuen. Das Gefühl der Erleichterung wurde meist abrupt unterbrochen, weil mich ungeheuerliche Wesen mit ihrem höhnischen Lachen weckten. Erneut musste ich vor ihnen fliehen.

 

Ich bemerkte jetzt, dass eine andersartige Sphäre sich vom atmosphärischen Staub der Welt abhob. Dennoch war es mir nicht möglich, dorthin zu gelangen. Bedrückende Gedanken peinigten mich. Kaum glaubte ich eine Erklärung gefunden zu haben, trafen zahlreiche neue Umstände ein, die mich aufs Neue verwirrten.

 

Zu keinem Zeitpunkt in meinem bisherigen Leben erschienen mir Glaubensfragen so wichtig wie jetzt.

 

Die rein philosophischen, politischen und wissenschaftlichen Prinzipien erschienen mir jetzt für das menschliche Leben als zweitrangig. Sie waren das wertvolle Erbe unseres irdischen Daseins. Die Erkenntnis, dass die Menschheit nicht aus vergehenden Generationen besteht, sondern dass es sich um unvergängliche Geistwesen handelt, die sich auf dem Weg zur ruhmreichen Bestimmung befinden, drängte sich mir auf und erschien mir jetzt viel wichtiger.

 

Ich stellte fest, dass es etwas gab, das dem rein intellektuellen Verstand übergeordnet war. Dieses Etwas ist der Glaube - die göttliche Manifestation im Menschen. Entweder erfuhr ich darüber in den von solchen Schriftstellern verfassten Artikeln, die sich über die heiligen Schriften - ohne von deren Inhalt berührt zu sein oder ihr Gewissen zu prüfen - kritisch oder ablehnend äußerten. Oder ich verstand die Schriften als das Werkzeug des organisierten Priestertums. Ich habe mich zu meinen irdischen Lebzeiten nie bemüht, meine Meinung darüber, die voller Widersprüche war, zu ändern. Nach meiner Auffassung war ich kein Krimineller, doch ich hatte mich der Schnelllebigkeit hingegeben und mein irdisches Dasein war ein ganz normales gewesen. Als Sohn übermäßig freigiebiger Eltern, beendete ich mein Studium an der Universität ohne große Mühe. Ich nahm an den Lastern und Freuden der damaligen Jugend teil. Ich gründete eine Familie, hatte Kinder und bemühte mich um berufliche Sicherheit, damit meine Familie finanziell unabhängig sein konnte. Bei genauerer Prüfung meiner selbst und verstärkt durch die stillen Vorwürfe meines Gewissens, begann ich zu erahnen, dass ich die Zeit nicht richtig genutzt hatte.

 

Ich bewohnte die Erde, durfte ihre Güter genießen und nahm die Geschenke des Lebens entgegen, ohne einen Bruchteil meiner riesigen Schuld zurück zu erstatten.

 

Die Aufopferung und die Großzügigkeit meiner Eltern mir gegenüber hatte ich nie richtig zu schätzen gewusst. Ich hielt meine Frau und meine Kinder eisern im destruktiven Netz des Egoismus fest. Mein Heim blieb denjenigen verschlossen, die sich in Bedrängnis befanden und Hilfe bedurften. Ich genoss die Freuden des Familienlebens, ohne daran zu denken, diese göttliche Gnade mit der großen, menschlichen Familie zu teilen. Ich war taub für die einfachen Pflichten der Brüderlichkeit.

 

In Wirklichkeit ertrug ich die unveränderliche Wahrheit nicht. Es erging mir so wie einer Treibhausblume, wenn sie im Freien überleben muss. Ich hatte die göttlichen Keime nicht entwickelt, die der Herr des Lebens in meine Seele einpflanzte. Aus dem hemmungslosen Wunsch nach Wohlergehen heraus, hatte ich diese Keime brutal erstickt. Ich war nicht auf das neue Leben vorbereitet.

 

Es war nur gerecht, dass ich hier die Folgen meiner Verfehlungen tragen musste. Auch der unvorsichtige Wanderer, der sich in der Wüste verirrt, ist dem Sandsturm ausgesetzt.

 

Oh, liebe Freunde auf der Erde! Viele von Euch könnten den Weg voller Bitterkeit vermeiden, wenn ihr Euch auf ein Leben nach dem Tod vorbereiten würdet. Möge das Licht des Wissens Euch durchdringen, bevor Ihr die große Reise antretet. Sucht die Wahrheit, bevor die Wahrheit Euch überrascht. Bemüht Euch jetzt, damit Ihr später nicht weinen müsst.

 

 

 

(2)

 

CLARÊNCIO

 

 

»Selbstmörder! Selbstmörder! Verbrecher!«

 

Solche Schreie umgaben mich von überall her. Wo waren diese gefühllosen Meuchelmörder? Manchmal sah ich sie plötzlich, wie sie sich lautlos durch die Dunkelheit schlichen, und wenn meine Verzweiflung ins Unerträgliche stieg, mobilisierte ich alle meine Kräfte und griff sie an. Meine Fäuste schlugen jedoch ins Leere: Von den im Schatten verschwindenden schwarzen Gestalten erntete ich nur sarkastisches Gelächter.

 

An wen konnte ich mich wenden? Vor meinen Augen spielten sich Szenen meines irdischen Daseins ab. Hunger und Durst quälten mich. Meine Kehle brannte wie Feuer. Der Blick auf meinen Körper verriet mir, dass mein Aussehen sich verändert hatte: Mein Bart war gewachsen und die Kleider waren zerschlissen.Das Qualvollste war indessen nicht die schreckliche Verlassenheit in der ich mich befand, sondern die unablässige Belagerung durch perverse Gestalten, die mir auf diesen verlassenen, dunklen Pfaden erschienen. Sie erzürnten mich und machten es mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.

 

Ich wollte die Lage in Ruhe überdenken, suchte nach Gründen, wollte meine Gedanken von neuem ordnen. Aber diese Stimmen, dieses Gejammer, gemischt mit direkt an mich gerichteten Anschuldigungen, verwirrten mich hoffnungslos.

 

»Was suchst Du, Unseliger? Wohin gehst Du, Selbstmörder? « Diese ständig wiederholten Zurechtweisungen bedrängten mein Herz. Unselig ja, aber Selbstmörder? Niemals! Diese Vorwürfe waren ungerechtfertigt, denn ich hatte meinen physischen Körper nur gegen meinen Willen verlassen. Ich erinnerte mich ganz klar daran, wie ich im Krankenhaus um mein Leben kämpfte. Es schien mir, als hörte ich noch, was die Ärzte über meinen Gesundheitszustand sagten. Ich konnte mich sogar an die schmerzhaften Behandlungen und an die fürsorgliche Pflege erinnern, die nach der schwierigen Darmoperation für längere Zeit notwendig gewesen war. Ebenso spürte ich den Thermometer auf meiner Haut und den unangenehmen Stich der Spritze. Dann - die letzte Szene vor meinem Eintauchen in den großen Schlaf: Ich sah meine noch junge Ehefrau und meine Kinder, wie sie mit Entsetzen den Prozess der ewigen Trennung miterlebten. Danach kam das Erwachen in einer feuchten, dunklen Umgebung und die schier endlos lange Wanderung. Doch warum dann der Vorwurf des Selbstmordes, wenn ich doch gezwungen wurde, mein Heim, meine Familie und das glückliche Zusammenleben mit den Meinen zu verlassen?

 

Auch der stärkste Mensch stösst letzten Endes an seine emotionalen Grenzen. Obwohl ich anfangs tapfer und entschlossen war, versank ich für längere Zeit in einen Zustand der Mutlosigkeit. Da ich keine Ahnung hatte, wie es ausgehen würde, ertrug es mein Herz nicht mehr und die lange zurückgehaltenen Tränen begannen häufiger zu fließen.

 

An wen sollte ich mich wenden? Obwohl ich auf Erden ein gebildeter Mann war und ein breitgefächertes Wissen besaß, war ich außerstande, die jetzige Realität zu ändern.

 

In Anbetracht der Unendlichkeit waren meine Kenntnisse wie kleine Seifenblasen, die der stürmische, ganze Landschaften verwandelnde Wind, mitgenommen hatte. Ich war etwas, das vom Taifun der Wahrheit weit weg getragen wurde.

 

Obwohl ich mich fragte ob ich dem Wahnsinn verfallen sei, bemerkte ich jedoch, dass mein Bewusstsein wachsam war. Es signalisierte, dass ich immer noch ich selber war, ausgestattet mit denselben Gefühlen und Kenntnissen aus meiner physischen Existenz. Auch verspürte ich weiterhin die Bedürfnisse meines physischen Körpers. Wenngleich der Hunger an meinen Fasern nagte und die Niedergeschlagenheit immer stärker wurde, ließ ich mich nicht in die totale Erschöpfung fallen.

 

Ab und an erblickte ich schmale Rinnsale, gesäumt von wild wachsenden Pflanzen. Ich stürzte mich gierig darauf, verschlang die mir nicht bekannten Blätter und löschte meinen Durst an trüben Quellen. Wie von unwiderstehlichen Kräften getrieben, ging ich weiter. Viele Male aß ich, was auf der Strasse lag. Ich erinnerte mich dabei an das tägliche Brot aus dem 'Vater unser' und weinte bitterlich.

 

Nicht selten musste ich mich vor riesigen Herden unheimlicher Wesen verstecken, die wie wildgewordene, unersättliche Tiere an mir vorbeizogen. Es waren Erlebnisse, die mich erstarren ließen und meine Furcht ins Unermessliche steigerten.

 

In diesen Momenten begann ich mich zu erinnern, dass es einen Schöpfer des Lebens geben musste, wo immer er sich auch befand und diese Vorstellung tröstete mich. Ich, der auf Erden die Religionen verachtete, suchte jetzt den Trost des Glaubens. Als Arzt meiner Generation neigte ich dazu, alles zu verneinen, doch jetzt sah ich ein, dass diese innere Haltung geändert werden musste. Unerlässlich, dass ich den Bankrott des Egoismus, dem ich voller Stolz verfallen war, einzugestehen hatte. Es war an der Zeit, neue Verhaltensmuster zu lernen.

 

In dieser bitteren Notlage, völlig entkräftet und mit dem Gefühl vollständig am Boden zu sein, ohne die Kraft zu besitzen, jemals wieder aufstehen zu können, richtete ich mich flehend an den höchsten Schöpfer der Natur und bat ihn, mir seine väterlichen Hände entgegen zu strecken.

 

Wielangehatteichgebetet? Wieviele Stunden verharrte ich mit gefalteten Händen, wie es ängstliche Kinder tun, und trug Ihm mein Bittgesuch vor? Ich erinnere mich nur noch, dass mein Gesicht nass von Tränen war und alle meine Sinne auf die schmerzerfüllte Bitte um Hilfe ausgerichtet waren. War ich denn total vergessen worden? Auch wenn ich - noch in der Selbstgefälligkeit des menschlichen Daseins steckend - mich nicht bemühte, Gottes Lehre kennen zu lernen, war ich nicht ebenso ein Geschöpf Gottes? Warum sollte Er gerade mir nicht vergeben? Ist Er nicht der fürsorgliche Vater, der den Vögeln, die noch kein Bewusstsein besitzen, hilft, ihre Nester zu bauen? Ist Er nicht auch der gütige Vater, der die zarte Blume auf dem zerklüfteten Feld beschützt?

 

Ich gelangte zu folgender Einsicht: Um alle geheimnisvollen Schönheiten des Gebetes zu verstehen, muss man schon viel gelitten haben. Es ist notwendig, die Reue und die Erniedrigung selbst gekannt zu haben und durch unermessliches Leid gegangen zu sein, um aus dem erhabenen Kelch der Hoffnung trinken zu dürfen.

 

In diesem Augenblick der Erkenntnis lichtete sich der dichte Nebel um mich und ein Bote des Himmels erschien. Es war ein netter alter Mann, der mich väterlich anlächelte. Er beugte sich vor, schaute mich mit seinen klaren Augen an und sagte:

 

»Mut, mein Sohn. Der Herr verlässt dich nicht. « Erneut musste ich bitterlich weinen und wollte meiner Freude und Ergriffenheit Ausdruck verleihen. Ich wollte über den empfangenen Trost sprechen, doch trotz meiner Anstrengung gelang es mir nicht und ich konnte nur stammelnd fragen:

 

»Wer seid Ihr, barmherziger Botschafter Gottes? « Der unerwartete Wohltäter lächelte gütig und antwortete: »Du kannst mich Clarêncio nennen. Ich bin Dein Bruder. «

 

Als er meine Erschöpfung und Erschütterung bemerkte, fügte er hinzu:

 

»Jetzt beruhige Dich. Du musst Dich ausruhen, damit Du wieder zu Kräften kommst. «

 

Schnell rief er zwei Gefährten, die sich als seine Diener erwiesen, und sprach:

 

»Leisten wir unserem Freund Erste Hilfe. « Ein weißes Leinentuch wurde ausgelegt. Es ersetzte eine Bahre und beide Helfer machten sich bereit, mich wegzutragen. Als sie mich sorgfältig aufhoben, überlegte Clarêncio einen Augenblick und sprach, als ob er sich gerade einer unaufschiebbaren Aufgabe erinnerte:

 

»Halten wir uns nicht länger auf. Wir müssen Nosso Lar so rasch wie möglich erreichen. «

 

 

 

(3)

 

DAS GEMEINSCHAFTSGEBET

 

 

Die zwei Helfer trugen mich fort. Auf dem Weg bot sich mir eine wunderschöne Aussicht, die wie Balsam auf meine Seele wirkte. Clarêncio, der sich auf einen Stock aus einer leuchtenden Substanz stützte, hielt vor einem Tor, das in von schönen, lieblichen Kletterblumen bedeckten, hohen Mauern eingelassen war. Er berührte eine Stelle an der Mauer, worauf eine breite Öffnung sichtbar wurde. Lautlos gingen wir hindurch. Sanfte Helligkeit durchflutete alles. In der Ferne leuchtete ein besonderes Licht, anzusehen wie ein großartiger Sonnenuntergang. Wir gingen weiter und ich konnte prächtige Gebäude in ausgedehnten Gartenanlagen ausmachen.

 

Auf ein Zeichen von Clarêncio hin setzten die Begleiter die improvisierte Tragbare sorgsam auf den Boden. Vor meinen Augen erschien die Tür zu einem weißen Gebäude, das wie ein Krankenhaus auf der Erde aussah.

 

Dem Ruf meines Wohltäters folgend, eilten zwei in weisses Leinengewand gekleidete junge Pfleger herbei. Sie legten mich sanft auf ein Notbett. Bevor sie mich sorgfältig in das Innere des Gebäudes brachten, hörte ich, wie Clarêncio ihnen freundlich Anweisungen gab:

 

»Bringt unseren Schützling im Pavillon dort rechts unter. Ich werde jetzt erwartet, morgen früh komme ich ihn besuchen. «

 

Ich blickte Clarêncio voller Dankbarkeit nach. Dann wurde ich in ein gemütliches, großes und geschmackvoll eingerichtetes Zimmer gebracht, wo ein bequemes Bett für mich bereit stand. Meinen beiden Pflegern unendlich dankbar, versuchte ich mit ihnen zu sprechen:

 

»Freunde, könnt Ihr mir sagen in welcher neuen Welt ich mich befinde? Welcher Stern sendet solch wohltuendes und helles Licht auf mich herab? «

 

Einer der beiden berührte sanft meine Stirn und erwiderte:

 

»Wir befinden uns in spirituellen Sphären nahe der Erde. Die Sonne die hier scheint, ist die gleiche, die unseren physischen Körper belebte. Da wir jetzt über eine stärkere optische Wahrnehmung verfügen, erkennen wir, dass sie viel wichtiger und schöner ist, als wir es uns jemals vorstellen konnten, als wir noch auf der Erde weilten und unsere Arbeit in ihrem Glanz verrichten durften. Unsere Sonne ist die göttliche Quelle des Lebens und das von ihr ausstrahlende Licht stammt vom Schöpfer selbst. «

 

Ich empfand unendlichen Respekt für unseren Herrn. Gebannt schaute ich auf das sanfte Licht, das den Raum erhellte.

 

Ich dachte nach und stellte fest, dass ich während meiner irdischen Tage meine Blicke nie der Sonne zuwandte. Auch hatte ich nie über die großartige Liebe desjenigen nachgedacht, der sie uns schenkte, damit sie uns auf unserem unendlichen Lebensweg begleiten kann. Ich war überglücklich wie ein Blinder, der nach vielen Jahrhunderten der Dunkelheit seine Augen für die überragende Natur öffnen konnte.

 

Zu diesem Zeitpunkt brachten mir meine beiden Pfleger einen Teller warmer Suppe und frisches Wasser. Ich spürte etwas sonderbar Wohltuendes, so als ob es ein göttliches Fluidum enthielte. Bereits eine kleine Menge davon bewirkte, dass meine Kräfte plötzlich wieder hergestellt wurden.

 

Auch konnte ich nicht sagen, woraus die Suppe bestand: Ob es eine Speise mit beruhigender Wirkung, oder ein Heilmittel war. Ich fühlte, wie neue Energien meine Seele durchdrangen und wie mich starke Gefühle einnahmen.

 

Wenig später sollte ich jedoch eine weitere angenehme Überraschung erleben. Eine Melodie voll wunderbarer, harmonischer Töne, in höhere Sphären emporsteigend, erfüllte den Raum und berührte mich zutiefst.

 

Meinen fragenden Blick deutend, erklärte einer der an meiner Seite stehenden Pfleger freundlich:

 

»Die Dämmerung naht. In Nosso Lar, einer für Christus arbeitenden Übergangsstätte, sind in den Abendstunden alle Sektoren direkt mit der Gebetszentrale am Sitz der Regierung vernetzt. «

 

Die Musik wurde leiser und verstummte schließlich. Der Pfleger stand auf und sagte zu mir:

 

»Friede sei mit Dir. Ich werde nach dem Gebet zurückkommen. «

 

Da verspürte ich eine innere Unruhe. »Könnte ich Dich nicht begleiten? «, bat ich ihn eifrig »Du bist noch sehr schwach«, erklärte er gutmütig, »aber wenn Du Dich bereits besser fühlst...«

 

Die Melodie hatte eine aufbauende Wirkung auf meine Kräfte. Meine Schwäche überwindend, stand ich auf und stützte mich auf den Arm meines Pflegers. Schwankend erreichte ich einen riesigen Saal, in dem sich eine große Anzahl von Meditierenden versammelt hatte.

 

Vom hell leuchtenden Gewölbe hingen zierliche Girlanden aus Blüten herab, die bis zum Boden reichten. Sie symbolisierten strahlende Symbole höherer Spiritualität. Derweil sich niemand für meine Anwesenheit zu interessieren schien, konnte ich mein Staunen kaum verbergen.

 

Als ich sah, dass die Anwesenden ihre ganze Aufmerksamkeit auf etwas richteten, hatte ich Mühe, die zahlreichen Fragen, die aus meinem Inneren aufkamen, nicht zu äußern. Plötzlich sah ich im Hintergrund ein wunderbares Bild entstehen. Dank fortschrittlichster Technologie konnte ein herrlicher Tempel aus strahlendem Licht auf eine riesige Leinwand projiziert werden. Von einem Lichtschein umhüllt, saß an einem hoch gelegenen Platz ein weiser, alter Mann. Er war in ein strahlend weißes Gewand aus reinem Licht gekleidet. Seine Augen gen Himmel gerichtet, betete er. Eine Stufe tiefer saßen zweiundsiebzig Gestalten, die in respektvoller Stille verharrten. Sehr zu meinem Erstaunen bemerkte ich, dass Clarêncio zu dieser Gruppe gehörte. Ich berührte den Arm meines neuen Freundes. Er hatte wohl bereits geahnt, dass ich ihm viele Fragen stellen wollte, darum flüsterte er mir mit gedämpfter Stimme zu:

 

»Dank den audio-visuellen Geräten, die in den Wohnungen und Einrichtungen dieser Kolonie verfügbar sind, können alle mit dem Gouverneur beten. Preisen wir das unsichtbare Herz des Himmels. «

 

Nach seiner Erläuterung begannen die zweiundsiebzig Gestalten ihre Stimmen zu einer harmonischen Hymne unbeschreiblicher Schönheit zu erheben. Ich schaute zu Clarêncio hinüber und bemerkte, dass sein Antlitz von einem noch strahlenden Licht als sonst umhüllt war.

 

Das himmlische Loblied, die engelhaften Klänge schwebten im Raum und verbreiteten geheimnisvolle Schwingungen des Friedens und der Freude. Als die hellen Klänge in ein bezauberndes Staccato übergingen, erschien auf einer entfernten, höheren Ebene ein wunderbar leuchtendes, golden gestreiftes, blaues Herz3.

 

3) Symbolisches Bild entstanden durch mentale Schwingungen, die von den Bewohnern von Nosso Lar ausgesandt wurden. (Anmerkung des geistigen Verfassers dieses Werkes)

 

Als Antwort auf die Lobpreisungen ertönte sogleich, ebenfalls aus höheren Sphären, bezaubernde Musik und blaue Blumen schwebten auf uns nieder. Es gelang uns nicht, die himmlischen Vergissmeinnicht mit den Händen aufzufangen, denn die winzigen, leichten Blumen lösten sich beim Berühren sofort auf. Jedoch jeder Kontakt erfüllte mein Herz mit großem Glück und half auf faszinierende Art, meine Energie zu erneuern. Als das erhabene Gebet zu Ende war, kehrte ich, gestützt und begleitet von meinem Freund, in mein Zimmer zurück. Ich war jedoch nicht mehr der Kranke von vorhin. Das erste gemeinsame Gebet in Nosso Lar hatte mich vollständig verwandelt. Unverhoffter Trost besänftigte meine Seele. Nach den vielen Leidensjahren konnte sich das von Sehnsucht gequälte Herz, gleich einem Kelch der lange Zeit leer war, wieder mit dem edlen Tropfen der Hoffnung füllen.

 

 

 

(4)

 

DER SPIRITUELLE ARZT

 

 

Ich hatte einen erholsamen Schlaf und am darauf folgenden Tag schien die Sonne. Ihre freundlichen Strahlen waren ein Segen für mein gequältes Herz. Durch das breite Fenster durchflutete wohltuendes, sanftes Licht den Raum. Ich spürte, dass sich etwas verändert hatte. Neue Energien durchströmten mein Inneres und verhalfen mir zu neuer Lebensfreude.

 

Dennoch gab es in meiner Seele noch einen dunklen Schatten: Die Sehnsucht nach meinem Heim, nach meiner Familie, die weit weg war. Unzählige Fragen schwirrten noch durch meinen Kopf. Mein Geist beruhigte sich jedoch schnell wieder, denn er hatte hier schon sehr viel Gutes erfahren.

 

Ich wollte aufstehen um das Schauspiel der Natur, die sanfte Brise und das Licht zu genießen, aber ich schaffte es nicht. Es war mir anscheinend noch nicht möglich, ohne die Unterstützung der Pfleger das Bett zu verlassen.

 

Ich konnte mich noch von allen Überraschungen erholen, als die Tür sich öffnete und Clarêncio eintrat. Ihn begleitete ein sehr freundlich wirkender Unbekannter. Beide begrüßten mich herzlich und wünschten mir Frieden. Als mein Wohltäter vom vorherigen Tag nach meinem allgemeinen Zustand fragte, eilte ein Pfleger herbei und gab ihm Auskunft. Mit einem Lächeln stellte mir Clarêncio seinen in weiß gekleideten Begleiter vor. Es war Bruder Henrique de Luna von der ärztlichen Abteilung der spirituellen Kolonie. Seine Art war mir sehr sympathisch. Er begann mich gründlich zu untersuchen und offenbarte mir bald:

 

»Schade, dass Du durch Selbstmord zu uns gekommen bist.«

 

Clarêncio blieb gelassen, ich aber spürte eine große Empörung in mir aufsteigen. Selbstmord?! Schon die perversen Geistwesen der Dunkelheit machten mir diesen haltlosen Vorwurf! Obwohl ich meinem Wohltäter zu Dank verpflichtet war, konnte ich diese Anschuldigung nicht ohne Kommentar hinnehmen. Gekränkt beteuerte ich, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse. Selbstmord sei nicht meine Todesursache gewesen! Ich habe im Krankenhaus hart mit dem Tod gerungen und mich infolge eines Darmverschlusses zwei schweren Operationen unterziehen müssen.

 

»Ja«, erwiderte der Arzt mit derselben freundlichen Gelassenheit.

 

»Vielleicht ist es Dir nicht bewusst, aber Dein Organismus zeigt in aller Deutlichkeit wie Du auf der Erde gelebt hast. Darum lässt es sich feststellen, dass die wahre Ursache für Deinen Darmverschluss einen tieferen Grund hatte. «

 

Sich behutsam über meinen Körper neigend, zeigte er auf bestimmte Punkte.

 

»Werfen wir einen Blick auf die Gedärme. Der Darmverschluss wurde zwar von Krebserregern verursacht, ursächlich jedoch von einer Syphilis, an der unser lieber Bruder wegen seines leichtsinnigen Verhaltens erkrankt war. Die Krankheit wäre vielleicht nicht lebensgefährlich verlaufen, wenn Dein mentales Verhalten während Deiner irdischen Existenz den Prinzipien von Brüderlichkeit und Mäßigung entsprochen hätte. Aber durch Deine manchmal düstere, häufig aufbrausende Lebensart, nahmst Du destruktive Energien aus Deinem Umfeld auf. «

 

»Hättest Du gedacht, dass Zorn gegen uns selbst eine Quelle von negativen Energien sein kann? Das Fehlen der Selbstkontrolle, der gedankenlose Umgang mit Deinesgleichen, die Du häufig, wenn auch unbewusst, gekränkt hast, brachte Dich vielfach in Kontakt mit kranken und niedrigen Geistwesen. Diese Umstände trugen dazu bei, dass Dein Gesundheitszustand sich drastisch verschlimmerte.

 

Wusstest Du, mein Freund, dass wegen Deiner schlimmen Missachtungen der heiligen Gaben des Lebens Deine Leber Schaden genommen hatte und Deine Nieren vernachlässigt wurden? «

 

Ein seltsames Gefühl der Enttäuschung überfiel mich. Er schien jedoch mein Unbehagen nicht zu bemerken. Seine Untersuchung war nun abgeschlossen und er setzte seine sachlichen Erläuterungen fort:

 

»Die göttliche Vorsehung hat die Organe des physischen Leibes mit außerordentlich großzügigen Reserven ausgestattet. Statt dass Du dies nutztest, bist Du verschwenderisch mit den wertvollen Erbanlagen, die Dir ins Leben mitgegeben wurden, umgegangen. Leider bist Du nicht über den Versuch hinausgekommen die umfangreichen Aufgaben, die Dir führende Geistwesen der höheren geistigen Sphären anvertraut hatten, zu erfüllen. Dein ganzer Verdauungstrakt wurde infolge von scheinbar harmlosem, übermässigem Essen und Alkohol-Konsum, zerstört. Die Syphilis hat alle Deine Energien vernichtet. Wie Du siehst, ist Dein Selbstmord unbestreitbar. «

 

Erschüttert von dieser Diagnose, dachte ich über mein Verschulden und über die nicht genutzten Gelegenheiten nach. Während meines physischen Lebens hatte ich mich immer wieder hinter neuen, den Umstände entsprechenden Ausreden verstecken können. Ich hätte nie vermutet, dass von mir über ganz alltägliche, für mich belanglose Ereignisse, eines Tages Rechenschaft gefordert werden könnte. Bis dahin verstand ich unter menschlichen Entgleisungen das, was die geltende Kriminologie lehrte und unbedeutende Verstöße gegen das Gesetz sah ich als etwas ganz Natürliches. Nun erfuhr ich, wie begangene Fehler in anderer Weise wirken und im Nachhinein festgestellt werden können.

 

Ich stand nicht vor einem Foltertribunal oder wurde in einen höllischen Abgrund gestürzt. Nein - es waren die gutmütig lächelnden Wohltäter, die mich auf meine Schwachstellen hinwiesen, wie man es mit verirrten Kindern tut, die sich der Obhut der Eltern entzogen haben. Ihr spontanes Interesse verletzte meine persönliche Eitelkeit. Wäre ich von diabolischen, mit Dreizack ausgerüsteten, mich folternden Gestalten verurteilt worden, so hätte ich vielleicht alles daran gesetzt, mich zu verteidigen. Aber die grenzenlose Güte Clarêncios, die fürsorgliche Zuwendung des Arztes und die Ruhe des Pflegers, berührten meine Seele.

 

Ich war fassungslos und beschämt. Das Gesicht in den Händen haltend, weinte ich hemmungslos wie ein verstörtes, unglückliches Kind, ob der vermeintlich für immer verpassten Gelegenheit der Wiedergutmachung meiner Fehltritte.

 

Ich konnte Henrique de Luna nicht widersprechen, denn seine Feststellung war richtig. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Ausmaß meines Leichtsinns früherer Zeiten voll anzuerkennen. Die falsch verstandene, stolz interpretierte persönliche Würde wich jetzt der Gerechtigkeit. Aus spiritueller Sicht gab es jetzt nur noch die unangenehme Realität: Ich war tatsächlich ein Selbstmörder. Die wertvolle Gelegenheit, in einer physischen Existenz zu reifen, hatte ich nicht zu nutzen verstanden. Ich war ein Gestrandeter, den man aus Barmherzigkeit aufgenommen hatte.

 

Clarêncio nahm auf meinem Bett Platz. Wie ein Vater strich er durch meine Haare und sprach mit sanfter Stimme:

 

»Mein Sohn, beklage Dich nicht. Ich durfte Dich nämlich dort herausholen, weil die Fürbitte Deiner Lieben für Dich in den Höheren Sphären erhört wurde. Wenn Du weinst, macht es sie traurig. Möchtest Du ihnen nicht lieber Deine Dankbarkeit zeigen, indem Du in Ruhe Deine Irrtümer prüfst? In Wahrheit bist Du ja ein unbewusster Selbstmörder. Trotzdem ist es wichtig zu wissen, dass Hunderte von Geschöpfen täglich unter den gleichen Umständen die Erde verlassen.

 

Komm zur Ruhe und nutze jetzt das kostbare Gut der Reue. Du erhältst die Gnade, Deine schlechten Taten - wenn auch spät, zu bereuen. Nimm diese Gelegenheit wahr und denke daran, dass Verzweiflung die Probleme lösen kann. Vertraue dem Herrn und auf unsere brüderliche Hilfe. Versuche Deine verstörte Seele zur Ruhe zu bringen, denn viele von uns sind den gleichen Weg gegangen wie Du. «

 

Diese Worte der Zuneigung und des Verständnisses berührten mich sehr.

 

 

 

(5)

 

DIE BETREUUNG

 

 

»Bist Du Clarêncios Schützling? «, fragte ein junger Mann mit einem charakterstarken, doch gleichzeitig auch sehr sanften Gesichtsausdruck. In seiner Hand hielt er eine Tasche, die vermutlich Medizinisches enthielt. Er begrüßte mich lächelnd und ich nickte ihm zu. Freundlich stellte er sich vor:

 

»Ich bin Lísias, mein Bruder. Mein Vorgesetzter, der Assistenzarzt Henrique de Luna, hat mich beauftragt Dich während der Behandlungszeit zu betreuen. «

 

»Bist Du ein Krankenpfleger? «, fragte ich.

 

»Ich bin ein Betreuer aus der Gesundheitsabteilung. In dieser Funktion helfe ich nicht nur im Pflegedienst, sondern schreibe auch auf, wo Hilfeleistungen erforderlich sind oder treffe Vorkehrungen für neu ankommende Kranke. «

 

Er bemerkte mein Erstaunen und erklärte: »In der Kolonie Nosso Lar gibt es viele, welche die gleiche Aufgabe wie ich ausüben. Mein Freund, Du bist gerade erst angekommen und deshalb ist es natürlich, dass Du das Ausmaß unserer Aktivitäten noch nicht erkennst. Damit Du Dir ein Bild davon machen kannst, sollte ich vielleicht erwähnen, dass allein in dieser Krankenstation mehr als tausend spirituell Erkrankte behandelt werden. Ich sollte auch darauf hinweisen, dass dieses Gebäude noch eines der kleinsten unseres Krankenhauses ist. «

 

»Das ist ja wunderbar! «, sagte ich. Ich wollte ganz spontan meinen Dank und Lob aussprechen, aber Lísias bemerkte es und kam mir zuvor. Er stand von seinem Sessel auf und begann, aufmerksam meinen Körper abzuhorchen.

 

»Außer den Wunden in der Darmregion sind Spuren des Krebses deutlich zu sehen. Ein Leberriss und die frühzeitigen Ermüdungserscheinungen der Nieren vervollständigen das Bild. «

 

Wohlwollend ergänzte er: »Weiß mein Bruder was das bedeutet? « »Ja«, sagte ich, »der Arzt erklärte gestern, dass ich diese Schäden selbst zu verantworten hatte. «

 

Als er sah, dass dieses Geständnis mir nicht leicht fiel, sagte er tröstend:

 

»In der Gruppe von achtzig Kranken die ich täglich betreue, befinden sich siebenundfünfzig in der gleichen Situation wie Du. Vielleicht weißt Du es noch nicht, aber hier werden auch Behinderte aufgenommen. Kannst Du Dir vorstellen, dass hier Menschen sind, deren Augenhöhlen leer sind, weil sie ihre Augen in leichtsinniger Weise nur auf Böses ausgerichtet hatten? Oder dass Übeltäter hier sind, welche die Gabe, schnell laufen zu können, für kriminelle Zwecke missbrauchten und jetzt gelähmt oder manchmal gar ohne ihre Beine hierher gebracht wurden? Oder auch andere beklagenswerte Menschen, deren Wahnsinn auf ihre sexuelle Besessenheit zurückzuführen ist?« Er sah meine Betroffenheit und fügte hinzu:

 

»Die Bewohner von Nosso Lar sind nicht das, was man mit Ruhm bedeckte Geister, nennen kann. Dennoch schätzen wir uns glücklich, dass der Herr uns das gesegnete Brot der Arbeit nicht entzogen hat und wir einer Beschäftigung nachgehen dürfen. Die Freude darüber ist überall zu spüren«

 

Die etwas längere Pause nutzend, bat ich vorsichtig:

 

»Mein Freund, ich bin entspannt und ruhig. Bitte fahre mit Deinen Erläuterungen fort. Ist das hier nicht die himmlische Abteilung der Auserwählten? «

 

Lísias lächelte und erklärte:

 

»Denken wir an die alte Lehre, die besagt, dass 'Viele berufen, aber auf der Erde nur wenige auserwählt sind'. «

 

Sein Blick schweifte in die Ferne. Sich an seine Erfahrungen erinnernd, ergänzte er:

 

»Die Religionen auf dem Planeten laden die Menschen ein, am himmlischen Festmahl teilzunehmen. Keiner, der einmal mit Gott in Berührung gekommen ist, kann mit gutem Gewissen behaupten, er wisse nicht Bescheid. Mein Freund, unzählig sind die Berufenen, aber wo bleiben diejenigen die dem Ruf nachkommen? Von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, bevorzugt ein großer Teil der Menschheit eine andere Art von Einladung. Das Abschlagen der Einladung zur Berufung hat zur Folge, dass wir vom Weg des Guten abkommen und dass immer mehr Menschen ihren negativen Neigungen verfallen. Der physische Körper wird durch unüberlegte, schädliche Handlungen leichtfertig beschädigt, wenn nicht gar vernichtet. Mit dem Ergebnis, dass täglich Millionen von Menschen in quälender Unkenntnis ihres Zustandes den Körper verlassen. Ganze Scharen von Wahnsinnigen, Kranken und Unwissenden, irren in den Gegenden nahe an der Erdoberfläche* umher. «

 

Er sah, wie erstaunt ich war und fragte mich: »Hast Du etwa geglaubt, dass der Tod des Körpers Wunder bewirken kann? Ganz im Gegenteil: Mühselige und strenge Arbeit erwartet uns und nicht nur das: Wenn wir auf Erden Schuld auf uns geladen haben werden wir verpflichtet - ungeachtet des spirituellen Fortschrittes, den wir erlangt haben -, dorthin zurückzukehren, um im weltlichen Schweiss diese Schuld abzugelten, die Fesseln des Hasses zu lösen und sie durch die Liebe zu ersetzen. Denn es wäre keinesfalls gerecht, die Wiedergutmachungsarbeit, die uns selbst zusteht, auf andere abwälzen zu wollen. Wir sind die Berufenen, mein Lieber «, sagte er kopfschüttelnd. » Der Herr vergisst niemanden, doch selten erinnern sich die Menschen Seiner. «

 

Angesichts solcher edlen Einsichten über Eigenverantwortung schämte ich mich meiner Fehltritte.

 

»Ich war ein sehr schlechter Mensch! « sagte ich zu Lísias.

 

Aber bevor ich weiter sprechen konnte, unterbrach mich Lísias sanft.

 

« Sei jetzt ruhig, konzentrieren wir uns auf die wartende Arbeit. Wenn man wahrhaftig bereut, muss man auch sorgfältig die richtigen Worte wählen, damit etwas Neues aufgebaut werden kann. «

 

Lísias unterzog mich einer Behandlung mit magnetischen Fluiden (magnetischer Passé*). Und nachdem er die Wunden im Bauchbereich versorgt hatte, erklärte er.

 

»Nun hast Du gesehen, wie die krebskranke Zone versorgt wird. Die medizinische Behandlung, mit Würde ausgeübt, ist ein Akt der Liebe und kann beim Genesungsprozess helfen. Doch letztendlich ist die Genesung die Aufgabe jedes Einzelnen.

 

Mein Bruder, Du bist hier herzlich willkommen und nach einer Weile wirst Du dich so stark fühlen wie zu den schönsten Zeiten Deiner irdischen Jugend. Du wirst viel arbeiten und ich glaube, dass Du einer der besten Mitarbeiter unserer Kolonie sein wirst. Aber die Ursache Deines schlechten Befindens wird solange bestehen bleiben, bis die Keime, die der göttlichen Gesundheit Schaden zugefügt haben, ausgemerzt sind. Du hast jetzt begriffen, dass sie wegen Deiner leichtsinnigen, unmoralischen Lebensführung und durch Deine übermäßige Sucht nach Genuss in Deinem Körper entstanden waren.

 

Wenn wir auch unseren physischen Körper ausbeuten, so ist er doch stets das begnadete Werkzeug, das uns zu vollständigen Heilungen verhelfen kann, wenn wir es richtig anzuwenden wissen. «

 

Ich dachte über das Gehörte und die göttliche Gnade nach. Überwältigt von all dem, begannen meine Tränen zu fließen. Lísias indessen beendete in Ruhe die Behandlung und meinte:

 

»Wenn Tränen nicht durch Zorn ausgelöst werden, haben sie eine reinigende Wirkung. Weine nur, mein Freund. Erleichtere Dein Herz. Seien wir dankbar für die mikroskopisch kleinen Zellen, die Teil unseres physischen Körpers sind. Obwohl unscheinbar, sind sie wertvoll und wichtig. Denke daran wie viele Jahrtausende wir für unsere Wiedergutmachung brauchen würden, wenn diese Zellen in ihrer unentwegten Dienstbereitschaft uns nicht den Boden zur Korrektur unserer Fehler anböten. «

 

Herzlich verabschiedete sich Lísias.

 

 

 

(6)

 

WERTVOLLER RAT

 

 

Am nächsten Tag nach dem Abendgebet besuchten mich Clarêncio und ein höflicher Betreuer. Clarêncios gütiges Gesicht strahlte freudig. Er umarmte mich und fragte nach meinem Gesundheitszustand. Seine Herzlichkeit rührte mich. Es ist schade, dass auf Erden solche freundschaftlichen Bezeugungen oft missverstanden werden. Beide machten es sich an meiner Seite bequem und meiner Gewohnheit folgend, begann ich von meinen Leiden zu erzählen:

 

»Ich gebe zu, dass es mir besser geht. Dessen ungeachtet plagen mich starke Schmerzen im Darmbereich und mein Herz wird von beklemmenden Gefühlen bedrängt. Ich hätte nie vermutet, dass es für mich zu einer so großen Belastung werden könnte. Ach, meine Freunde, wie schwer ist die Bürde meiner Verfehlung und jetzt, da ich wieder klar denken kann, scheint es mir, als zehrten die Schmerzen die noch übrig gebliebenen Kräfte auf. «

 

Clarêncio hörte aufmerksam zu. Er zeigte für mein Klagen großes Interesse, machte aber keine Anstalten meinen Redefluss zu unterbrechen. Das machte mir Mut und ich fuhr fort:

 

»Außerdem leide ich an gewaltigem moralischem Schmerz. Nachdem nun die äußerlichen Qualen, dank der mir erwiesenen Hilfe, langsam heilen, beginnen mich jetzt die inneren Konflikte aufzuwühlen. Wie ist es um meine Frau und Kinder bestellt? Hat sich mein Erstgeborener so entwickelt, wie ich es mir vorstellte? Meine unglückliche Zélia hat mir wiederholt gesagt, dass sie aus Sehnsucht sterben würde, wenn ich sie verlasse. Was für eine wundervolle Gefährtin ich in ihr hatte! Ich spüre immer noch ihre Tränen, die sie in den letzten Augenblicken meines physischen Lebens vergoss. Wann trat die Trennung von meiner Familie ein? Es ist ein Alptraum! Anhaltende Qualen haben mein Zeitgefühl wie ausgelöscht. Wo ist meine arme Frau? Beugt sie sich über mein Grab und weint? Oder weint sie irgendwo in der dunklen Zone des Todes? Mich belasten diese Sorgen fürchterlich! Was für ein schreckliches Schicksal erleidet ein Mann, der alles für seine Familie getan und für sie gelebt hat. Ich glaube, dass nur wenige Menschen so leiden mussten wie ich! Auf Erden gibt es nichts anderes als Widrigkeiten, Enttäuschungen, Krankheiten, Unverständnis und Verbitterung. Manchmal werden sie von zu seltenen Augenblicken der Freude unterbrochen. Danach kommt der schmerzhafte Tod des Leibes, gefolgt von den Qualen im Jenseits. Was ist also das Leben? Besteht es aus aufeinander folgenden Entbehrungen und Tränen? Wird es uns je möglich sein den Frieden zu erlangen? Auch wenn ich mich anstrenge, zuversichtlich zu sein, fühle ich, wie das Bewusstwerden meines Unglücks meinen Geist einengt und mein Herz gefangen nimmt. Was für ein unglückliches Schicksal, gütiger Wohltäter!«     himmels-engel.de

 

Meine erschütternden Klagen und meine mentale Einstellung lösten eine Flut von Tränen bei mir aus.

 

Clarêncio aber stand seelenruhig auf und sagte zu mir:

 

»Mein Freund, möchtest Du wirklich spirituell geheilt werden? « Ich bejahte es.

 

» Also, dann solltest Du zunächst vermeiden zu viel über Dich und Dein Leiden zu sprechen. Sich zu beklagen ist ein Zeichen von lang andauernder mentaler Störung, die sich sehr schwer behandeln lässt. Unerlässlich ist es, neuen Gedanken Platz zu machen und bei Äußerungen Zurückhaltung zu üben. Wenn wir der Sonne des Herrn gestatten, sich in uns zu offenbaren, wird sich die innere Harmonie einstellen. Ferner sollen wir uns darum bemühen, die Kraft richtig einzuschätzen, die gebraucht wird um die uns gestellten Aufgaben zu bewältigen. Wir müssen erkennen, dass das spirituelle Wachstum mit Leiden verbunden ist und herausfinden, wo die Seele mit Blindheit geschlagen ist.

 

Je länger Du über Deine persönlichen, schmerzlichen Gefühle sprichst, desto hartnäckiger bleibst Du an Deinen kleinlichen Erinnerungen hängen. Sei versichert, dass derselbe fürsorgliche Vater, der über Dich wacht und der Dir aus Liebe ein Obdach in dieser Kolonie angeboten hat, sich auch um Deine irdischen Verwandten kümmert. Wir sollten unsere Familien als eine heilige Institution betrachten, ohne dabei zu vergessen, dass sie Teile der universellen Familien sind, die unter die Göttliche Obhut gestellt sind. Wir stehen Dir beim Lösen der aktuellen Probleme bei und werden Dir helfen, Projekte für die Zukunft zu entwerfen. Wir haben aber keine Zeit, uns erneut mit nutzlosen Klagen zu befassen. Angesichts der unendlichen Liebe, die die Göttliche Vorsehung verströmt und im Bewusstsein, dass wir noch mit Schulden belastet sind, fühlen wir uns in dieser Kolonie verpflichtet, auch die härteste Arbeit anzunehmen. Sie ist eine gesegnete Gelegenheit, uns zu verbessern. Wenn Du weiterhin hier bleiben möchtest, musst Du anfangen richtig zu denken. «

 

Ich verstummte und schämte mich für meine Schwäche. Vom freundlichen Wohltäter zur Vernunft gerufen, musste ich mich von nun an anders verhalten.

 

»Als Du noch im physischen Körper warst, « sprach Clarêncio weiter, »bemühtest Du Dich nicht, aus gewinnbringenden Situationen Vorteile zu erlangen? Freutest Du Dich nicht auf die ehrlich erworbenen Mittel, die Deiner Familie zu Gute kamen? Hast Du Dich nicht auch um eine gerechte Entlohnung bemüht, die es Dir erlaubte, die Wünsche Deiner Familie zu erfüllen? Hier läuft es nicht anders, allerdings gibt es einige wichtige Unterschiede: Auf der Erde gelten Vereinbarungen, finanzielle Absicherungen. Hier gelten nur die Arbeit und die wahren Errungenschaften des unsterblichen Geistes. Der Schmerz ist für uns eine Gelegenheit uns zu vervollkommnen und der Kampf ist der Weg, der zur göttlichen Verwirklichung führt. Verstehst Du den Unterschied? Bei der Aufforderung an die Arbeit zu gehen, legt sich der Schwache hin und beklagt sich. Der Starke hingegen sieht in der Arbeit ein heiliges Gut, das ihm die Möglichkeit verschafft, die Vollkommenheit zu erlangen.

 

Keiner tadelt Deine Sehnsucht und keiner will Dir Deine höheren Gefühle verbieten. Wir möchten aber bemerken, dass das Weinen aus Verzweiflung dem Guten nicht förderlich ist. Wenn Du Deine irdische Familie wahrhaftig liebst ist es wichtig, guten Mutes zu sein, um ihnen helfen zu können. «

 

Eine lange Pause entstand. Ergriffen von Clarêncios Worten sann ich über seine weisen Ratschläge nach, als er, wie ein Vater, der den Leichtsinn seiner Kinder vergisst, um ihnen eine neue Gelegenheit zum lernen einer verpassten Lektion zu bieten, mich mit einem strahlenden Lächeln fragte:

 

»Na, wie fühlst Du Dich jetzt? Besser?« Ich spürte, dass er mir vergeben hatte. Wie ein getröstetes und lernwilliges Kind sagte ich ihm: »Es geht mir besser und jetzt fällt es mir leichter den Göttlichen Willen zu verstehen. «

 

 

 

(7)

 

LÍSIAS AUSFÜHRUNGEN

 

 

Clarêncio besuchte mich regelmäßig. Lísias tägliche Pflege tat mir gut und in dem Maße wie ich mich all dem Neuen stellte, ließen die beklemmenden Gefühle in meinem Herzen nach. Wenngleich die Schmerzen und die Bewegungseinschränkungen vermindert auftraten, beim Aufkommen der Erinnerungsbilder meines physischen Leidens bedrängte mich die Angst vor dem Unbekannten, die Enttäuschung angesichts der Anpassungsschwierigkeiten und große Unruhe aufs Neue. Dennoch verspürte ich mehr Selbstvertrauen.

 

Jetzt genoss ich es, aus den großen Fenstern in die Ferne zu schauen. Ganz besonders beeindruckte mich die Natur. Fast alles erschien wie ein verbessertes Abbild der Erde. Die Farben in zart schimmernden Tönen wirkten harmonischer. Grüne Wiesen, hoch gewachsene Bäume, üppige Obstanlagen und wunderbare Gärten waren zu sehen. Als mein Blick über das Flachland, auf dem unsere Kolonie sich befand, etwas weiter in die Ferne schweifte, sah ich dort ein im Sonnenlicht strahlendes Gebirge. Das ganze Gebiet auf dem die Kolonie von Nosso Lar errichtet war, machte einen sehr gepflegten Eindruck. Schmucke Häuser, unterschiedlich in Form und Größe, deren Eingänge mit Blumen verziert waren, schmückten in regelmäßigen Abständen die Landschaft. Einige fielen mir besonders wegen der von Efeu bewachsenen Mauern auf. Andere umgaben Gärten, in denen die verschiedensten Arten von Rosen blühten. Buntbefiederte Vögel zwitscherten in den Lüften. Ab und an ließen sie sich gemeinsam auf weißen Türmen nieder. Diese sahen wie hochgewachsene, sich himmelwärts aufrichtende Lilien aus. Von meinem Fenster aus beobachtete ich neugierig, was sich im Park abspielte. Es überraschte mich, dass im Hintergrund zwischen dicht belaubten Bäumen Haustiere zu sehen waren.

 

Nach diesem Ausflug in die Ferne setzte ich meine innere Reise auf der Suche nach mir selbst fort. Gedanken, die unzählige Fragen enthielten, tauchten auf. Es war alles sehr verwirrend, vor allem weil ich nicht fassen konnte, hier, in der meines Erachtens spirituellen Welt - eine solche Vielfalt an ähnlichen Formen wie auf der Erde vorzufinden.

 

Lísias, mein liebenswürdiger Freund dieser Tage, sprach ausführlicher darüber:

 

»Der Tod des Körpers führt nicht zu einer wundersamen Veränderung des Menschen. Jeder Evolutionsprozess entwickelt sich stufenweise. Daher gibt es vielfache Regionen für Nichtinkarnierte, so wie es zahlreiche, bemerkenswerte Programme für alle im irdischen Körper weilenden Geschöpfe gibt. Seelen und Gefühle, Formen und Dinge, gehorchen einem natürlichen Ent­wicklungsprinzip und einer gerechten Hierarchie. «

 

Hingegen bedrückte es mich, dass ich seit vielen Wochen in diesem Krankenhaus war, und noch von keinem mir vorangegangenen Verwandten oder Freund besucht wurde. Denn ich war ja nicht der Einzige aus meinen Kreisen, der durch das Tor des Todes gegangen war. Meine Eltern hatten diese Reise lange vor mir angetreten. Einige Freunde aus früheren Zeiten sind ebenfalls vor mir gegangen. Weshalb also kamen sie nicht, um mich in diesem Zimmer für spirituell Erkrankte zu besuchen, wo mein Herz doch so viel Zuspruch und Trost brauchte. Es musste ja kein langer Besuch sein. Ein paar Augenblicke des Trostes würden genügen. Eines Tages fragte ich meinen hilfsbereiten Betreuer:

 

»Mein lieber Lísias, ist es möglich, diejenigen hier wieder zu treffen, die den physischen Körper vor uns verlassen haben? «

 

»Natürlich ist es möglich. Hast Du gedacht, Du seiest vergessen worden? «

 

»Ja. Warum besuchen sie mich nicht? Als ich noch auf der Erde war, konnte ich auf die mütterliche Unterstützung zählen. Bis jetzt habe ich weder von meiner Mutter noch von meinem Vater, der drei Jahre vor meinem Ableben die physische Welt verlassen hat, ein Zeichen erhalten. «

 

»Ich erkläre es Dir: Deine Mutter hat Dir seit dem Ausbruch der Krankheit beigestanden. Sie half Dir Tag und Nacht und als sich Dein Gesundheitszustand verschlechterte, was das Verlassen Deines physischen Leibes zur Folge hatte, kümmerte sie sich noch stärker um Dich. Vielleicht weißt Du es nicht, doch Du hast ohne Unterbrechung mehr als acht Jahre in den niedrigeren Sphären verbracht. Deine Mutter gab nie auf. Sie hat sich für Dich in Nosso Lar eingesetzt. Sie hat Clarêncio inständig um seine wertvolle Hilfe gebeten. Er besuchte Dich so oft, bis in Dir der eitle Arzt der Erde in den Hintergrund trat und dem Sohn des Himmels Platz machte. Verstehst Du? «

 

Tränen schössen mir in die Augen. Ich wusste nicht wie lange ich schon dem irdischen Leben fern war. Ich wünschte mir, mich beherrschen zu können, aber es gelang mir nicht. Meine lang zurückgehaltenen Tränen steckten in meinem Hals wie ein Knoten, der mich am Sprechen hinderte.

 

»Als Du aus der Tiefe Deiner Seele gebetet hast«, erklärte Lísias, »und begriffen hattest, dass alles im Universum Gott gehört, waren Deine Tränen glaubhaft. Weißt Du, dass es sowohl zerstörenden wie auch schöpferischen Regen gibt? So ist es auch mit Tränen. Gewiss ist Gott nicht auf unsere Bitte angewiesen - er liebt uns auch ohne dass wir ihn darum bitten. Dennoch - um seine unendliche Güte erfahren zu können, ist es erforderlich, ihm unsere Bereitschaft zu zeigen. So wie ein defekter Spiegel kein Bild wiedergeben kann, so wenig braucht Gott unsere Bekenntnisse der Reue. Aber - seien wir ehrlich, für uns sind sie von großem Nutzen. Verstehst Du? Clarêncio hatte keine Schwierigkeiten Dich zu finden, um die Bitte Deiner Dich liebenden irdischen Mutter zu erfüllen. Du aber brauchtest lange Zeit um Clarêncio zu begegnen. Mir wurde erzählt, dass Deine Mutter aus Freude weinte als sie erfuhr, dass es ihrem Sohn gelungen war, mit Hilfe des Gebets den dunklen Schleier zu zerreißen. «

 

»Und wo ist meine Mutter jetzt? «, fragte ich flehend. »Falls es mir erlaubt ist, möchte ich sie sehen, sie umarmen, mich zu ihren Füßen werfen! «

 

»Sie lebt nicht in Nosso Lar, erklärte Lísias. »Sie bewohnt höhere Sphären. Dort setzt sie sich nicht nur für Dich ein sondern auch für andere. «

 

Er bemerkte meine Enttäuschung und sagte freundlich zu mir:

 

»Sie wird Dich sicher besuchen kommen, vielleicht sogar früher als wir erwarten. Wenn sich jemand etwas ganz fest wünscht, ist der Wunsch bereits zur Hälfte in Erfüllung gegangen. Diesbezüglich kannst Du auf Deine eigene Erfahrung zurückgreifen, nicht wahr? Während vieler Jahre warst Du wie eine Feder im Wind und voller Ängste, Traurigkeit und Enttäuschungen. Aber als Du endlich erkannt hattest, dass Du Göttliche Hilfe brauchtest und Deine Gedanken darauf konzentriertest, dehnte sich Deine mentale Wahrnehmungsfähigkeit aus. Du hattest neue Einsichten gewonnen und die Hilfe kam. «

 

Mit glänzenden Augen sprach ich meinen tiefsten Wunsch mutig aus:

 

»Meine Mutter kommt - sie kommt mich besuchen! « Gütig lächelnd, sagte mir Lísias, als er sich von mir verabschiedete:

 

»Damit Wünsche in Erfüllung gehen können, wäre es gut, zu wissen, dass drei wesentliche Bedingungen erfüllt werden müssen:

 

Erstens: Sich etwas wünschen Zweitens: Das Richtige zu wünschen Drittens: Es verdienen, dass der Wunsch erfüllt wird. Anders gesagt: Es braucht einen aktiven Willen, Ausdauer bei der Arbeit und das Verdienst muss gerechtfertigt sein. «

 

Lísias ging lächelnd zur Ausgangstür und schloss diese hinter sich. Still dachte ich über das umfangreiche Programm nach, das mir in nur wenigen Sätzen aufgezeigt worden war.

 

 

 

(8)

 

ORGANISATION DER DIENSTE

 

 

Nach einigen Wochen intensiver Betreuung durfte ich zum ersten Mal in Begleitung Lísias spazieren gehen.

 

Das sich mir bietende Straßenbild, die breiten, von dicht belaubten Bäumen gesäumten Alleen, die reine Luft und die von tiefer Spiritualität geprägte Atmosphäre, beeindruckten mich sehr. Nirgends war Untätigkeit oder Müßiggang irgendwelcher Art festzustellen. Die öffentlichen Straßen waren sehr belebt und reges Kommen und Gehen herrschte unter den Geistwesen. Einige schienen in Gedanken versunken und nahmen nichts wahr, andere wiederum schauten mich wohlwollend an. Ich erlebte eine Überraschung nach der anderen. Sofort tauchten viele Fragenauf, die ich gerne meinem Begleiter gestellt hätte. Lísias, dem mein Staunen nicht verborgen blieb, klärte mich auf:

 

»Wir befinden uns jetzt in der Anlage des Ministeri­ums für Hilfeleistung. In allen Gebäuden und Wohnhäusern sind Institutionen und Heime untergebracht, worin wir un­serer Beschäftigung nachgehen. Berater, Arbeiter und ande­re Angestellte wohnen hier. An diesem Ort werden Kranke behandelt, Bittschriften entgegen genommen, Gebete ausge­wählt, irdische Reinkarnationen vorbereitet und Lösungen für die Leid verursachenden Prozesse werden erarbeitet. Von hier aus werden Hilfstrupps zu den Bewohnern der Schwel­lenregion* ausgesandt oder zu den Weinenden auf Erden. «

 

»Heißt das, dass es in Nosso Lar ein Ministerium für Hilfeleistung gibt? «, fragte ich.

 

»Aber sicher. Unser Dienstleistungswesen ist in einer Organisation untergebracht, die ständig verbessert wird und unter der Leitung derer steht, die für unser Schicksal zuständig sind. «

 

Er schaute mich mit klaren Augen an und fuhr fort: »Hast Du damals bei den Gebeten nicht bemerkt, dass unser spiritueller Gouverneur in Begleitung von zweiundsieb­zig Mitarbeitern war? Das sind die Minister der Kolonie Nos­so Lar, einer Stätte der Arbeit und Verwirklichung. Es gibt sechs Ministerien, die je von zwölf Ministern geleitet werden. Wir haben das Ministerium für Erneuerung, für Hilfeleistung, für Kommunikation, für Aufklärung, für Erhöhung und das der Göttlichen Vereinigung. Da unsere spirituelle Kolonie eine Übergangsstätte ist, stehen wir durch die ersten vier Ministeri­en näher an der Erdoberfläche und die zwei letzten verbinden uns mit den Höheren Sphären. Für grobstofflichere Arbeiten ist das Ministerium für Erneuerung zuständig, für erlauchte Arbeiten ist das Ministerium der Göttlichen Vereinigung ver­antwortlich. Clarêncio, unser freundlicher Vorgesetzter, steht dem Ministerium für Hilfeleistung vor. «

 

Nach einer nachdenklichen Pause sagte ich bewegt:

 

»Nun, ich hätte nie gedacht, dass es nach dem Tod des physischen Körpers solch umfangreiche Organisationen geben könnte. «

 

»Ja«, erklärte Lísias, »beiden auf Erden Inkarnierten ist der Schleier der Illusion noch sehr dicht und undurchdringlich. Der normale Mensch hat noch nicht begriffen, dass die der irdischen Welt offenbarte Ordnung aus den Höheren Sphären stammt. Dank seiner guten Gedanken kann der Mensch aus der wilden Natur einen Garten erschaffen. Insofern kann der menschliche Gedanke - im Urzustand noch ungeordnet - sich zu einer höchst schöpferischen Fähigkeit entwickeln, wenn er von Eingebungen aus Höheren Sphären inspiriert wird. Denn alles, was sich auf der Erde materialisiert, entsteht in den Höheren Sphären. «

 

»Hat Nosso Lar auch eine Geschichte, so wie irdische Städte eine haben? «

 

»Ganz sicher. Bedenke, dass benachbarte Regionen des Planeten Erde auch ganz spezifische Eigenschaften besitzen, ebenso wie auch unsere. Das Archiv des Ministeriums für Aufklärung verwahrt die Chroniken der Gründung von Nosso Lar. In denen ist zu lesen: „Nosso Lar wurde in der spirituellen Sphäre von vornehmen Portugiesen, die im 16. Jahrhundert in Brasilien gestorben sind, gegründet. Der Anfang war gezeichnet von langen und harten Kämpfen."

 

Lísias erläuterte: »Es gibt, für die Erdbewohner un­sichtbar, auch in der spirituellen Welt raue, feindliche Gegen­den, wo grobstoffliche Regionen anzutreffen sind, die ein gewal­tiges Potential an niedrigen Kräften in sich bergen. Man kann sie vergleichen mit der Erde, wo es ebenfalls weite, harsche und unzivilisierte Gebiete gibt. Nach der Gründung fanden die Geistwesen schwierige Bedingungen und auch für starke Geist­wesen war es entmutigend. Aber sie scheuten keine Mühe und zeigten große Bereitschaft ihren Aufgaben nachzukommen.

 

Dort, wo wir heute feine und edle Schwingungen verspüren und schöne Gebäude sehen, sind zu jener Zeit die Gründer der Kolonie auf Ureinwohner mit sehr bescheidenem und kindlichem Denkvermögen gestossen. Dennoch setzten die spirituellen Gründer ihr Werk fort. Sie folgten dem Beispiel der Europäer, die bei ihrer Ankunft auf der Erde großen Einsatz zeigten. Einen wichtigen Unterschied gab es zwischen den europäischen Eroberern und den spirituellen Gründern: In der stofflichen Welt setzten die Ersten sich mit Gewalt durch und nutzen die List des Krieges und der Sklaverei, um die eroberten Völker zu beherrschen. Die Gründer der spirituellen Kolonie handelten nach dem Prinzip der brüderlichen Solidarität und der spirituellen Liebe. «

 

Wir befanden uns jetzt auf einem wunderschön gestalteten Platz in einer großzügigen Gartenanlage. In der Mitte des Platzes ragte ein prächtiger Palast mit majestätischen Türmen in den Himmel. Lísias erklärte, dass es der Sitz der Regierung sei.

 

»Von hier aus brachen die Gründer der spirituellen Kolonie Nosso Lar zu ihrer beschwerlichen Arbeit auf. Dieser Platz ist der Verbindungspunkt zwischen der Regierung und den Ministerien, die in der Form eines Dreiecks angeordnet sind. An der Spitze des Dreiecks befindet sich der Regierungssitz, zu seiner rechten und linken Seite die Ministerien. «

 

Voller Respekt erklärte er:

 

»Dort lebt unser selbstloser Gouverneur. Ihm stehen für administrative Belange dreitausend Mitarbeiter zur Seite. Er ist ein treuer Freund der Kolonie und der eifrigste und unermüdlichste der Schaffenden, fleißiger als wir alle zusammen.

 

Es ist üblich, dass alle Minister gelegentlich andere Sphären besuchen, um den dortigen Bewohnern zu neuen Energien zu verhelfen und ihnen neue Kenntnisse zu vermitteln.

 

Uns ist es gestattet, an den üblichen Freizeitbeschäftigungen teilzunehmen, dem Gouverneur fehlt jedoch die Zeit dazu. Er verlangt von uns, dass wir uns ausruhen - ja er zwingt uns geradezu, regelmäßig Urlaub zu nehmen. Er nimmt sich nur sehr selten Zeit auch auszuruhen und schläft sehr wenig. Es scheint, dass immerwährende Arbeit ihm die Erfüllung gibt. Ich bin bereits seit vierzig Jahren hier. Ausgenommen während des Kollektivgebets, zu dem sich alle versammeln, treffe ich ihn sehr selten bei öffentlichen Anlässen an.

 

In Gedanken ist er stets überall und erfasst sämtliche Aufgabenbereiche, seine Fürsorge ist allen spürbar.

 

Es ist noch nicht lange her, da feierten wir den 114. Geburtstag seiner noblen Leitung. «

 

Lísias schwieg voller Ehrerbietung. Ich betrachtete voller Respekt und Bewunderung die wundervollen, in den Himmel ragenden Türme.

 

 

 

(9)

 

ERNÄHRUNGSFRAGEN

 

 

Begeistert vom Anblick der wunderbaren Gartenanlage bat ich Lísias, auf einer in der Nähe stehenden Bank kurz ausruhen zu dürfen. Der Pfleger stimmte wohlwollend zu.

 

Ein Gefühl des Friedens beseelte mich. Glücklich erfreute ich mich am Wasserspiel einer eleganten Fontäne, aus der farbige Wasserstrahlen in die Höhe schossen und bezaubernde Figuren formten.

 

Als ich die zahlreichen Einrichtungen betrachtete, die mich an Bienenwaben erinnerten, fragte ich Lísias:

 

»Wie wird für den Nachschub gesorgt? Bis jetzt habe ich nichts über ein Versorgungs-Ministerium erfahren. «

 

»Früher«, sagte mein geduldiger Gesprächspartner, »spielten diese Dienste eine wichtigere Rolle. Dessen ungeachtet hat der jetzige Gouverneur entschieden, dass es besser sei, alles was uns an das rein materielle Leben erinnern könnte, einzuschränken. Die frühere Abteilung für Versorgung wurde zu einer Verteilerstelle umfunktioniert, die unter der direkten Aufsicht der Regierung steht. Übrigens hat es sich gezeigt, dass diese Maßnahme viele Vorteile hat. In den Chroniken der Kolonie wird berichtet, dass vor einem Jahrhundert die Kolonie mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Es wurde damals versucht, die Bewohner an das Gesetz der Bescheidenheit anzupassen. Viele Neuankömmlinge in Nosso Lar stellten maßlose Forderungen an die Kolonie. Sie wollten ihren früheren irdischen Lastern weiter frönen und verlangten üppiges Essen und berauschende oder gar aufpeitschende Getränke. Es zeigte sich, dass nur das Ministerium der Göttlichen Vereinigung - seiner besonderen Eigenschaft wegen, sich nicht zu solchen Missbräuchen verleiten liess. Die restlichen Ministerien sahen sich andauernd diesen Begebenheiten gegenübergestellt. Sie waren schlichtweg damit überfordert. Damals hat der heute noch amtierende Gouverneur gleich nach der Übernahme des Ministeriums wichtige Schritte eingeleitet, damit solche Übergriffe nicht mehr vorkommen. Von früher in der Kolonie tätigen Geistwesen erfuhr ich, dass sich hier manchmal merkwürdige Dinge zugetragen haben. Zum Beispiel kamen auf Veranlassung des Gouverneurs zweihundert Dozenten aus höher entwickelten Sphären zu uns, um über neue Erkenntnisse der Atemtechnik, sowie der notwendigen Aufnahme von lebenswichtigen Energien aus der Atmosphäre zu unterrichten. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt. Allerdings sprachen sich einige der technischen Mitarbeiter gegen diese Neuerungen aus. Sie argumentierten, dass Nosso Lar eine Übergangsstätte sei, und dass es weder gerecht noch möglich wäre von den Neuankömmlingen der Nichtinkarnierten zu verlangen, dass sie ihre alten Gewohnheiten sofort ablegen sollten. Abgesehen davon könne sich eine solche radikale Umstellung nachteilig auf ihre spirituelle Struktur auswirken. Der Gouverneur gab trotzdem nicht auf und während der nächsten dreißig Jahre fanden weitere Veranstaltungen und Aktivitäten statt. Es gab auch einige berühmte Geistwesen, die sich an die Öffentlichkeit wandten, um ihre Proteste kund zu tun. Mehrmals war das Ministerium für Hilfeleistung mit Kranken überfüllt, die behaupteten, dass sie Opfer des neuen, mangelhaften Ernährungssystems wären. Dies nutzten die Gegner der Kampagne aus und verschärften ihre Anschuldigungen. Dennoch bestrafte der Gouverneur diese Querdenker nicht, im Gegenteil, er lud sie in den Palast ein, wo er ihnen, wie ein Vater, das Projekt und das angestrebte Ziel der Ernährungsumstellung erläuterte. Er wies darauf hin, dass die Methode vortrefflich zur Spiritualisierung diene.

 

Auch ermöglichte er den Gegnern der neuen Methode, an Studienreisen zu den weiterentwickelten, höheren Sphären teilzunehmen. Dies wirkte sich vorteilhaft aus und bescherte ihm zahlreiche neue Anhänger. «

 

Nach einer längeren Pause bat ich Lísias, weiter zu erzählen.

 

»Wie wurde der Streit beigelegt? «

 

»Nach einundzwanzigjähriger, beharrlicher Überzeu­gungsarbeit der Regierung bekannte sich das Ministerium der Erhöhung zu den neuen Erkenntnissen. Von da an wur­de das Ministerium nur mit dem Notwendigsten versorgt. Das Ministerium für Aufklärung beschäftigte seinerzeit zahlreiche Geistwesen, die sich mit mathematischer Wissenschaft befassten und auf dem Gebiet der Kohlenhydrate und Proteine arbeiteten, die bekanntlich für den physischen, noch inkarnierten Körper unentbehrlich sind. Diese Geistwesen fügten sich dem neuen Konzept nicht und nahmen eine unbeugsa­me Haltung gegenüber dem Projekt an, sodass das Minis­terium für längere Zeit die neue Methode nicht annehmen konnte. Die Gegner schickten dem Gouverneur wöchentlich Berichte und Mahnungen mit Analysen und Aufzählungen, die manchmal ans Lächerliche grenzten.

 

Der weise Gouverneur traf seine Entscheidungen je­doch nie allein. Er suchte immer Rat bei ehrwürdigen Men­toren, die ihre Anordnungen dem Ministerium der Göttlichen Vereinigung zukommen Hessen, von wo sie dann an uns wei­tergeleitet wurden. Er unterliess auch niemals, selbst kleine, nicht sehr wichtige Gegenargumente genauestens zu prüfen. Während die Wissenschaftler argumentierten und die Re­gierung sich anpasste, ereigneten sich in der früheren Er­neuerungsabteilung, dem heutigen Ministerium, gefährliche Zwischenfälle. Wenig entwickelte Geistwesen, die sich dort auf­hielten - ermutigt durch die auflehnende Haltung einiger Mit­arbeiter des Ministeriums für Aufklärung, gaben sich verwerf­lichem Verhalten hin. Das führte zu Abspaltungen innerhalb der Kollektivgemeinschaft Nosso Lar. Dies wiederum nutzten Banden von finsteren Geistwesen aus, die von der Schwel­lenregion kamen und versuchten, unsere Stadt zu überfallen und einzunehmen. Dieser für uns gefährliche Versuch konnte indessen nur passieren, weil in den Arbeitsräumen der Er­neuerungsabteilung einige stark essensabhängige Mitarbei­ter regen Kontakt zu gewissen illegalen Quellen unterhielten. Doch als Alarm geschlagen wurde, bewahrte der Gouverneur die Ruhe, obwohl diese schreckliche Bedrohung über der Kolonie schwebte. Er bat die Göttliche Vereinigung um eine Audienz. Nachdem er mit unserem Höchsten Rat gesprochen hatte, gab er zahlreiche Anweisungen: Das Ministerium für Kommunikation solle vorübergehend geschlossen werden; alle widerspenstigen Geistwesen seien in den Verliesen der Erneu­erungsabteilung einzeln unterzubringen; das Ministerium für Aufklärung, dessen Impertinenz der Gouverneur für dreißig Jahre ertrug, erhielt eine Verwarnung. Zeitweilig wurde den niedrigeren Regionen jegliche Hilfeleistung verweigert. Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt wurden die elektrischen Anlagen zum Abfeuern von magnetischen Speeren, die zur Verteidigung der Stadt an den Stadtmauern installiert waren, eingeschaltet. Es fand in der Kolonie weder ein Gefecht statt, noch gab es den Befehl, anzugreifen. Es wurde jedoch wurde absoluter Widerstand geboten. Für mehr als sechs Monate be­schränkte sich die Verpflegung in Nosso Lar auf das Einatmen von lebenswichtigen Fluiden* aus der Atmosphäre sowie das Trinken von Wasser, dem sonnenhaltige, elektrische und ma­gnetische Elemente beigefugt wurden. Auf diese Weise erlebte die ganze Kolonie, welche Folgen es hat, wenn ein sanftes und gerechtes Geistwesen geärgert wird.

 

Aus dieser schlimmsten Zeit der Kolonie ging die Regierung siegreich hervor. Das Ministerium für Aufklärung bekannte sich zu seinen Fehlern und half beim Wiederaufbau mit. Es herrschte überall große Freude und man erzählt sich, dass - inmitten aller Freude - der Gouverneur gerührt geweint haben soll und dabei erklärte, dass das Verständnis aller das einzig wahre Geschenk für sein Herz sei. Die Stadt kehrte zu ihrem Alltag zurück und aus der früheren Erneuerungsabteilung wurde das Ministerium für Erneuerung. Zu vermerken ist, dass seit damals nur noch die Ministerien für Erneuerung und für Hilfeleistung großen Nachschub von irdisch ähnlichen Lebensmitteln erhalten, weil sich dort die größte Anzahl von Bedürftigen aufhält. Die anderen Ministerien bekommen nur noch das Unerlässliche, das heißt, es gibt nur ein gemäßigtes Ernährungsprogramm. Heute sind sich alle darüber einig, dass die vermeintlich unzumutbaren Maßnahmen des Gouverneurs uns geholfen haben, die spirituelle Befreiung besser zu verstehen. Die Bedürfnisse des Physischen Körpers traten in den Hintergrund und machten den spirituellen Bedürfnissen Platz. «

 

Lísias schwieg und ich dachte über die wichtige Unterweisung nach.

 

 

 

(10)

 

IM WALD DER QUELLEN

 

 

Meinem steigenden Interesse für Ernährungsfragen entgegenkommend, sagte Lísias:

 

»Besuchen wir das große Wasserreservoir der Kolonie, dort kannst Du Interessantes erfahren. Das Wasser ist für unsere Übergangsstätte sozusagen das Wichtigste. «

 

Erwartungsvoll folgte ich ihm. Als wir an der Ecke des Platzes angekommen waren, sagte er freundlich: »Hier warten wir auf den Aérobus. « Verblüfft sah ich ein großes Fahrzeug voller Passagiere, das etwa fünf Meter über dem Boden schwebte, auf uns zukommen. Als das Fahrzeug, ähnlich einer Drahtseilbahn auf der Erde, zu uns hinab sank, sah ich es mir genauer an. Es glich keiner auf der Erde bekannten Maschine. Das längliche Fahrzeug war aus sehr flexiblem Material gebaut. Auf dem Oberdeck sah man sehr viele Antennen und das Fahrzeug schien an unsichtbaren Fäden zu hängen. Bei einem späteren Besuch der großen Werkstätte für Verkehrs- und Transportmittel bestätigten sich meine Beobachtungen.

 

Lísias ließ mir keine Zeit, um Fragen zu stellen.

 

Wir nahmen im Inneren des bequemen Fahrzeugs Platz und reisten schweigend. Ich fühlte mich befangen, so wie es jemandem geht, der sich inmitten von Unbekanntem befindet. Das Fahrzeug fuhr mit solch hoher Geschwindigkeit an Gebäuden vorbei, dass ich nichts erkennen konnte. Die Reise dauerte etwa vierzig Minuten, wobei der Aérobus alle drei Kilometer kurz an den Haltestellen anhielt. Lísias forderte mich freundlich lächelnd auf, an einer auszusteigen.

 

Der sich mir bietende Anblick war von solcher Schönheit, dass ich fasziniert innehielt: Ein wunderbar blühender Wald, in dem frischer Wind wehte, das herrliche Spiel von wohltuenden Farben und Licht. Ein breiter Fluss war zu sehen, der - eingebettet von dichtem Gras und blauen Blumen - sanft dahin strömte. Sein Wasser war so kristallklar, dass es die Farbe des strahlend blauen Himmels reflektierte. Ich sah grüne Landstriche, die von breiten Alleen durchzogen wurden. Prächtig blühende, in regelmäßigen Abständen gepflanzte Bäume spendeten Schatten und boten Schutz vor dem Sonnenlicht. Unter ihnen standen, wie an einem Erholungsplatz, geschnitzte Bänke von aparter Schönheit, die zum Ausruhen einluden.

 

Mein Erstaunen war offensichtlich, denn Lísias meinte:

 

»Wir befinden uns im Wald der Quellen, einem der schönsten Orte unserer Kolonie. Es ist auch der bevorzugte Treffpunkt für Liebende. Sie kommen hierher, um sich die schönsten Treue- und Liebesversprechen für das zukünftige Leben zu geben. «

 

Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um diesbezüglich Fragen zu stellen. Lísias aber ging nicht darauf ein. Stattdessen zeigte er auf ein sehr großes Bauwerk und erklärte:

 

»Wir sehen den Blauen Fluss und das große Wasserreservoir der Kolonie. Das gesamte Wasservolumen wird in riesige Verteilerbecken aufgenommen, von dort aus an die ganze Kolonie verteilt und anschließend unter dem Ministerium für Erneuerung weitergeleitet, wo das Wasser in Richtung Meer abfließt. Im Meer sind gehaltvolle Stoffe enthalten, die auf Erden unbekannt sind. «

 

Auf meinen fragenden Blick erwiderte er.

 

»Tatsächlich hat unser Wasser eine andere Beschaf­fenheit. Es ist viel weniger dicht, es ist reiner, fast wie ein Fluidum*.«

 

»Welches Ministerium ist zuständig für die Wasserverteilung? « fragte ich Lísias.

 

»Die Zuteilung sowie die Pflege des Wassers und andere Arbeiten fallen in die Zuständigkeit des Ministeriums der Göttlichen Vereinigung. Es gibt einen Grund, weshalb dieses Ministerium für dieses grobstoffliche Element verantwortlich ist.

 

»Wie meinst Du das? « Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte.

 

»Auf der Erde wird nur sehr selten über die Wichtigkeit des Wassers nachgedacht. » erklärte Lísias «Die Bewohner von Nosso Lar haben andere Kenntnisse über das Wasser als die auf Erden bekannten, wo in religiösen Kreisen gelehrt wird, dass der Herr das Wasser erschaffen hat. Unbestritten ist, dass das Erschaffene richtige Pflege braucht und dass dazu die passenden Arbeitskräfte benötigt werden.

 

Wir haben in dieser spirituellen Stadt gelernt, dem Vater und seinen göttlichen Mitarbeitern für diesen Wundervollen Segen zu danken. Da wir umfassendere Kenntnisse über das Wasser haben, ist es uns bewusst, dass es das machtvollste Vehikel für alle Arten von Energien ist. Bei uns wird das Wasser vorwiegend als Nahrung und Medikament eingesetzt. Im Ministerium für Hilfeleistung gibt es Abteilungen, die sich nur mit der Aufbereitung des reinen Wassers beschäftigen. Sie reichern das Wasser mit gewissen Bestandteilen an, die sie dem Sonnenlicht und dem spirituellen Magnetismus entnehmen. Dies sind die Grundlagen der Ernährung an den meisten Orten dieser großen Kolonie.

 

Die Minister der Göttlichen Vereinigung bekleiden in der übergeordneten Geistigen Welt den höchsten spirituellen Rang, weswegen das Wasser des Blauen Flusses nur von ihnen magnetisiert werden kann. Wenn die erforderliche Wasserreinheit hergestellt ist, wird das Wasser den Bewohnern von Nosso Lar weitergegeben.

 

Den Ministern obliegt es daher, das Wasser zu reinigen. Fachlich ausgewiesene Geistwesen fügen dem Wasser die benötigten Nähr- und Heilstoffe bei. Später werden die Wasserläufe an einer bestimmten Stelle, die auf der anderen Seite des Waldes liegt, wieder zusammenfließen und als Blauer Fluss unsere Region verlassen, diesmal aber angereichert mit den spirituellen Charakteren unserer Sphären.«

 

Seine Erklärungen beeindruckten mich außerordent­lich, insbesondere, weil ich auf Erden nie so was gehört hatte.

 

Lísias führte weiter aus:

 

»Seit vielen Jahrhunderten verkennt der Mensch, dass das Gleichgewicht seiner Heimstätte, der Erde, vom Meer gehalten wird und das Wasser seinen physischen Körper bildet. Dass der Regen ihm das Brot beschert; der Fluss es ermöglicht, Städte zu bauen, er dem Wasser verdankt, dass er eine Familie und eine Arbeit haben kann. Indes meint der Mensch, er sei der absolute Herrscher der Welt und vergisst, dass er an erster Stelle ein Kind des Allmächtigen ist. Die Zeit wird kommen, in der der Mensch nicht nur unsere Dienste nachbilden, sondern auch einsehen wird, wie wichtig Wasser als Gabe des Herrn ist. Er wird lernen es zu schätzen und in der Lage sein zu verstehen, dass es wie ein fluidischer Träger mentaler Schwingungen jedes einzelnen Bewohners eines Hauses wirken kann.

 

Auf der Erde ist das Wasser nicht nur der Entsorger körperlicher Ausscheidungen, sondern auch von allen unseren mentalen Ausdrucksformen. Das Wasser, wenn im Besitz des Bösen, kann Schaden anrichten, wenn es aber von gütigen Händen benutzt wird, ist es nützlich.

 

Wenn es fließt, bereichert es nicht nur unser Leben, es ist gleichzeitig das Mittel, das die Göttliche Vorsehung benutzt, um im Menschen innewohnende Gefühle der Verbitterung, des Hasses und der Ängste aufzusaugen, ihn und sein Haus davon zu befreien und sein Inneres zu läutern.«

 

Mein Gesprächspartner schwieg. Mein Blick war auf den ruhigen Fluss gerichtet und neu aufkeimende, erhabene Gedanken beflügelten mein Inneres.

 

 

 

(11)

 

NACHRICHTEN AUS DER SPHÄRE

 

 

Mein guter Freund hätte mir gerne weitere Gelegenheit gegeben, meine Beobachtungen in den verschiedenen Vierteln der Kolonie fortzusetzen, aber andere dringendere Aufgaben erwarteten ihn anderswo.

 

»Du wirst noch oft die Möglichkeit haben, andere, zu unseren Dienststellen gehörende Regionen kennen zu lernen«, sagte er gütig. »Wie Du feststellen konntest, sind die Ministerien von Nosso Lar riesengroße, aktive Arbeitszellen und es ist undurchführbar, in nur wenigen Tagen jedes Ministerium ausführlich kennen zu lernen. Es werden sich sicher neue Anlässe dazu ergeben. Auch wenn ich Dich nicht länger begleiten kann, wird es Clarêncio dank seiner hohen Stellung sicher möglich sein, Dir Zutritt zu beliebigen Abteilungen zu verschaffen. «

 

Wir kehrten zur Haltestelle des Aérobusses zurück. Er war soeben eingefahren (oder eingeschwebt) und wir stiegen ein. Ich fühlte mich jetzt wohler und die vielen Passagieren störten mich nicht. Was ich vorhin erlebt hatte, wirkte sich wohltuend auf mich aus.

 

In meinem Kopf schwirrten viele Fragen herum, die ich beantwortet haben wollte.

 

»Lísias, mein Freund«, erkundigte ich mich, »ist die Kolonie Nosso Lar identisch mit den anderen spirituellen Kolonien? Haben sie dieselben Strukturen, dieselben Eigenschaften? «

 

»Keinesfalls. Wenn auf der Erde nicht nur Regionen sondern auch Strukturen verschiedene Merkmale aufweisen, warum sollte es hier anders sein. Der Unterschied zur Erde liegt in der Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten und Bedingungen die in unseren Sphären herrschen.

 

Hier, wie auf der Erde, erkennen sich die Geschöpfe an ihrem gemeinsamen Ursprung und an der Erhabenheit der Ziele, die sie sich zu erreichen vorgenommen haben. Wichtig ist es, zu bedenken, dass sich jede Kolonie, jedes Geistwesen auf einer unterschiedlichen Stufe des Evolutionsweges befindet. Jede Gemeinschaft unterscheidet sich von den anderen und in unserer Kolonie, die eine Kollektivgemeinschaft ist, verhält es sich genauso. Im Archiv der Kolonie ist zu lesen, dass sich viele von unseren Vorgängern von den aufopfernden Tätigkeiten inspirieren ließen, die von Schaffenden aus anderen Sphären ausgeübt wurden. Als Gegenleistung helfen wir anderen Gruppen, die zu uns kommen und uns bitten, ihren im Aufbau befindlichen Kolonien zu helfen. Dennoch ist jede Gruppe, jede organisierte Kolonie, in ihrem Wesen ein Unikat. « Nach einer Pause fragte ich ihn weiter:

 

»Heißt das, dass die Idee der Gründung von Ministe­rien in der Kolonie hier aufkam? «

 

»Ja. Die Geistmissionare*, die Nosso Lar gründeten, waren zuvor bei der wichtigsten, in der Nähe liegenden, geistigen Kolonie Alvorada Nova (Neuer Morgen) zu Besuch. Dabei fiel ihnen auf, dass die Kolonie in Abteilungen unterteilt war. Dieses Modell wurde für unsere Kolonie übernommen. Statt der Bezeichnung „Abteilungen" wurde „Ministerium" gewählt, weil die führenden Geistwesen fanden, dass die Organisation der Kolonie in Ministerien ihren spirituellen Charakter besser zum Ausdruck bringe. Allerdings haben nur fünf der sechs Ministerien der Kolonie diese Bezeichnung sofort erhalten.

 

Erst später wurde die Abteilung für Erneuerung vom jetzigen Gouverneur in den Rang eines Ministeriums erhoben. Das heutige Ministerium für Erneuerung.« »Sehr gut«, fügte ich hinzu.

 

»Ja, aber das ist noch nicht alles«, fuhr Lísias fort. »Diese Institution ist sehr strikt, was Fragen der Ordnung und Hierarchie angeht. Hier erreicht man keine wichtige Funktion aus Gefälligkeit oder durch Beziehungen. Bis jetzt ist es innerhalb von zehn Jahren nur vier Geistwesen gelungen, im Ministerium der Göttlichen Vereinigung eine Funktion mit einem klar umfassten Verantwortungsbereich zu übernehmen. Nachdem wir viele Jahre mit Dienen und Lernen verbracht haben, folgt meistens die Reinkarnation, um unseren Vervollkommnungsprozess fortsetzen zu können. «

 

Ich hörte zu und nahm all diese Informationen sehr neugierig auf. Lísias sprach weiter:

 

»Neuankömmlinge aus den niedrigeren Sphären der Schwellenregion, die bereit sind Hilfe anzunehmen, werden vom Ministerium für Hilfeleistung aufgenommen. Geben sie sich widerspenstig, werden sie an das Ministerium für Erneuerung weitergeleitet. Wenn es sich herausstellt, dass sie die gebotene Gelegenheit gut nutzen, werden sie mit der Zeit in den Ministerien für Hilfeleistung, Kommunikation und für Aufklärung aufgenommen, um an zukünftigen Arbeiten zugunsten des Planeten teilzunehmen. Nur wenigen ist es möglich im Ministerium der Erhöhung dauerhaft zu arbeiten. Noch seltener, ungefähr alle zehn Jahre, gelingt es einigen, sich im Ministerium der Göttlichen Vereinigung einzuarbeiten. Von uns werden Taten und nicht leere Worte des Idealismus erwartet. Wir befinden uns nicht auf der Erde, wo der Tote ganz automatisch zum Gespenst gemacht wird. Wir leben in einem Kreis sich wiederholender Manifestationen. Die Hilfstätigkeit ist arbeitsintensiv und kompliziert. Das Ministerium für Erneuerung stellt große Ansprüche an uns, was Aufopferungsbereitschaft angeht. Im Ministerium für Kommunikation muss ein hohes Maß an Einzelverantwortung getragen werden können und im Ministerium für Aufklärung werden hohe Arbeitskapazität und intellektuelle Fähigkeiten vorausgesetzt. Das Ministerium der Erhöhung hingegen verlangt von uns Entsagung und Erleuchtung. Um im Ministerium der Göttlichen Vereinigung tätig zu sein, ist es unerlässlich, breit gefächertes Wissen zu besitzen, die universelle Liebe verinnerlicht zu haben und fähig zu sein, sie ehrlich einzusetzen. Die Regierung ist zuständig für alle Arten von Diensten, von der Verwaltung bis zu einer Anzahl von Abteilungen der direkten Kontrolle, wie z.B. die der Ernährung, der Verteilung der elektrischen Energie, des Verkehrs, Transportes und anderen Diensten.

 

Bei uns wird das Gesetz der Erholung sehr genau eingehalten. Auf diese Weise kann vermieden werden, dass manche Mitarbeiter mehr als andere belastet werden. Das Gesetz der Arbeit wird strikt befolgt. Was die Erholung angeht, ist der Gouverneur der einzige, der sie nicht in Anspruch nimmt. «

 

»Aber, verlässt er den Palast nie? «, fragte ich.

 

»Nur wenn es zum Wohl der Öffentlichkeit ist. Dieser Pflicht folgend, geht er wöchentlich zum Ministerium für Erneuerung, das ist die unruhigste Zone unserer Kolonie. Dort halten sich Geistwesen auf, die immer noch auf den gleichen Schwingungsebenen ihrer Brüder der Schwellenregion sind. Eine sehr große Anzahl verirrter Geistwesen wird dort untergebracht.

 

Nachdem der Gouverneur im Großtempel des Regierungssitzes mit den Anwohnern der Kolonie gebetet hat, nutzt er die Sonntagnachmittage, um mit den Ministern des Ministeriums für Erneuerung über schwierige Arbeitsprobleme zu sprechen. Selten erlaubt ihm seine leitende Funktion, Zeit zur persönlichen Erholung zu nehmen. Stattdessen spendet er den Verwirrten und den Leidenden Trost. «

 

Der Aérobus hatte uns in die Nähe des Krankenhauses gebracht, in dem ich untergebracht war.

 

Auf offener Straße vernahm ich wunderschöne Musik, deren Klänge vom sanften Wind verbreitet wurden. Ich schaute Lísias an und er erklärte mir:

 

»Diese Musik kommt aus den Werkstätten, in denen Bewohner von Nosso Lar arbeiten. Nach längerem Beobachten hat die Regierung erkannt, dass die Musik die Leistung der Arbeitenden in allen Sektoren fördert. Seitdem muss keiner in Nosso Lar ohne diese musikalische Anregung arbeiten. «

 

In der Zwischenzeit waren wir am Portal angekommen. Ein aufmerksamer Pfleger kam auf uns zu und sagte:

 

»Bruder Lísias, Sie werden im rechten Pavillon für dringende Arbeiten erwartet. «

 

Mein Begleiter entfernte sich und ich ging in mein Zimmer. Viele Fragen beschäftigten mich.

 

 

 

(12)

 

DIE SCHWELLENREGION

 

 

Nach Lísias wertvollen Erläuterungen stieg mein Interesse und ich wollte mehr über die verschiedenen Probleme, die Lísias angesprochen hatte, erfahren. Als er über Geistwesen sprach, die sich in der Schwellenregion aufhalten, wurde meine Wissbegier noch mehr angespornt. Das Fehlen von auf der Erde angeeigneten Religionskenntnissen kann sich als nachteilig heraus stellen und nach dem physischen Tod zu Verwirrungen führen. Was ist die Schwellenregion? Ich wusste nichts darüber. Wie es sich gehörte, besuchte ich die Messen der römisch-katholischen Kirche, in der von der Hölle und vom Fegefeuer gesprochen wurde. Aber über die Schwellenregion hatte ich nie etwas erfahren.

 

Bei meinem nächsten Treffen mit Lísias konnte ich meine Fragen nicht zurückhalten. Er hörte mir aufmerksam zu und antwortete.

 

»Du kennst diese Region nicht? Du hast Dich doch sehr lange dort aufgehalten. «

 

Die Erinnerung an das erfahrene Leid liess mich schaudern.

 

»Die Schwellenregion«, sprach er weiter, »beginnt an der Erdoberfläche. Es ist eine dunkle, schattige Zone, wo sich diejenigen aufhalten, die auf der Erde versäumt haben ihren Pflichten nachzukommen und weiterhin im Tal der Unschlüssigkeit, oder im Morast der zahlreichen begangenen Fehler für lange Zeit feststecken bleiben. Vor seiner Reinkarnation* verpflichtet sich der Geist, das vom Göttlichen Vater erstellte Programm zu erfüllen. Wenn er aber erneut auf der Erde ist, fällt ihm das sehr schwer und er verfolgt nur noch die Erfüllung seiner eigenen, egoistischen Wünsche. Aus diesem Grund nimmt der Geist sowohl den Hass, den er für seine Feinde hegt, als auch das Gefühl der Leidenschaft zu seinen Freunden mit. Indessen kann durch Hass keine Gerechtigkeit erlangt werden, so wenig, wie Leidenschaft Liebe ist. Alles was übertrieben ist, ist schädlich und wirkt sich auf die Buchhaltung des Lebens negativ aus. So kommt es, dass ganze Scharen von geistig Verwirrten nach dem Verlassen ihrer physischen Hülle sich in den angrenzenden nebligen Regionen aufhalten. Die erfüllte Pflicht ist in der Unendlichkeit das Tor, das uns zum Heiligen Land der Vereinigung mit dem Herrn führt. Folglich ist es natürlich, dass der Mensch, der sich den Pflichten entzieht, diese Gnade auf unbestimmte Zeit verwirkt. «

 

Lísias bemerkte, wie schwer es mir fiel den Inhalt seiner Lektion aufzunehmen und zu verstehen, denn ich besaß keine Kenntnisse über spirituelle Prinzipien. Er versuchte es mir verständlich zu machen:

 

»Stell Dir vor: Jeder von uns, gekleidet in eine schmutzige Kluft, wird auf der Erde wiedergeboren. Dieses schmutzige Kleidungsstück ist unser Kausalkörper, den wir in früheren Leben eigenhändig gewoben haben, und welchen wir uns vorgenommen haben, im Lebensbottich wieder rein zu waschen. Demnach dürfen wir die Gnade einer neuen physischen Existenz erfahren. Indessen verlieren wir das wesentliche Ziel aus den Augen und anstatt uns um unsere Läuterung zu bemühen, beflecken wir uns noch mehr und werden zu Sklaven unseres Selbst. Oder, um es anders auszudrücken, wir kerkern uns selbst ein und werden unsere eigenen Kerkermeister. Wenn wir also durch unsere Rückkehr auf die Erde versuchen wollten, dem Dreck zu entkommen, in den wir uns selbst gesetzt hatten, ist uns das nicht gelungen.

 

Im Gegenteil: Unser Fehlverhalten gegenüber den erhabenen Sphären brachte uns in diese prekäre Lage und nun, da wir noch mehr Schuld auf uns geladen haben, können wir doch nicht erwarten, direkt in diese strahlende Welt zurückzukehren! Die Schwellenregion dient der Ermattung von mentalen Rückständen. Es ist eine Art Fegefeuer, wo Schaden bringende Luftschlösser, die sich der Mensch freimütig erbaut hat, als er die erhabene Gelegenheit eines irdischen Lebens verachtete, allmählich verbrannt werden. «

 

Lísias Erläuterung konnte nicht klarer und überzeugender sein. Obwohl ich eine gewisse Verwunderung nicht verbergen konnte, hatten Lísias Worte eine wohltuende Wirkung auf mich.

 

Die Schwellenregion ist für alle, die auf der Erde leben, von größter Bedeutung« fuhr er fort.

 

»Sie ist ein Sammelort für alles was noch nicht für ein übergeordnetes Leben bestimmt ist. Die Göttliche Vorsehung handelte sehr weise, als sie die Erschaffung einer solchen Region rings um den Planeten Erde gestattete. Ganze Legionen von unentschlossenen und unwissenden Geistwesen halten sich dort auf, die weder hinreichend pervers sind, um in äußerst straff geführten Kolonien für Wiedergutmachung aufgenommen zu werden, noch haben sie einen moralischen Fortschritt erreicht, der ihnen erlaubt, in höhere Ebenen aufzusteigen. Diese unzähligen Bewohner der Schwellenregion sind Geistwesen, die den Inkarnierten nahe stehen und lediglich durch das Gesetz der Schwingungen von ihnen getrennt sind. Deshalb ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass die ganze Region von großer Verstörtheit geprägt ist. In Gruppen lebend, halten sich dort gekränkte, uneinsichtige, aufgebrachte Geistwesen auf, die wegen ihrer niederen Neigungen und Wünsche eine geballte unsichtbare Macht darstellen. Die Schwellenregion ist überfüllt von verzweifelten, rastlosen Geistwesen, die nach dem Tod ihres physischen Körpers der Tatsache gegenüberstehen, dass der Herr nicht da ist, um ihre Wünsche zu erfüllen. Dass die Krone des Ewigen Lebens nicht übertragbar ist und denen gehört, die Gott wahrhaftig dienen. Da ihnen diese Einsicht fehlt, zeigen sie ihr wahres Wesen und verharren in ihrem kleinlichen und egoistischen Denken.

 

»Im Gegensatz zu Nosso Lar, das eine spirituelle Gesellschaft ist, leben in der Schwellen-region Ballungen von Unseligen, Übeltätern und Herumtreibern aller Schattierungen. Es ist die Zone der Peiniger und Opfer, Ausbeuter und Ausgebeuteten. «

 

Beeindruckt nutzte ich die entstandene Pause und meinte:

 

»Wie lässt sich das erklären? Gibt es dort also keine Abwehr, keine Ordnung? «

 

Mein Gesprächspartner lächelte gütig und erklärte weiter:

 

»Ordnung ist eine Eigenschaft ordentlicher Geistwesen. Was willst du? Die erwähnten Niedrigen Sphären gleichen einem Haushalt, wo das Brot fehlt. Alle schreien zur gleichen Zeit und keiner ist im Recht. Oder sie erinnern an einen zerstreuten Reisenden, der seinen Zug verpasst hat, oder vielleicht an einen Bauern, der nicht sät und daher nichts ernten kann. Die Gewissheit kann ich Dir geben, dass es in der Schwellenregion trotz Schatten und Verzweiflung niemals am Göttlichen Schutz fehlt. Jedes Geistwesen bleibt nur so lange dort wie es notwendig ist. Das ist auch der Grund weshalb der Herr es gestattete, dass Kolonien wie unsere, die sich der Arbeit und der spirituellen Hilfeleistung widmen, errichtet wurden. «

 

»Ich glaube«, bemerkte ich, »dass sich diese Sphären nahezu mit den menschlichen Sphären vermengen. «

 

»So ist es, mein Freund. In dieser Zone breiten sich alle unsichtbaren Fäden aus, die den Geist der Menschen untereinander verbinden. In dieser Sphäre wimmelt es von Nichtinkarnierten und von Gedankenformen die von den Inkarnierten ausgesandt werden.

 

Denn in Wahrheit ist jedes Geistwesen, unabhängig vom Ort an dem es sich befindet, ein Sender von erschaffenden, verwandelnden oder zerstörerischen Kräften. Es sind Schwingungen, die die heutige Wissenschaft noch nicht verstehen kann. Jeder Denkende sendet Positives oder Negatives aus. Folglich kann er entweder etwas aufbauen, oder er kann etwas zerstören. Da jede Seele wie ein mächtiger Magnet wirkt, zieht der Mensch durch seine Gedanken jene Geistwesen der Schwellenregion an, die auf der gleichen Gedankenwelle sind und gleiche Neigungen haben wie er. Um es ganz klar auszudrücken: Unmittelbar bei der inkarnierten Menschheit steht ein ganzes Heer von unsichtbaren Geistwesen. Selbstlose Geschwister des Ministeriums für Hilfeleistung setzen sich beispiellos in der Schwellenregion ein und leisten Schwerstarbeit. Man kann es mit der Arbeit der Feuerwehr in den großen irdischen Städten vergleichen, wenn die Löscharbeiten von hohen Flammen und Rauch erschwert werden. Die Aufgabe dieser spirituellen Missionare in der Schwellenregion ist nicht minder erschwert. Sie sind ständig den dichten negativen Gedankenenergien ausgesetzt, die Millionen von verwirrten, bösen oder durch die Wiedergutmachungsarbeit geprüfte Geistwesen unablässig aussenden. Es braucht sehr viel Mut und Verzichtbereitschaft, um denjenigen helfen zu wollen, die keine Bereitschaft zeigen, die dargebotene Hilfe anzunehmen, weil sie sie nicht begreifen können. «

 

Lísias unterbrach das Gespräch. »Ach, wie gerne würde ich bei diesen Legionen von Unglücklichen arbeiten und ihnen das aufklärende, geistige Brot näher bringen«, sagte ich zu ihm.

 

Mein Freund, der Pfleger schaute mich gütig an. Er überlegte und nach einiger Zeit sagte er nachdenklich:

 

»Fühlst Du Dich denn genügend vorbereitet, eine solche Aufgabe zu übernehmen? «

 

 

 

(13)

 

IM ARBEITSZIMMER DES MINISTERS

 

 

Da sich mein Zustand stetig verbesserte, nahm mein Bedürfnis nach Bewegung zu. Und vor allem danach, wieder eine Tätigkeit auszuüben.

 

Nach der langen Zeit, den vielen Jahren, in denen ich schwere innere Kämpfe ausgetragen hatte, kehrte jetzt mein Interesse an einer Beschäftigung zurück. Ich wollte wie jeder normale Mensch auf der Welt meinen Tag nützlich verbringen.

 

Es war nicht zu leugnen, dass ich auf der Erde ausgezeichnete Gelegenheiten verpasst hatte und meinen Weg mit Irrtümern gepflastert hatte. Ich dachte jetzt an die fünfzehn Jahre zurück, die ich in der Klinik verbrachte undeine gewisse Leere stieg in mir auf. Ich fühlte mich in die Lage eines kräftigen Bauern versetzt, der hinaus geht um sein Feld zu bestellen und der plötzlich bemerkt, dass seine Hände gebunden sind und er trotz seines Willens nicht arbeiten kann. Genau so erging es mir. Ich befand mich inmitten vieler Kranker, dennoch durfte ich mich ihnen nicht nähern oder ihnen helfen, so wie ich es auf Erden tat, als ich der Freund, der Arzt und der Forscher war.

 

Ich hörte ständiges Stöhnen aus den benachbarten Zimmern und obschon ich den Wunsch hatte, in dringenden Fällen eingreifen zu können, wurde es mir weder als Pfleger noch als Mitarbeiter des Hauses gestattet. Ich muss zugeben, dass mein Wissen gegenüber dem der spirituellen Ärzte eher bescheiden war. Sie waren gewohnt, andere, mir nicht vertraute Techniken, anzuwenden. Aus diesem Grund wagte ich es nicht, ihnen meine Hilfe anzubieten. Während meiner Zeit auf der Erde wusste ich, dass meine Ausbildung und mein erworbenes Fachwissen mich berechtigten, einzugreifen. Hier aber wird die Medizin der Herzen angewandt und drückt sich in Liebe und brüderlicher Zuwendung aus.

 

Ein einfacher Pfleger in Nosso Lar besaß bei weitem bessere Kenntnisse als ich und hatte größere Möglichkeiten sich nützlich zu machen. So war jeder Versuch, ungefragt zu arbeiten, nicht nur undurchführbar, sondern auch unhöflich, da ein solches Handeln bedeutete, dass ich mich in fremdes Gebiet einmischte.

 

In solchen heiklen Augenblicken war Lísias der richtige Freund, dem ich mich unterdessen wie einem Bruder anvertrauen konnte. Darauf angesprochen, riet er mir:

 

»Warum suchst Du nicht Clarêncio auf. Bitte ihn um seinen Rat, sicherlich kann er Dir behilflich sein. Da er immer nach Dir fragt, wird er sicher alles unternehmen um Dir zu helfen. «

 

Das machte mir Mut. So beschloss ich, Clarêncio im Ministerium für Hilfeleistung zu besuchen. Dort angekommen, wurde mir gesagt, dass der gütige Wohltäter mich erst am nächsten Morgen in seinem Arbeitszimmer empfangen könne. Ungeduldig wartete ich auf den für mich so wichtigen Augenblick. Am nächsten Tag in der Frühe suchte ich den mir genannten Ort auf. Und welche Überraschung! Vor mir warteten bereits drei Personen auf Clarêncio, die sich in der gleichen Lage wie ich befanden. Der zuvorkommende Minister für Hilfeleistung war sehr viel früher als wir dort eingetroffen. Er hatte noch wichtigere Dinge zu erledigen, als Besucher zu empfangen und Bittschriften entgegen zu nehmen. Nachdem er die dringlichen Fälle bearbeitet hatte, empfing er gleichzeitig zwei der Wartenden. Diese Art des Empfangs beeindruckte mich.

 

Nachträglich erfuhr ich, dass er diese Methode für sinnvoll hielt, weil er auf Bedürfnisse beider Besucher eingehen konnte, und die erteilten Ratschläge den Hilfesuchenden gleichermaßen von Nutzen sein konnten. Auf diese Weise sparte er Zeit. Nach einigen Minuten war ich an der Reihe. Zusammen mit einer Frau, die zuerst angehört werden sollte, betrat ich das Arbeitszimmer. Der Minister begrüßte uns freundlich. Er überließ es uns, wer zuerst beginnen wollte.

 

Die ältere Frau fing an zu sprechen:

 

»Edler Clarêncio«, begann die unbekannte Frau, »ich möchte Sie bitten ein gutes Wort für meine beiden Söhne einzulegen. Ach, ich ertrage diese schreckliche Sehnsucht nicht länger. Es wurde mir gesagt, dass sie erschöpft sind weil auf der Erde so viel Unglück über sie einbricht. Ich weiß, dass Gottes Bestimmungen gerecht und wohlgemeint sind. Aber ich bin eine Mutter und der Kummer erdrückt mich. «

 

Die arme Frau begann bitterlich zu weinen. Der Minister blickte sie mitfühlend an. Er sprach wohlwollend zu ihr:

 

»Wenn also die Schwester erkennt, dass Gottes Bestimmungen gerecht und heilig sind: Was kann ich dann für Dich tun? «

 

»Ich wollte Sie bitten«, erwiderte sie betrübt, »dass Sie es mir ermöglichen, meine Söhne auf der Erde persönlich beschützen zu dürfen. «

 

»Meine Freundin«, sprach der liebenswerte Wohltäter, »nur wenn unser Geist sich in Demut übt und Bereitschaft zur Arbeit zeigt, ist es uns möglich, jemanden zu beschützen. Was würdest Du über einen irdischen Vater sagen, der zwar seinen Kindern helfen will, sich aber bequem zu Hause niederlässt und die Hände in den Schoß legt?

 

Das Gesetz der Arbeit und der Zusammenarbeit ist von Gott erschaffen. Niemand kann es umgehen, ohne sich selbst zu schaden. Sagt Dir Dein Gewissen nichts darüber? Wie viele Bonusstunden kannst Du vorweisen, die Deine Forderung rechtfertigen? «

 

Zögernd erwiderte die Angesprochene:

 

»Dreihundertundvier Bonusstunden.«

 

Clarêncio meinte wohlwollend.

 

»Wenn man bedenkt, dass Du schon länger als sechs Jahre hier bist, ist es traurig, dass Du bis heute nur dreihundertundvier Stunden für die Kolonie gearbeitet hast. Nachdem Du Dich von den leidvollen Zeiten in der Niedrigeren Zone erholt hattest, bot ich Dir die Möglichkeit eine ehrbare Tätigkeit in der Aufsichts- oder Überwachungsgruppe des Ministeriums für Kommunikation zu übernehmen. «

 

»Aber«, unterbrach sie, »das war eine unerträgliche Arbeit. Immer dieser Kampf gegen böse Geistwesen. Es ist doch sicherlich verständlich, dass ich mich nicht anpassen konnte.«

 

Clarêncio ging nicht darauf ein und sprach weiter. »Danach habe ich Dich in der Gemeinschaft der Duldsamen Brüder untergebracht, um an den Arbeiten der Erneuerung der Patienten mitzuhelfen. «

 

»Das war noch schlimmer«, sagte sie. »Die Räume sind gefüllt mit schmutzigen Leuten. Es gab nur Schimpfwörter, Schamlosigkeit, Elend. «

 

»Weil ich Deine Schwierigkeiten kenne«, erklärte der Minister, »habe ich Dich in die Krankenstation versetzt, damit Du bei der Pflege verwirrter Geistwesen mithelfen kannst. «

 

»Wer kann die ertragen? Nur Heilige! «, erwiderte die störrische Bittstellerin.

 

»Ich habe mein Mögliches getan, aber diese riesige Menge von entgleisten Seelen erschreckt jeden. «

 

»Meine Bemühungen sind noch weiter gegangen«, bemerkte der Wohltäter ganz ruhig. »Ich brachte Dich im Untersuchungs- und Forschungskabinett des Ministeriums für Aufklärung unter. Womöglich haben Dich meine Anordnungen geärgert, und deshalb hast Du Dich dann absichtlich in die Erholungszonen zurückgezogen. «

 

»Auch dort war es unmöglich zu bleiben«, sagte sie frech. »Ich habe nichts anderes als Mühsal erfahren, wurde seltsamen Energien ausgesetzt und habe strenge Vorgesetzte gehabt. «

 

Bedenke dies, liebe Freundin«, sagte der ergebene und verlässliche Berater.

 

»Arbeit und Demut sind die Wege, die zur Hilfeleistung führen. Um jemandem helfen zu können, sind wir auf Brüder angewiesen, die uns als Freunde, Beschützer und Mitarbeiter zur Seite stehen. Bevor wir unseren Liebsten helfen können, muss das Gefühl der Sympathie wachsen, denn ohne die Mithilfe aller ist eine wirkungsvolle Hilfe nicht möglich. Der Bauer, der seinen Acker bestellt, erhält den Dank von denjenigen, die seine Früchte genießen. Der Arbeiter, der seinem strengen Vorgesetzten Verständnis entgegenbringt Und seine Anordnungen willig ausführt, ist die stützende Hand in der vom Herrn vorgesehenen Familie. Und um noch eine weitere Parabel zu benutzen: Durch hilfreiche Arbeit gewinnt der gehorsame Diener die Sympathie seines Vorgesetzten, seiner Gefährten und anderer, am Helfen interessierter Wesen. Auch der sich einsetzende Fürsprecher kann seinen Lieben nicht von Nutzen sein, wenn er nicht fähig ist, mit Würde zu dienen und zu gehorchen. Ob gekränkt oder Schwierigkeiten erleidend, muss sich jeder bewusst sein, dass wir vor allem Gott dienen.«

 

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Was willst Du auf Erden machen, wenn Du noch nicht im Stande bist, irgendetwas zu ertragen? Du hast es bis jetzt noch nicht gelernt. Ich zweifle nicht, dass Du Deinen Söhnen eine fürsorgliche Mutter warst. Erwäge aber die Möglichkeit, dass Du ihnen als gelähmte Mutter erscheinen müsstest und es Dir schwer fallen wird, ihnen richtig helfen zu können. Damit einem von uns die Freude gewährt wird, unseren Lieben helfen zu können, bedarf es der Fürsprache derjenigen, denen wir geholfen haben. Denjenigen, die ihre Mitarbeit verweigern, wird keine Unterstützung gewährt. So ist das Ewige Gesetz und wenn meine Schwester bis jetzt für sich nichts erworben hat was sie weitergeben kann, steht es ihr nicht zu, andere aufzusuchen, die ihr liebevoll helfen. Wie soll man auf unerlässliche Hilfe hoffen, wenn noch nichts gesät wurde, nicht einmal das Einfachste, nämlich Sympathie? Geh zurück zu den Erholungszonen, in die Du Dich in letzter Zeit zurückgezogen hast und denke nach. Später werden wir Deine Bitte erneut sorgfältig prüfen. «

 

Die bedrückte Mutter nahm Platz und trocknete ihre reichlich fließenden Tränen.

 

Der Minister sah mich mitfühlend an, und sagte:

 

»Mein Freund, komm näher! «

 

Zögerlich stand ich auf, um mit ihm zu sprechen.

 

 

 

(14)

 

CLARÊNCIOS AUSFÜHRUNGEN

 

 

Mein Herz raste, und ich fühlte mich wie ein verwirrter Schüler, der sich einer strengen Prüfungskommission stellen muss. Ich betrachtete die weinende Frau und die ruhige aber bestimmte Art des Ministers und plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob ich richtig daran getan hatte, ihn um diese Unterredung zu bitten. Vielleicht wäre es besser, jetzt zu schweigen und geduldig auf Anordnungen „von Oben" zu warten? War meine Bitte, mich als Arzt in dem Krankenhaus praktizieren zu lassen, worin ich selbst noch Patient bin, nicht anmaßend? Clarêncios offenes Gespräch mit der Frau veranlasste mich, meine Beweggründe nochmals zu überdenken. Am liebsten hätte ich mich in mein Zimmerzurückgezogen und auf den gestern noch gehegten Wunsch verzichtet. Doch nun war es zu spät.

 

Der Minister für Hilfeleistung, als ob er meine innersten Absichten erraten hätte, sagte mit fester Stimme zu mir. »Ich bin bereit, Dich anzuhören. « Ich zauderte und dennoch wollte ich ihn, rein gefühlsmäßig, bitten mir zu erlauben, eine ärztliche Tätigkeit in der Kolonie auszuüben. Doch dann schaltete sich mein Gewissen ein und mahnte: Warum denn ausgerechnet diese Tätigkeit? Bestünde nicht die Möglichkeit, dass ich erneut die gleichen Fehler mache? Oder dass ich den Eitelkeiten eines Standes, in dem nur akademische Titel oder gesellschaftliche Stellung anerkannt werden, erneut verfalle? Diese Mahnung half mir, mein emotionales Gleichgewicht rechtzeitig zurück zu gewinnen.

 

Verlegen sprach ich:

 

»Ich bin heute hierher gekommen, um Sie zu bitten, mich wieder in einen Arbeitsprozess einzugliedern, da ich meine berufliche Tätigkeit sehr vermisse. Jetzt, wo mein Organismus Dank der großzügigen Hilfe und Behandlung, die ich in der Kolonie erhielt, wieder hergestellt ist, bin ich bereit, jede Art von Tätigkeit anzunehmen, wenn es mir nur hilft, dieser Untätigkeit zu entkommen.«

 

Clarêncio schaute mich lange an, als wolle er meine innersten Regungen entdecken.

 

»Ich verstehe. Du sagst, dass Du bereit bist irgendeine Arbeit anzunehmen. In Wirklichkeit aber vermisst Du all das was der Herr Dir auf Erden anvertraut hatte: Deine Patienten, Deine Praxis. «

 

Seine Worte des Trostes und der Hoffnung fielen auf fruchtbaren Boden und ich konnte ihm nur zustimmen. Er machte eine Pause und sprach dann weiter:

 

»Zu bedenken ist, dass der Vater uns manchmal mit seinem Vertrauen ehrt. Wir aber wissen das nicht zu schätzen und entwürdigen unseren Berufsstand. Als Student hattest Du es leicht; alles stand für Dich bereit. Deine Eltern übernahmen großzügig alle Ausgaben, und Du kanntest nicht einmal den Preis einer Deiner Bücher. Nach Deinem Universitätsabschluss und dem Doktorat hast Du es zu beträchtlichem Vermögen gebracht. Ganz im Gegensatz zu einem Arzt aus armen Verhältnissen, der seine Familie und Freunde um Hilfe bitten muss, um eine Praxis eröffnen zu können, musstest Du nicht dafür kämpfen. Der Erfolg ließ auch nicht lange auf sich warten. Diese schnelle und erfolgreiche Karriere hat zum vorzeitigen Tod Deines Körpers beigetragen. Jung und gesund hast Du in Deinem Beruf, zu dem Dich Jesus geführt hatte, viel Missbrauch getrieben. «

 

Er schaute mich bestimmt und dennoch gütig an. Ein merkwürdiges Gefühl überfiel mich, respektvoll wandte ich ein:

 

»Ich erkenne die Richtigkeit Ihrer Worte, dennoch würde ich gerne, wenn es möglich ist, mein Verschulden wieder gutmachen, indem ich mich auf ehrliche Weise den Patienten dieses Krankenhauses widme. «

 

»Ein edler Impuls«, sagte Clarêncio milde. »Wir sind uns einig, dass, wenn der Mensch auf Erden einen Beruf ergreift, er der Einladung seines Vaters folgt, den heiligen Tempel der Arbeit zu betreten. Hier bei uns bedeutet ein Diplom nichts weiter als ein Ausweis. Auf der Erde öffnet ein Diplom Tür und Tor für alle erdenklichen Torheiten. Anders ist es bei uns: Jeder, der einen solchen Ausweis bekommt, ist befähigt zu lernen und dem Herrn bei seiner Göttlichen Arbeit auf dem Planeten in Demut zu dienen. Dies gilt für alle Arten von Arbeit, ungeachtet in welcher Gesellschaftsschicht sie ausgeübt werden.

 

Mein Bruder, Du erhieltest den Ausweis eines Arztes, durftest in den heiligen Tempel der Medizin eintreten und doch hast Du die in Dich gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Es ist mir deshalb nicht gestattet Deiner Bitte zu entsprechen. Wie kann ich von heute auf morgen aus Dir einen Arzt für erkrankte Geistwesen machen, wenn Du Dich auf der Erde ausschließlich mit dem physischen Körper befasst hast. Ich leugne die Tatsache nicht, dass Du ein ausgezeichneter Physiologe warst, aber mit dem Leben ist doch viel mehr verbunden. Was würdest Du von einem Botaniker denken, der sich nur auf die Analyse einiger trockener Baumrinden beschränkt? «

 

»Viele Ärzte auf Erden beziehen nur den anatomischen Aspekt des Menschen in ihre mathematisch genauen Schlussfolgerungen ein. Obwohl wir darin übereinstimmen, dass die Mathematik eine ehrbare Wissenschaft ist, so ist sie doch nicht die einzige Wissenschaft im Universum. Erkennst Du jetzt, dass ein Arzt sich nicht mit der Erstellung von Diagnosen und Fachsimpelei begnügen darf, sondern dass er darüber hinaus Zugang zur Seele des Patienten haben soll, so dass er ihre Tiefen erkunden kann? Viele Mediziner sind Gefangene des akademischen Denkens und Handelns und ihre Eitelkeit gestattet es ihnen nicht, daraus auszubrechen. Nur sehr wenigen Menschen gelingt es, den Morast der niedrigen Interessen zu durchqueren und sich über die gängigen Vorschriften zu stellen. Wenn ihnen das doch gelingt, sind sie dem Spott der Welt und der Verachtung ihrer Kollegen ausgesetzt. «

 

Erstaunt musste ich zugeben, dass ich bis dahin keine Ahnung von der Tragweite der beruflichen Verantwortung hatte. Was mich am meisten verblüffte, war die Herabsetzung des Diploms auf eine Eintrittskarte, die uns Einlass zum Arbeitsfeld des Herrn gewährt, dank derer wir uns aktiv an seinen Arbeiten beteiligen können. Unfähig etwas zu sagen wartete ich, bis der Minister für Hilfeleistung den Faden wieder aufnahm und mit seinen Erläuterungen fortfuhr:

 

»Wie Du daraus schließen kannst, hast Du Dich nicht angemessen für eine Tätigkeit in dieser Kolonie vorbereitet. «

 

»Gütiger Wohltäter«, wagte ich zu erwidern, »ich verstehe die Belehrung und beuge mich den Tatsachen. «

 

Mit Mühe meine Tränen zurückhaltend, bat ich: »Ich nehme in Demut jede Art von Beschäftigung an, die diese Kolonie mir geben kann und die mir hilft, den Frieden zu finden. «

 

Sein liebevolles Gesicht mir zugewandt, antwortete er: »Mein Freund, es gibt nicht nur die bittere Wahrheit, sondern auch Worte der Ermutigung auszusprechen. Du kannst vorläufig noch nicht in Nosso Lar als Arzt arbeiten.

 

Aber Du wirst, wenn die Zeit reif ist, als Lernender antreten können. Deine Lage ist momentan nicht die beste, aber Dank der Fürsprachen, die im Ministerium für Hilfeleistung eintrafen, dürfte sich das ändern. «

 

»Von meiner Mutter? «, fragte ich voller Freude. »Ja«, sagte der Minister, »von Deiner Mutter und von Freunden, in deren Herzen Du den Samen der Sympathie gesät hattest. Gleich nach Deiner Ankunft bat ich das Ministerium für Aufklärung, mir Deine Zeugnisse zu beschaffen, die ich eingehend studierte. Ich stellte fest, dass es viele Unvorsichtigkeiten, zahlreiche Missbräuche und viel Unbesonnenheit in deinem Leben gab. Dennoch hast Du in deiner fünfzehnjährigen Arztpraxis mehr als sechstausend Bedürftigen unentgeltlich Rezepte ausgestellt. In den meisten Fällen hast Du Dich zu diesen verdienstvollen Taten nur aus einer Laune heraus verleiten lassen. Jetzt aber darfst Du erleben, dass gutes Tun, - auch wenn es nur einer Laune entspringt - immer Spuren hinterlässt. Fünfzehn dieser Begünstigten haben Dich nicht vergessen und schickten ihre bewegten Fürbitten hierher. Deshalb möchte ich festhalten, dass das Segensreiche, das Du diesen Menschen getan hast, jetzt für Dich spricht. «     universe-people.com

 

Seine überraschenden Ausführungen abschließend, sagte Clarêncio lächelnd:

 

»In Nosso Lar wirst Du Neues lernen und nachdem Du Nützliches erfahren hast, wirst Du wirkungsvoll mit uns arbeiten können, um Dich auf die unendliche Zukunft vorzubereiten. «

 

Ich war überglücklich und weinte zum ersten Mal aus Freude in dieser Kolonie.

 

Wer kann auf Erden eine solche Freude nachvollziehen? Manchmal ist es erforderlich, das Herz angesichts der Herrlichkeit der Göttlichen Stille zum Schweigen zu bringen.

 

 

 

(15)

 

MUTTERS BESUCH

 

 

Ich nahm Clarêncios Rat ernst und bemühte mich wieder zu Kräften zu kommen, damit ich meine Schulung fortsetzen konnte.

 

Früher hätten mich solch scheinbar raue Worte tief beleidigt, doch in der jetzigen Situation mahnten sie mich an meine damaligen Fehler und ich fand darin Trost. Während die Seele im irdischen Körper steckt, fällt sie in einen komaähnlichen Tiefschlaf, der auf die Einwirkung von grobstofflichem Fluidum zurückzuführen ist. Dieser Zustand ist auch der Grund, weshalb ich nunmehr erkannte, dass das irdische Dasein niemals als ein Spiel zu betrachten ist, sondern immer und unter allen Umständen ernst zu nehmen ist. Erst jetzt, als alle erhabenen Aspekte einer Inkarnation auf Erden mir offenbart worden waren, begriff ich derenWichtigkeit und dass mir bis dahin nichts davon bekannt war. Ich wurde mir der verpassten Gelegenheiten bewusst und sah nun ein, dass ich der Gastfreundschaft Nosso Lars nicht würdig war. Clarêncios Offenheit war mehr als nur gerechtfertigt.

 

Ich verbrachte viele Tage in tiefem Nachsinnen über das Leben. Innerlich aufgewühlt, hoffte ich auf ein Wiedersehen mit meiner irdischen Familie. Obwohl die Wohltäter des Ministeriums für Hilfeleistung mich äußerst großzügig behandelten - sie errieten gewissermaßen meine Gedanken - wagte ich es nicht, sie um diese neue Gunst zu bitten. Bis jetzt hatten sie sich noch nicht spontan darüber geäußert und vielleicht war es noch nicht an der Zeit, den Wunsch, meine Familie zu sehen, zu erfüllen. Ich schwieg und wartete ab. Lísias bemerkte meine Traurigkeit und versuchte mich aufzumuntern.

 

Ich durchlief eine Phase der innerlichen Zurückgezogenheit. Das ist der Moment, in dem der Mensch von seinem Gewissen aufgefordert wird, sich ihm zu stellen.

 

Eines Tages trat mein Betreuer in mein Zimmer und sagte strahlend:

 

»Errate wer gekommen ist, um Dich zu besuchen? « Lísias fröhliches Gesicht und seine glänzenden Augen liessen es mich natürlich sofort erraten:

 

»Es ist meine Mutter! «, antwortete ich freudig. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich, wie meine Mutter mit geöffneten Armen ins Zimmer kam.

 

»Sohn! Mein Sohn! Komm zu mir, mein Lieber! « Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben was in meinem Inneren vorging. Ich fühlte mich wieder wie ein Kind, wie damals als es regnete und ich barfuss im Sandkasten unseres Gartens spielte. Ich umarmte sie zärtlich, weinte vor Freude und durchlebte den ganzen Reigen des spirituellen Glücks. Ich küsste sie mehrmals und meine Tränen mischten sich mit den ihrigen. Ich weiß nicht wie lange wir uns so umarmt hielten. Schließlich war sie es, die mich aus dieser Euphorie herausholte. Sie sagte sanft:

 

»Mein Sohn, Du solltest Dich nicht so stark von Deinen Emotionen ergreifen lassen. Wenn die Freude uns zu stark übermannt, kann das für unser Herz schmerzhaft sein. «

 

Anstatt dass ich meine liebe alte Mutter umarmte, wie ich es während der letzten Zeit ihrer irdischen Wanderung tat, war nun sie es, die meine Tränen trocknete. Sie führte mich zur Couch und sagte:

 

»Du bist noch sehr schwach mein Sohn, vergeude Deine Kräfte nicht. «

 

Ich setzte mich neben sie. Sie nahm sorgfältig mein müdes Haupt in ihre Hände. Mich sanft streichelnd schwelgten wir gemeinsam in Erinnerungen. Als sie mich so tröstete fühlte ich mich als der glücklichste Mensch. Mein Gefühl sagte mir, dass mein mit Hoffnung gefülltes Boot im sicheren Hafen angekommen war.

 

Die mütterliche Anwesenheit brachte meinem Herzen unendlich viel Trost. Diese Augenblicke verbrachte ich wie in einem Traum voll unbeschreiblichen Glücks. Wie ein Kind versuchten meine Augen alles festzuhalten: Ihre Kleidung, eine vollkommene Kopie eines ihrer viel getragenen, dunklen Hauskleider, ihre wolligen Strümpfe, den blauen Schal. Ich betrachtete ihren kleinen Kopf, ihr Haar mit den schneeweißen Strähnen, ihr faltiges Gesicht, den sanften und ruhigen Blick, den sie noch immer hatte - ich war glücklich. Mit zitternden Händen streichelte ich ihre Hände, die ich so sehr liebte. Ich brachte kein Wort heraus. Sie aber, viel stärker als ich, sprach ruhig:

 

»Wir können Gott nie genügend dafür danken, dass er uns diese großzügige Gnade gewährt. Mein Sohn, der Vater vergisst uns nie. Wir waren so lange voneinander getrennt! Denke aber nicht, dass ich Dich vergessen habe.

 

Manchmal hält die Göttliche Vorsehung liebende Herzen für eine Weile getrennt, damit sie die Göttliche Liebe kennen lernen können. « Ihre Zärtlichkeit brach die noch nicht vernarbten, irdischen Wunden wieder auf. Ach, wie schwierig ist es, sich von irdischen Rückständen zu befreien! Schwer lasten die in Jahrhunderten angesammelten Unvollkommenheiten auf uns. Häufig gab mir Clarêncio den weisen Ratschlag, mich nicht dem Klagen hinzugeben. Auch Lísias machte mich freundlich darauf aufmerksam, aber die mütterliche Zuneigung riss alte Wunden wieder auf. Zuerst weinte ich aus Freude, dann, als ich mich voller Bitterkeit an das irdische Dasein erinnerte, aus Verzweiflung. Ich konnte nicht begreifen, dass der Besuch meiner Mutter als eine zusätzliche, wertvolle Gnade der Göttlichen Vorsehung geschehen war und nicht die Erfüllung meines eitlen Wunsches war. Ich steckte noch in alten Gewohnheiten und dachte fälschlicherweise, dass meine Mutter weiterhin die Anlaufstelle meiner endlosen Klagen und Leiden sein würde. Die Kinder der Erde betrachten ihre Mütter fast immer als ihre Bediensteten. Nur sehr wenige vermögen es, die Selbstlosigkeit ihrer Mütter noch vor deren Ableben zu verstehen. Auch ich, immer noch an althergebrachter Vorstellung festhaltend, begann mich bitterlich bei meiner Mutter auszuweinen. Sie hörte mir schweigend zu und ich merkte, dass sie unendlich traurig wurde. Mit Tränen in den Augen drückte sie mich an ihr Herz und sagte liebevoll:

 

«Ach Sohn, mir sind die Anweisungen Clarêncios be­kannt. Beklage Dich nicht, sondern lass uns dem Vater für den Segen dieser Wiedervereinigung danken. Wir befinden uns jetzt in einer anderen Art von Schule. Hier lernen wir Kinder des Herrn zu sein. Als ich noch Deine irdische Mutter war, gelang es mir nicht immer Dich richtig zu leiten. Seit ich hier bin, ar­beite auch ich an meinen Gefühlen. Deine Tränen führen mich zurück in die Landschaft menschlicher Emotionen. Einerseits möchte ich Dir Recht geben, Dich auf einen Thron heben, als wärest Du der beste Sohn im Universum. Ich spüre in meiner Seele, dass mich irgendetwas drängt mich wie früher zu verhal­ten. Andererseits entspricht dies in keiner Weise meinen neu erworbenen Lebenserkenntnissen. Auf der Erde mag dieses Verhalten verzeihlich sein, aber hier, mein Sohn, ist es unerlässlich, dass wir dem Herrn folgen. Weder bist Du der einzige Nichtinkarnierte, der seine eigenen Fehler wieder gutmachen muss, noch bin ich die einzige Mutter, die sich fern von ihren Liebsten fühlt. Bedenke, dass es unser Gang durch die Licht­pforte sein wird, der es unserem Geist ermöglichen wird, mehr Verständnis aufzubringen und menschlicher zu werden.

 

Tränen und Verwundungen sind Teil dieses begnadeten Prozesses, damit unsere erhabensten Gefühle sich entfalten können.«

 

Nach einer langen Pause, in der sich etwas in meinem tiefsten Bewusstsein regte, fuhr meine Mutter fort:

 

»Wenn uns die Gelegenheit gegeben wird, für kurze Augenblicke die Wärme der Liebe zu erleben, warum sollten wir diese Augenblicke vergeuden, indem wir in den Schatten der Klagen tauchen? Freuen wir uns, mein Sohn, und arbeiten wir weiter. Ändere Deine Denkweise! Es ist zwar schön, dass Du meiner Liebe vertraust, denn Deine Zuneigung macht mich unendlich glücklich. Aber ich kann von meinen neuen Erkenntnissen nicht abweichen. Von nun an soll unsere Liebe die tiefe, heilige, göttliche Liebe sein. «

 

Diese gesegneten Worte vermochten mich zu erwärmen. Ich fühlte, wie aus dem mütterlichen Herz kraftvolle Fluide ausströmten und mein Herz stärkten. Meine Mutter schaute mich beglückt an, ein wunderschönes Lächeln stand in ihrem milden Gesicht. Bedächtig stand ich auf und küsste sie auf die Stirn.

 

Sie erschien mir lieblicher und schöner denn je.

 

 

 

(16)

 

VERTRAULICHES GESPRÄCH

 

 

Die mütterliche Zuwendung war mir großer Trost und bewirkte, dass meine inneren Kräfte sich erneuerten.

 

Meine Mutter sprach von ihrem Engagement, als sei es ein wohltuender Ausgleich für all das Leiden und die Schwierigkeiten, die sie mit Fassung ertragen hatte und de­nen sie dennoch Freude abgewinnen konnte. Es gelang ihr sogar, die widrigsten Umstände in erhabene Lektionen zu verwandeln. Ich war von ungeahnter, unaussprechlicher Freude beseelt. Ihre Ausführungen richteten mich auf ganz besondere Weise auf. Ich fühlte mich anders, fröhlicher, vol­ler Mut und glücklich.

 

»Oh, meine Mutter«, sagte ich gerührt, »die Sphäre in der Du wohnst, muss wunderbar sein! Welch ein Glück, welch erhabene spirituelle Denkweise!«

 

Sie lächelte vielsagend und erwiderte: »Auf höheren Ebenen wird von uns größerer Einsatz und vermehrte Hingabe vorausgesetzt. Glaube nicht, dass Deine Mutter sich einem geruhsamen Leben hingibt, oder sich von den wahren Pflichten fern hält. Ich hoffe Du verstehst, dass ich mich nicht über meine Lage beklage. Damit möchte ich nur ausdrücken, dass ich mir meiner Verantwortung bewusst bin. Seit ich von der Erde zurück kam, arbeite ich sehr intensiv an unserer spirituellen Erneuerung.

 

Viele Wesenheiten klammern sich nach ihrem körperlichen Tod an ihren irdischen Familien fest. Sie rechtfertigen sich damit, dass sie die Hinterbliebenen immer noch zu sehr lieben und sie nicht loslassen können. Hier wurde ich belehrt, dass sich die wahre Liebe erst dann in eine Quelle von wahrem Segen verwandeln kann, wenn sie eine aktive Liebe ist. Seit meiner Ankunft bemühe ich mich, dass mir das Vorrecht gewährt wird, meinen Lieben helfen zu dürfen. «

 

»Und mein Vater«, fragte ich, »wo ist er? Warum hat er Dich nicht begleitet? «

 

Auf dem Gesicht meiner Mutter erschien ein sorgenvoller Ausdruck und sie sagte:

 

»Ach, Dein Vater..., seit zwölf Jahren hält er sich in einer sehr dichten Gegend der Schwellenregion auf. Als er noch auf der Erde lebte, war alles mehr Schein als Sein. Nach aussen ehrte er die Familie; zur Geschäftselite gehörend, verhielt er sich äusserst zuvorkommend und höflich. Um den Schein zu wahren besuchte er regelmäßig den Gottesdienst. In Wahrheit aber war er charakterlich ein schwacher Mensch, die sich erlaubte, außereheliche Beziehungen zu haben. Zwei von diesen Beziehungen waren mental mit einem weiten Netz von bösartigen Wesen verknüpft. Mein armer Laerte erlebte bei seinem Ableben einen herben Übergang in die Schwellenregion, denn diese unseligen Wesen, denen er Großes versprochen hatte, warteten ungeduldig auf ihn und hielten ihn erneut im Netz der Illusionen fest. Anfangs versuchte er sich zu wehren, strengte sich an, mich zu finden. Es fehlte ihm jedoch die Erkenntnis, dass nach dem Tod des Körpers die Seele in dem Zustand verbleibt, in dem sie gelebt hat. Deshalb war es meinem Laerte nicht möglich, meine geistige Anwesenheit wahrzunehmen. Er bemerkte ebenfalls nicht, dass auch andere enge Freunde sich liebevoll um ihn kümmerten. Auf Erden hatte er sich zu lange den Illusionen hingegeben, hat den spirituellen Aspekt seines Wesens nicht beachtet. In Folge dessen schränkte sich sein Schwingungsfeld sehr ein, und nach dem Tod seines physischen Körpers sah er sich in der Gesellschaft der Wesenheiten wieder, mit denen er sich damals aus Fahrlässigkeit mental und gefühlsmäßig einliess. Für eine gewisse Zeit gelang es ihm, die Familienprinzipien und seine Liebe zu uns in seinem Bewusstsein wach zuhalten.

 

Er kämpfte und konnte den Versuchungen widerstehen, dennoch fehlte ihm die Kraft seine Gedanken auf das Gute auszurichten und er wurde wieder von den Schatten eingeholt. «

 

Ich war entsetzt und fragte nach: »Ist es nicht möglich, ihn von diesem scheußlichen Zustand zu befreien? «

 

»Mein Sohn«, erklärte mir meine Mutter, »ich besuche ihn öfters, er kann mich noch nicht wahrnehmen zumal er sich in einer dichteren Schwingungsebene aufhält. Dennoch versuche ich ihn gedanklich dazu zu bringen, sich neu auszurichten und auf den Weg des Guten zu begeben. Zuweilen gelingt es mir, dass er einige Tränen der Reue vergießt, aber leider bleibt es dabei. Denn diesen unglückseligen Wesenheiten, mit denen er verkettet bleibt, gelingt es immer wieder, ihn meinem guten Einfluss zu entziehen. Seit vielen Jahren setze ich mich sehr intensiv für ihn ein. Ich bat meine Freunde, die in fünf verschiedenen, höheren, spirituellen Organisationen tätig sind, einschließlich unserer Kolonie Nosso Lar, mich dabei zu unterstützten. Einmal ist es Clarêncio beinahe gelungen, ihn zu bewegen, ins Ministerium für Erneuerung mitzukommen, aber es war vergebens. Es ist wie bei einer Petroleumlampe, die ohne das notwendige Öl und Docht kein Licht geben kann. Laerte muss sich mental öffnen; nur so können wir ihn auffangen und ihn einer neuen geistigen Sicht näher bringen. Leider verharrt er in Passivität und pendelt zwischen Gleichgültigkeit und Rebellion. «

 

Nach einer langen Pause seufzte sie und sprach weiter:

 

»Vermutlich weißt Du es noch nicht, aber Deine Schwestern Clara und Priscila befinden sich ebenfalls in der Schwellenregion und sind immer noch sehr stark mit der Erde verbunden. Von mir wird erwartet, dass ich auf die Bedürfnisse aller eingehe. Bislang konnte ich nur auf die liebevolle Mitwirkung Deiner Schwester Luisa zählen. Sie ist hierher gekommen, als Du noch klein warst. Sie musste lange auf mich warten. Es dauerte eine Weile bis ich kam. Von da an war sie bei meiner Aufgabe, der Familie auf Erden beizustehen, die starke, stützende Hand. Sie hat sich mit viel Mut für Deinen Vater, für Dich und Deine Schwestern eingesetzt. In Anbetracht der großen Verwirrungen, die in unserer Familie auf Erden herrscht, ist sie letzte Woche dorthin zurückgegangen, um in der Familie wiedergeboren zu werden. Eine heroische, erhabene Tat der Selbstlosigkeit. Ich hoffe, Du erholst Dich schnell, damit wir gemeinsam für das Gute arbeiten können. «

 

Die Informationen über meinen Vater überraschten mich. Von welchem Kampf war hier die Rede? War er denn nicht ein ehrlich praktizierender Katholik, empfing er nicht jeden Sonntag die Kommunion? Mutters Hingabe beeindruckte mich und ich fragte sie:

 

»Du hilfst Vater trotz seiner Beziehungen zu diesen boshaften Frauen? «

 

»Nenne sie nicht so«, gab sie zu bedenken, »nenne sie eher unsere kranken, unwissenden oder unseligen Schwestern. Sie sind ebenfalls Töchter unseres Vaters. Ich bitte nicht nur für Laerte, sondern auch für sie und ich bin überzeugt, dass ich den Weg gefunden habe, wie ich sie liebevoll zu mir holen kann. «

 

Diese großartige, selbstlose Geste erstaunte mich. Ich musste unmittelbar an meine eigene Familie denken und fühlte, wie ich immer noch an meiner Frau und an meinen lieben Kindern hing. Gegenüber Clarêncio und Lísias versuchte ich immer meine Gefühle zu unterdrücken und meine Fragen herunterzuschlucken, aber das Vorbild meiner Mutter gab mir Mut. Irgendwie spürte ich, dass meine Mutter nicht sehr lange an meiner Seite bleiben würde. Deshalb nutzte ich die schnell vergehende Zeit und fragte:

 

«Du hast Vater voller Hingabe begleitet. Was weißt Du über Zélia und die Kinder? Ich warte voller Freude auf die Gelegenheit zu ihnen zu gehen und ihnen helfen zu können.

 

Sie haben sicher auch Sehnsucht nach mir, wie ich nach ihnen! Wie qualvoll muss diese Trennung für meine Frau sein! «

 

Meine Mutter lächelte traurig und meinte: «Ich habe meine Enkelkinder regelmäßig besucht. Es geht ihnen gut. « Sie überlegte kurz und fügte hinzu: «Du sollst Dir keine Sorge machen, wie Du Deiner Familie helfen könntest. Damit wir erfolgreich sein können, musst Du Dich zuerst vorbereiten. Es gibt Angelegenheiten, die wir in Gedanken dem Herrn übergeben sollten, bevor wir uns an die Lösungen, die sie erfordern, heranmachen. «

 

Ich wollte darauf bestehen und noch mehr Einzelheiten erfahren, aber meine Mutter ging nicht darauf ein und wich feinfühlig aus. Wir unterhielten uns noch für eine längere Zeit, was für mich eine Wohltat war. Als sie sich verabschiedete bat ich darum, sie begleiten zu dürfen, weil ich neugierig war, zu erfahren, wie sie lebte. Sie liebkoste mich und sagte zu mir:

 

«Nein, mein Sohn, Du kannst nicht mitkommen. Ich werde dringend im Ministerium für Kommunikation erwartet, wo ich für meine Reinkarnation auf der Erde vorbereitet werde. Abgesehen davon, muss ich noch beim Minister Célio vorsprechen. Ich möchte mich bei ihm bedanken, dass er unser Beisammensein ermöglichte. «

 

In meiner Seele ein Gefühl tiefer Glückseligkeit hinterlassend, küsste sie mich und ging fort.

 

 

 

(17)

 

IM HAUS VON LÍSIAS

 

 

Es waren seit dem Besuch meiner Mutter erst einige Tage vergangen, als Lísias mich im Auftrag Clarêncios abholte. Überrascht folgte ich ihm. Clarêncio, mein großzügiger Wohltäter, empfing mich sehr herzlich. Erfreut wartete ich auf seine Anweisungen.

 

»Mein Freund«, sagte er freundlich, »von nun an bist Du befugt, Dich mit den verschiedenen Sektoren unserer Dienste - Ausnahme bilden die höher gestellten Ministerien vertraut zu machen. Laut dem Assistenzarzt Henrique de Luna, ist Deine Behandlung seit letzter Woche abgeschlossen. Jetzt ist für Dich die Zeit angebrochen, zu beobachten und zu lernen. «

 

Ich schaute Lísias an. Außer mir vor Freude, wollte ich, dass er wie ein Bruder an diesem Augenblick desunbeschreiblichen Glücks teilnahm. Mein Pfleger erwiderte strahlend meinen Blick. Ein neuer Lebensabschnitt begann, was bedeutete, dass ich neben der neuen Beschäftigung auch noch verschiedene Schulen besuchen konnte. Clarêncio, der mein grosses Glück zu ahnen schien, erklärte:

 

»Weil Du das Krankenhaus verlassen kannst, werde ich eine neue Unterkunft in einer anderen Umgebung für Dich suchen. Ich werde mich deshalb mit einigen unserer Institutionen in Verbindung setzen. «

 

Lísias unterbrach ihn und wandte ein: »Wenn es möglich ist, hätte ich ihn gerne bei uns Zuhause aufgenommen, er könnte bis zum Ende seiner Beschäftigung bleiben. Meine Mutter wird ihn wie ihren eigenen Sohn aufnehmen. «

 

Ich warf meinem Betreuer einen dankbaren Blick zu. Clarêncio nickte zustimmend und meinte:

 

»Sehr gut Lísias! Immer wenn wir einem Freund des Herzens Aufnahme gewähren, freut es Jesus. «

 

Meine Dankbarkeit und Anerkennung gegenüber meinem hilfsbereiten Pfleger vermochte ich nur mit einer Umarmung auszudrücken, denn mir steckten die Worte in der Kehle fest. Der aufmerksame Minister für Hilfeleistung übergab mir einen Passierschein und sagte:

 

»Nimm und bewahre ihn gut auf, denn er wird Dir für ein Jahr lang Zutritt zu den Ministerien für Erneuerung, für Hilfeleistung, für Kommunikation und für Aufklärung gewähren. Nach Ablauf dieser Zeit werden wir sehen, was wir unternehmen können, um Deinen Wünschen, wenn möglich, entsprechen zu können.«

 

»Lerne viel«, riet er mir, »vergeude Deine Zeit nicht, denn die Zeit nach dem physischen Dasein soll gut genutzt werden.«

 

Lísias nahm mich am Arm und gemeinsam gingen wir ins Freie. Ich war überglücklich. Nach einigen Minuten waren wir am Eingang eines anmutigen, von einem farbenprächtigen Garten umgebenen Gebäudes angekommen.

 

»Hier ist es!«, sagte mein Begleiter. Mit einem liebevollen Lächeln fügte er hinzu:

 

»Dies ist unser Heim innerhalb der Kolonie Nosso Lar.«

 

Die Hausklingel ertönte gedämpft und sogleich erschien eine sympathische Frau an der Tür.

 

»Mutter, Mutter!«, rief er und stellte mich ihr vor: «Das ist der Gefährte, den ich versprochen hatte Dir vorzustellen.«

 

»Sei willkommen, Freund!«, sagte sie anmutig. »Das ist Dein Haus.« Sie umarmte mich und sagte:

 

»Ich habe erfahren, dass Deine Mutter nicht hier wohnt. Ich nehme Dich wie eine Schwester auf, aber umsorgen werde ich Dich dennoch wie eine Mutter.«

 

Ich versuchte die richtigen Worte zu finden, um mich für diese grosszügige Gastfreundschaft zu bedanken, aber wieder versagte ich. Als könne sie meine Gedanken erraten, sagte sie in einem Anflug von Heiterkeit:

 

»Hier ist es verboten von Dankbarkeit zu sprechen. Also bitte tue es nicht, das würde mich an die Floskeln, die auf der Erde so üblich sind, erinnern.« Wir mussten alle lachen. Gerührt erwiderte ich:

 

»Möge der Herr Euch meine Dankbarkeit als segensreichen Frieden und Freude zukommen lassen.«

 

Wir gingen hinein. Drinnen war es einfach, aber gemütlich eingerichtet. Die Möbel sahen denen auf Erden ähnlich. Zu sehen waren eine Reihe von kleineren Gegenständen und Gemälden, welche spirituelle Erhabenheit ausdrückten. Neben einem beachtlichen Flügel ruhte eine große, fein und edel geschnitzte Harfe. Lísias, dem meine Neugierde aufgefallen war, sagte heiter:

 

»Seit Deiner Rückkehr aus der Totengruft hast Du sicherlich noch keinen Harfe spielenden Engel angetroffen, stimmt es? Wir können aber diese Harfe nehmen und selbst darauf spielen.«

 

»Lísias«, schaltete sich seine Mutter liebevoll ein, »sei nicht ironisch. Anlässlich des Besuches einiger Botschafter aus höheren Sphären im letzten Jahr empfing das Ministerium der Göttlichen Vereinigung die Mitarbeiter des Ministeriums der Erhöhung. Weiß du noch? Damals...«

 

»Ja Mutter, ich erinnere mich. Ich wollte damit sagen, dass es Harfenspiele gibt, und dass wir, um sie hören zu können, lernen müssen mit dem Geist zu hören. In göttlichen Sachen gibt es noch vieles zu lernen. «

 

Nach der üblichen Vorstellungszeremonie, erfuhr ich, als ich über meine Herkunft sprach, dass Lísias Familie in einer ehemaligen Stadt im Staate Rio de Janeiro gelebt hatte. Dass seine Mutter Laura hieß und dass noch zwei Schwestern, Iolanda und Judite im Haus wohnten. In dieser Atmosphäre fühlte ich mich geborgen und wohl. Ich konnte meine Freude und Zufriedenheit kaum verbergen. Ergriffen erlebte ich diesen ersten Kontakt mit einer Familie der Kolonie, ihre Gastfreundschaft und ihre Zuneigung. Fragen über Fragen wurden mir gestellt. Iolanda zeigte mir wunderschöne Bücher und als die Gastgeberin mein Interesse bemerkte, meinte sie:

 

»In Sachen Literatur haben es die Bewohner von Nosso Lar leicht. Schriftsteller, die willentlich Schaden bringende Literatur verbreiten, werden sofort in die dichten Gegenden der Schwellenregion gebracht, denn ihnen kann hier nicht geholfen werden. Nicht einmal ein Aufenthalt im Ministerium für Erneuerung wird ihnen helfen können, solange sie in diesem Seelenzustand verharren. «

 

Lächelnd blätterte ich in den Büchern weiter und bewunderte die schönen und künstlerischen Fotos. Lísias zeigte mir dann die weiteren Räumlichkeiten des Hauses. Im Badezimmer blieb ich stehen und bewunderte die einfache und doch fortschrittliche Einrichtung. Ich staunte immer noch, als Frau Laura uns zum Gebet einlud. Schweigend nahmen wir am runden Tisch Platz. Ein großes Gerät wurde eingeschaltet und sanfte Musik ertönte, es war der Augenblick der Abendandacht. Im Hintergrund erschien wieder das wunderbare Bild, das ich zum ersten Mal am Regierungssitz gesehen hatte. Damals konnte ich mich nicht daran satt sehen. Ergriffen spürte ich, wie ein tiefes und geheimnisvolles Gefühl der Freude mich überkam. Dieses Gefühl steigerte sich, als aus der Ferne das Bild des blauen Herzens erstrahlte. Überwältigt spürte ich voller Demut, wie Dankbarkeit in meiner Seele emporstieg.

 

 

 

(18)

 

LIEBE - NAHRUNG DER SEELE

 

 

Als das Gebet zu Ende war, rief uns die Frau des Hauses zu Tisch. Sie servierte eine Kraft spendende Brühe und süß schmeckende Früchte. Überaus verwundert hörte ich, wie sie sagte:

 

» Letztendlich sind unsere Mahlzeiten hier viel angenehmer als auf Erden. Es gibt in der Kolonie Nosso Lar Haushalte, die sie fast vollständig auslassen. Hier in der Region des Ministeriums für Hilfeleistung ist es, angesichts der Schwerarbeit die wir zu leisten haben, noch nicht möglich, auf angereicherte Fluide zu verzichten. Der Energieverbrauch ist sehr hoch, weshalb es unerlässlich ist, die Kraftreserven zu erneuern. »Das heißt aber nicht«, wandte eine derjungen Frauen ein -, «dass nur wir, die in den Ministerien für Hilfeleistung und für Erneuerung tätig sind, vom Essen abhängig sind. Alle in den Ministerien, einschließlich des Ministeriums der Göttlichen Vereinigung, wo die Kost anders zusammengesetzt ist, müssen sich ernähren und können nicht darauf verzichten. In den Ministerien für Kommunikation und für Aufklärung werden Früchte in großen Mengen verzehrt. Im Ministerium der Erhöhung ist der Verbrauch von Säften und Konzentraten ebenfalls groß und im Ministerium der Göttlichen Vereinigung geschehen Ernährungsphänomene, die wir uns kaum vorstellen können. «

 

Mein fragender Blick wanderte von Lísias zu Frau Laura, da ich sofortige Erklärungen zu erhalten hoffte. Sie lächelten über mein Erstaunen, und meinem Wunsch entgegenkommend, klärten sie mich auf:

 

»Unser Bruder weiß es vielleicht noch nicht, aber die Liebe ist die wichtigste Nahrung der Geschöpfe. Jedes Ernährungssystem in den verschiedenen Sphären des Lebens beruht auf der Grundlage der Liebe. Von Zeit zu Zeit werden wir von Ausbildern besucht, die uns über spirituelle Ernährung unterweisen. Genau genommen, ist die physische Ernährung selbst hier lediglich eine materielle, vorübergehende Angelegenheit. So wie ein Fahrzeug auf der Erde Schmierfett und Öl benötigt, um zu funktionieren, benötigen auch wir Nahrung. Die Nahrung der Seele ist die Liebe. Je höher wir im Evolutionsprozess der Schöpfung aufsteigen, desto umfangreicher werden wir diese Wahrheit erkennen können. Meinst Du nicht auch, dass die Göttliche Liebe die Nahrung des Universums ist?« Solche Erläuterungen trösteten mich ungemein. Lísias der meine Zufriedenheit bemerkte, nickte und sprach:

 

»Alles gleicht sich in der unendlichen Liebe Gottes aus. Je höher entwickelt das Geschöpf ist, desto feiner wird die Art seiner Ernährung sein. Auf dem Planeten Erde ernährt sich der im Boden lebende Wurm ausschließlich von der Erde. Große Tiere finden in der Natur alles was sie zum Überleben benötigen, so wie die Mutterbrust dem Kind sein Überleben sichert. Der Mensch bearbeitet das Feld, bringt die Ernte ein und verarbeitet sie zu Produkten aller Art und Geschmacksrichtungen. Diese wiederum sind dann auf den jeweiligen Märkten zu haben und werden schließlich vom Konsumenten verzehrt. Wir, die wir nicht mehr in einem physischen Körper stecken, ernähren uns von fluidischen, nahrhaften Substanzen. Je höher der Einzelne in seiner geistigen Entwicklung steigt, desto feiner wird die Art seiner Ernährung. Wir dürfen nicht vergessen: Egal ob Wurm, Tier oder Mensch, sind wir alle letzten Endes vollständig von der Liebe abhängig. Es ist die Liebe, die uns in Bewegung setzt, ohne sie gäbe es uns nicht. «

 

»Das ist außergewöhnlich! «, musste ich bewegt zugeben.

 

»Erinnerst Du Dich nicht an das, was in den Evangelien steht? «, fuhr Lísias Mutter aufmerksam fort, »sie lehren uns, dass wir einander lieben sollen. Damit bezog sich Jesus nicht ausschließlich auf den Akt der Nächstenliebe, sondern auch darauf, dass wir früher oder später lernen müssen, dass es unsere Pflicht ist, Gutes zu tun. Er lehrte uns auch, dass wir brüderlich und freundlich miteinander umgehen sollen. Dass der inkarnierte Mensch später begreifen werde, dass ein freundliches Gespräch, eine liebevolle Geste, gegenseitiges Vertrauen, verständnisvoll zu sein und brüderliche Anteilnahme - Tugenden, die aus der allumfassende Liebe entspringen - eine solide Ernährung für das eigentliche Leben bilden.

 

Wenn wir auf der Erde wiedergeboren werden, erfahren wir große Einschränkungen. Kehren wir hierher zurück, erkennen wir, dass nur die spirituelle Nahrung uns eine beständige Freude geben kann. Familien, Dörfer, Städte und Nationen werden aufgrund solcher Grundlagen gebildet. «

 

Instinktiv musste ich an die Sexualitäts-Theorien denken, die in der Welt groß verbreitet sind. Aber noch bevor ich meine Gedanken fortsetzen konnte, sprach Frau Laura: »Niemand soll denken, dass Liebe nur ein sexuelles Erlebnis ist. Sexualität ist eine heilige Ausdrucksform der göttlichen und universellen Liebe, allerdings nur eine Facette des unendlichen Potentials. Für spirituell fortgeschrittene Ehepaare stehen Zuneigung und Vertrauen, gegenseitige Hingabe und Verständnis im Vordergrund. Für sie ist die physische Vereinigung ein Ereignis des Augenblicks. Der bestimmende Faktor aber, der zu einer harmonischen Beziehung führt, ist die gegenseitige magnetische Anziehungskraft. Gegenseitiges Verständnis und das Aufeinanderzugehen fördern das gemeinsame Glück. «

 

Nach einer Pause fügte Judite hinzu:

 

»In Nosso Lar lernen wir, dass das irdische Leben in der Liebe den ausgleichenden Pol findet, obwohl es von der Mehrheit der Menschen unbemerkt bleibt. Zwillingsseelen, Seelenverwandte kommen zusammen und bilden Paare und Familiengruppierungen. Wenn sie eine Verbindung eingehen und sich gegenseitig stützen, wird es ihnen gelingen ihre Wiedergutmachungssarbeit in einer harmonischen Atmosphäre durchzuführen. Wenn stattdessen die richtigen Gefährten fehlen, kommt es schon vor, dass der weniger Starke unterliegt und sein Reinkarnationsziel nicht erfüllen kann. «

 

»Wie Du, lieber Freund, feststellen kannst«, wandte Lísias freudig ein, »lohnt es sich auch hier, auf das Christus-Evangelium zurückzugreifen, insbesondere auf die Stelle, wo zu lesen ist:

 

»Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. « Bevor wir uns weiteren Betrachtungen hingeben konnten, ertönte die Hausklingel. Lísias stand auf und ging zur Tür. Zwei junge Männer traten ein. Lísias wandte sich zu mir und sagte:

 

»Das sind unsere Brüder Polidoro und Estäcio, unsere Arbeitskollegen im Ministerium für Aufklärung. « Fröhlich begrüßten und umarmten wir uns. Frau Laura lächelte zu uns hinüber und sagte:

 

»Ihr habt alle viel gearbeitet und wusstet den Tag gut zu nutzen. Auf uns müsst ihr keine Rücksicht nehmen, geht und amüsiert euch. Aber vergesst nicht, zum Musikplatz zu gehen. «

 

Lísias schien etwas nachdenklich zu sein, darum sagte seine Mutter zu ihm:

 

»Geh mein Sohn. Lass Lascínia nicht warten. André bleibt in meiner Obhut, bis er soweit ist, dass er Dich zu solchen geselligen Anlässen begleiten kann. «

 

»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorge«, wandte ich ein. Frau Laura lächelte freundlich und antwortete:

 

»Heute bin ich leider verhindert, Euch zum Musikplatz zu begleiten, denn unsere Enkelin hält sich bei uns auf. Sie ist erst vor einigen Tagen von der Erde zurückgekehrt und muss sich jetzt erholen. «

 

Voller Freude verließen alle das Haus. Die Frau des Hauses schloss die Tür, kam auf mich zu und erklärte zufrieden.

 

»Die Jungen begeben sich jetzt auf die Suche nach der Nahrung, die wir vorher erwähnt haben. Hier sind Liebesbeziehungen schöner und stärker. Die Liebe, mein Freund, ist für die Seele das göttliche Brot, die erlauchte Nahrung der Herzen. «

 

 

 

(19)

 

DIE NEUANGEKOMMENE

 

 

»Isst Ihre Enkelin nicht mit uns zusammen? « fragte ich Frau Laura.

 

»Vorläufig nimmt sie ihre Mahlzeiten in ihrem Zimmer ein«, erklärte sie mir, »die Arme ist immer noch nervlich angespannt und müde. Bei uns setzt sich niemand an den Tisch, der verstört oder vergrämt ist. Der Nervenkranke und Rastlose strömt schwere und giftige Fluide aus, die sich unweigerlich mit den Substanzen der Speisen vermischen. Unter unserer Aufsicht verbrachte meine Enkelin vierzehn Tage in der Schwellenregion in einem Dämmerzustand. Eigentlich hätte sie ins Krankenhaus gebracht werden sollen, aber wir konnten sie zu uns bringen, wo sie meiner Pflege unterstellt ist. «

 

Ich sagte, ich würde gerne die von der Erde neu Angekommene besuchen. Es wäre sicher interessant,sich mit ihr zu unterhalten. Wie lange war es her, seit ich Nachrichten von „drüben", unserer gemeinsamen Welt, hatte? Frau Laura ließ sich nicht zweimal bitten. Wir betraten ein großes, komfortables Zimmer, in dem sich eine junge Frau in einem sehr bequemen Sessel ausruhte. Sie sah sehr blass aus. Überrascht sah sie mich an.

 

»Eloisa«, erklärte Lísias Mutter und zeigte auf mich, »André ist unser Freund und Bruder, der kürzlich aus der irdischen Sphäre zurückgekehrt ist. «

 

Die Augen der jungen Frau lagen tief in den Höhlen und ihr teilnahmsloser Ausdruck zeigte, dass sie sich nur mühevoll konzentrieren konnte. Dennoch musterte sie mich neugierig. Ein zaghaftes Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. Ich stellte mich zuerst vor:

 

»Du musst müde sein«, sagte ich. Bevor sie antworten konnte, mischte sich Frau Laura ein, als wolle sie vermeiden, dass sich Eloisa überanstrengte:

 

»Eloisa fühlt sich unruhig und ängstlich, was verständlich ist. Sie ist immer noch von der Tuberkulose, an der sie lange litt, gezeichnet. Dennoch sollte sie die Zuversicht und den Mut nicht verlieren. «

 

Die junge Frau schaute uns mit ihren großen schwarzen Augen an und versuchte, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten, was ihr jedoch nicht gelang. Ihr Brustkorb hob und senkte sich und ihre Atmung wurde schneller. Ein Taschentuch vor das Gesicht haltend, versuchte sie das beklemmende Weinen zu unterdrücken.

 

»Du Dummerchen«, sagte Frau Laura voller Liebe zu ihr und umarmte sie, »Du musst Dich dagegen wehren. Deine Reaktionen sind eine Folge mangelhafter religiöser Erziehung, nichts mehr als das. Du weißt, dass es nicht lange dauern wird, bis Deine Mutter zu uns kommt. Du weißt auch, dass Du Dich nicht auf die Treue Deines Verlobten verlassen kannst, denn ihm fehlt die Reife, Dir auf der Erde geistig ergeben zu sein. Er ist noch weit davon entfernt, ein Geist zu sein, der von der Liebe erleuchtet ist. Es ist anzunehmen, dass er sich mit einer anderen Frau vermählen wird, daran wirst Du dich gewöhnen müssen. Es wäre auch nicht gerecht, von ihm eine plötzliche Rückkehr zu verlangen. « Mit einem mütterlichen Lächeln fuhr Frau Laura fort: »Nehmen wir an, er würde das irdische Leben vor dem Erreichen seiner Zeit verlassen und käme zurück. Wäre es für Dich nicht schmerzhafter? Müsstest Du nicht einen zu hohen Preis dafür bezahlen, dass Du Dich in diese Angelegenheit eingemischt hast? Dir werden die freundschaftliche, liebevolle und brüderliche Zuwendung nie fehlen. Sie werden Dir helfen, Dein Gleichgewicht wieder herzustellen. Liebst Du diesen Mann wirklich?

 

Dann versuche deine Gefühle in Einklang zu bringen, denn nur so kannst Du ihm später helfen. Abgesehen davon, wird es nicht lange dauern, und Deine Mutter wird hier sein. « Die weinende junge Frau tat mir wirklich leid. Um zu verhindern, dass ein neuer Weinkrampf sie überkam, versuchte ich der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben.

 

»Woher kommst Du Eloisa? «, fragte ich sie. Lísias Mutter, jetzt schweigsam, schien zu wünschen, dass sich ihre Enkelin aus ihrer Befangenheit lösen könnte. Nach einer Weile und nachdem sie ihre Augen trocknete, antwortete sie: »Aus Rio de Janeiro.«

 

»Aber weine doch nicht so«, sagte ich zu ihr, »Du kannst Dich glücklich schätzen, denn nach Deinem Ableben vor einigen Tagen, bist Du direkt hierher zu Deinen Verwandten gebracht worden. Auf Deiner großen Reise bliebest Du von heftigen Stürmen verschont. «

 

Es schien, dass sie sich erholte. Sie wurde ruhiger und sagte:

 

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich gelitten habe. Trotz der Behandlungen kämpfte ich acht Monate gegen die Tuberkulose an. Dazu kommt, dass ich meine liebe Mutter mit dieser Krankheit angesteckt habe, was mich sehr schmerzt. Auch mein Verlobter musste meinetwegen unsagbar leiden. «

 

»Sag das nicht«, meinte Frau Laura lächelnd. »Auf der Erde meint man immer, dass es keinen größeren Schmerz gibt, als den eigenen. Wir sind nur blind. Wir sehen nicht, dass es Millionen von Menschen gibt, die ein viel unseligeres Leid über sich ergehen lassen müssen, als wir es erlebten. « »Aber Großmutter! Arnaldo ist untröstlich, verzweifelt und das macht mich traurig«, antwortete sie verdrossen.

 

»Glaubst Du tatsächlich daran? «, fragte die Großmutter in einem liebevollen Tonfall.

 

»Ich beobachtete Deinen Verlobten während Deiner Krankheit. Dass er zusehen musste, wie Dein Körper allmählich zerfiel schmerzte ihn, was verständlich ist, angesichts seiner Unfähigkeit für die reine Liebe empfänglich zu sein. Deshalb versteht er dieses Gefühl auch nicht, denn die erleuchtete Liebe ist nicht jedermanns Sache. Er wird sich schnell trösten lassen, sei weiterhin zuversichtlich. Du wirst ihm zweifellos viele Male helfen können. Was aber die Ehe betrifft, wirst Du während Deines späteren Besuches auf der Erde feststellen können, dass er bereits eine andere geheiratet hat. «

 

Erstaunt, bemerkte ich, dass die unerwartete Erklärung Eloisa schmerzte. Angesichts der Ruhe und Vernunft der Großmutter wusste die Genesende nicht wie sie sich verhalten sollte.

 

»Ist das möglich? « Voller Zuneigung erklärte ihr Lísias Mutter:

 

»Sei nicht dickköpfig und versuche nicht mir zu widersprechen. « Die junge Frau lehnte sich gegen diese Behauptung auf; innerlich hatte sie eine Haltung angenommen, die ausdrückte, dass dies noch bewiesen werden müsse. Frau Laura sagte zärtlich zu ihr:

 

»Erinnerst Du Dich nicht mehr an Maria da Luz, die Freundin die Dir sonntags Blumen brachte? Also, dann höre zu: Als der Arzt ganz im Vertrauen erklärte, dass es keine Heilungsaussichten mehr für Deinen Körper gäbe, begann Arnaldo, obwohl er von der Mitteilung tief getroffen war, sich ihr gegenüber anders zu verhalten. Da Du jetzt hier bist, wird bei ihnen in Kürze eine Entscheidung fallen. « »Das ist ja schrecklich, Großmutter! « »Warum denn? Du musst Dich daran gewöhnen, dass andere auch Bedürfnisse haben. Dein Bräutigam ist ein ganz normaler Mensch. Er ist für die Schönheiten der geistigen Liebe noch nicht erwacht.

 

Du kannst von ihm keine Wunder erwarten, auch wenn Du ihn sehr liebst. Die Selbstentdeckung ist eine Arbeit, die jeder angehen muss. Arnaldo wird später die Schönheit Deines Idealismus verstehen können. Jetzt aber ist es notwendig, dass Du ihn loslässt, damit er seine eigenen Erfahrungen machen kann. «

 

»Ich kann mich damit nicht abfinden«, begehrte die junge Frau weinend auf.

 

»Ausgerechnet Maria da Luz, die ich für meine treueste Freundin hielt. «

 

Frau Laura sprach behutsam zu ihr: »Ist es denn nicht viel beruhigender zu wissen, dass er bei einem befreundeten Menschen gut aufgehoben ist? Maria da Luz wird immer Deine geistige Freundin sein. Anders wäre es bei einer Dir unbekannten Frau, die Dir später den Zutritt zu seinem Herzen möglicherweise erschweren könnte. «

 

Ich war aufrichtig überrascht. Eloisa schluchzte und ich war ebenfalls betroffen. Doch weil die gütige Frau sowohl mir, wie ihrer Enkelin Aufschluss geben wollte, sprach sie besonnen weiter:

 

»Meine Liebe, ich kenne den Grund für Dein Wehklagen. Er stammt aus dem tausend Jahre alten Egoismus und aus der menschlichen Eitelkeit, derer wir uns uneinsichtig hingeben. Jetzt spricht Deine Grossmutter zu Dir, nicht um Dich zu verletzen, sondern um Dich aufzuwecken.«

 

Eloisa weinte weiter. Sie brauchte Ruhe, deshalb führte mich Lísias Mutter ins Wohnzimmer. Wir nahmen Platz. In vertrautem Ton sagte sie zu mir:

 

»Meine Enkelin ist sehr erschöpft hier angekommen. Ihr Herz war zu sehr im Netz des Egoismus gefangen. Genau genommen hätte sie in einem unserer Krankenhäuser untergebracht werden sollen, doch der Assistent Couceiro meinte, sie sei in unserer liebevollen Obhut besser aufgehoben. Dies kann ich nur begrüßen, denn meine liebe Tochter Teresa, ihre Mutter, kommt nächstens zurück. Mit ein wenig Geduld werden wir die richtige Lösung finden. Es ist eine Frage der Zeit und der Gelassenheit.«

 

 

 

(20)

 

DER SINN DER FAMILIE

 

 

Ich wollte so viel wie möglich aus dem Gespräch mit Frau Laura lernen. Die lehrreichen Erläuterungen, die auf so eine natürliche Weise entstanden, hatten mich neugierig gemacht.

 

»Sie sind Zuhause sehr beschäftigt, trotzdem übernehmen Sie außer Haus zusätzliche Aufgaben. Warum? « »Es stimmt, dass wir in einer Übergangsstätte leben, jedoch ist die Kolonie Nosso Lar ein Ort, an dem gearbeitet und gelernt wird, denn das ist unsere Bestimmung. Bei uns übernehmen weibliche Seelen zahlreiche Verpflichtungen, die sie auf die Rückkehr auf den Planeten, oder aber den Aufstieg in höhere Sphären vorbereiten. «

 

»Aber gleicht die Zusammensetzung der Familien in Nosso Lar denn nicht der Familie auf Erden? «

 

Meine Gesprächspartnerin sah mich ernst an und antwortete:

 

»Die irdische Familie versucht seit langem unsere Institution „Familie" nachzuahmen. Auf der Erde sind, mit wenigen Ausnahmen, die meisten Ehepartner immer noch damit beschäftigt, ihre Gefühle vom Stachel der Eifersucht, des Egoismus und vom bitteren Unkraut der persönlichen Eitelkeiten zu befreien. Als ich das letzte Mal vom Planeten zurückkehrte, war ich noch geprägt von den Illusionen der Erde, was ja natürlich ist. Ich steckte gerade in einer Krise und mein Stolz war verletzt. Damals hielt ein Instrukteur des Ministeriums für Aufklärung einen Vortrag. Ich wurde dorthin gebracht und das Gehörte wirkte derart nachhaltig in meinem Geiste, dass sich in mir eine neue Denkweise zu entwickeln begann. «

 

Mein Interesse wuchs und ich fragte Frau Laura, ob sie über die erhaltene Unterweisung erzählen könne.

 

»Der Referent, in der Mathematik sehr bewandert, brachte uns bei, dass die Familie wie ein rechter Winkel ist, der auf dem Plan der Göttlichen Evolution eingezeichnet ist. Der senkrechte Schenkel steht für das weibliche Gefühl, das vom schöpferischen Leben inspiriert wird. Der waagrechte Schenkel hingegen steht für das männliche Gefühl. Dieses arbeitet an der Verwirklichung des allgemeinen Fortschritts. Der Scheitelpunkt steht für die Familie. Der Ausgangspunkt für Mann und Frau ist, Verständnis und Liebe gemeinsam anzustreben. Die Familie ist auch ein heiliger Tempel, in der die spirituelle über der körperlichen Verbindung stehen soll. Auf der Erde befassen sich neuerdings viele mit der Familie, suchen nach Maßnahmen und fordern, dass die Institution „Familie" wieder hergestellt wird. Andere behaupten die Familie sei gefährdet. Zu erwähnen ist aber, dass der Mensch den erhabenen Auftrag der Familiengründung erfüllt, wenn auch nur langsam. Wo ist in irdischen Kreisen die echte Familie zu finden, die wahrhaft harmonisch lebt, wo Rechte und Pflichten gleichmäßig verteilt sind? Die Mehrheit der irdischen Ehepaare verbringt die gesegneten Stunden des Tages entweder in einem Zustand der Gleichgültigkeit oder im Wahn des Egoismus. Wenn der Ehemann ruhig ist, bringt das die Ehefrau zur Verzweiflung. Bleibt die Ehefrau stumm und unterwürfig, wird sie von ihrem Gefährten tyrannisiert. Weder versucht die Gattin ihren Mann aufzumuntern, was zu ihren jetzigen Aufgaben gehört, noch bemüht sich der Ehemann, dem göttlichen Höhenflug der Zuneigung und den gefühlvollen Momenten seiner Frau zu folgen. Dies ist bedauerlich, denn es könnte sie beide zu höheren Ebenen der Schöpfung führen. Treten sie in der Öffentlichkeit auf, verstellen sie sich. In der Privatsphäre gehen sie nicht aufeinander ein. Während der eine in Gedanken auf eine lange Reise geht, spricht der andere über ein ihm vertrautes Thema.

 

Möchte die Ehefrau über die Kinder sprechen, zieht der Ehemann es vor, über Geschäftliches zu sprechen. Wenn der Gefährte mit seiner Gattin über seine Schwierigkeiten am Arbeitsplatz sprechen möchte, schweifen ihre Gedanken zurück ins Modegeschäft. Es ist doch offensichtlich, dass unter diesen Umständen, wenn sich zwei auseinandergehende Linien vergeblich bemühen den heiligen Scheitelpunkt zu bilden um eine weitere Stufe an der wunderbaren Treppe des ewigen Lebens zu bauen, der göttliche Winkel nicht korrekt gezeichnet wird. «

 

Diese Ansichten sprachen mich an. Höchst beeindruckt, bemerkte ich:

 

»Frau Laura, diese Erläuterungen regen zu gänzlich neuen Betrachtungen an. Hätten wir doch damals auf der Erde das alles bereits gewusst! «

 

»Ich spreche aus Erfahrung, mein Freund«, erwiderte sie, »der Mann und die Frau werden es durch Leiden und innere Kämpfe lernen. Vorläufig haben nur wenige erkannt, dass die Familie eine grundlegende göttliche Institution ist. Dass innerhalb der eigenen Wände das Leben aus ganzem Herzen und ganzer Seele zu leben ist. Wenn normale Menschen sich verloben, wandeln sie in der Verlobungszeit durch einen blühenden, bunten Garten. Ihre höchste geistige Ressource mobilisierend, zeigen sie sich von ihrer besten Seite und finden einander. Deshalb wird von Verliebten gesagt, sie seien schön. Liebe macht aus dem banalsten, oberflächlichsten Gespräch etwas Zauberhaftes. Mann und Frau treffen aufeinander in voller Blüte ihrer erhabenen Wesen. Sogleich nach dem feierlichen Eheversprechen reißt bei den meisten der Schleier der Leidenschaft und sie fallen in alte Gewohnheiten zurück, die die Gefühle der Herzen unterdrücken. Es werden keine gegenseitigen Zugeständnisse gemacht. Es gibt keine Toleranz und zeitweise nicht einmal Brüderlichkeit zwischen ihnen. Wenn unter den Eheleuten keine Freundschaft mehr herrscht und der Wunsch sich zu unterhalten versiegt, erlischt die strahlende Schönheit der Liebe. Es folgt, dass die Gesitteten sich gegenseitig achten. Die weniger Gesitteten aber können sich nicht ausstehen, sie verstehen sich nicht mehr. Dazu kommt, dass auf Fragen oder Antworten nur noch mit knapp formulierten Sätzen eingegangen wird. Auch wenn sie sich körperlich vereinen, gehen sie gedanklich getrennte Wege und leben in diametraler Richtung. «

 

»Das alles ist die reine Wahrheit«, fügte ich gerührt hinzu.

 

»Mein Freund, was soll man machen? In der jetzigen evolutiven Phase des Planeten ist die Vermählung zweier seelenverwandter Menschen sehr selten. Noch seltener ist die Ehe zwischen Menschen, die sich aufrichtig lieben. Die Reinkarnation auf der Erde bietet vielen Ehepaaren die Gelegenheit, gemeinsam ihre Verfehlungen wieder gut zu machen. Auffallend ist, dass die überwältigende Anzahl der Menschen wie in Zwangsehen leben. «

 

Lísias Mutter versuchte das Gespräch wieder dort aufzunehmen, wo sie aufgrund meiner Frage ihre Erläuterungen begonnen hatte.

 

»Weibliche Seelen dürfen hier nicht untätig sein. Sie müssen lernen, Mutter, Ehefrau, Missionarin und Schwester zu sein. Die Aufgabe der Frau in der Familie kann sich nicht auf sinnlose Tränen des Mitleides und etliche Jahre der Unterordnung beschränken. Es ist keine Frage, dass einige der mehr als fragwürdigen Aktionen des zeitgenössischen Feminismus unglückliche Auswüchse darstellen, die den wahren Aufgaben des weiblichen Geistes entgegengesetzt sind.

 

»Die Frau kann sich nicht gegen die Männerwelt durchsetzen, indem sie in Domänen eindringt, in welchen Aktivitäten abgewickelt werden, die dem männlichen Geist vorbehalten sind.

 

» In unserer Kolonie wird gelehrt, dass es den Frauen möglich ist, auch in der Familie verschiedene Tätigkeiten auszuüben: z.B.: Krankenpflege, Unterrichten, Aufklärungsarbeit, Handarbeiten und Nachsicht üben. Alle diese Tätigkeiten sind von großer Bedeutung und Würde. Der Mann soll lernen, seine gemachten Erfahrungen in das Familienleben einfließen zu lassen. Hingegen soll die Frau es ihrem Mann ermöglichen, die Bürde der alltäglichen Arbeit innerhalb der Geborgenheit der Familie ablegen zu können. Die Familie soll eine Quelle der Geborgenheit darstellen, in der jedes Mitglied neue Kräfte schöpfen kann. Außerhalb von ihr soll ein aktives Leben geführt werden. Beides ist notwendig: Die Geborgenheit und die Aktivität. Als Beispiel: Wie kann der Fluss gespeist werden, wenn es keine Quelle gibt? Wie kann das Wasser aus der Quelle strömen, wenn es kein Flussbett gibt? «

 

Ich musste ob diesen Fragen lächeln. Nach einer langen Pause fuhr Lísias Mutter fort:

 

» Wenn das Ministerium für Hilfeleistung mir Kinder anvertraut, die ich Zuhause betreue, werden mir die geleisteten Arbeitsstunden doppelt angerechnet. Dies zeigt, dass auf Erden die mütterlichen Aufgaben äußerst wichtig sind. Wenn ich nicht damit beschäftigt bin, erfülle ich mein wöchentliches Arbeitspensum von achtundvierzig Stunden in der Krankenpflege. Bei uns arbeiten alle. Mit Ausnahme meiner Enkelin, die sich noch im Genesungsprozess befindet, ist keiner aus unserer Familie in der Erholungszone. Täglich acht Stunden im Dienst der Allgemeinheit zu stehen, ist für alle möglich. Ich würde mich schämen, wenn ich es nicht schaffen würde. «

 

Frau Laura unterbrach das Gespräch für eine Weile, während ich über all das Gehörte nachdachte.

 

 

 

(21)

 

FORTSETZUNG DES GESPRÄCHES

 

 

Frau Lauras Ausführungen machten mich neugierig und ich hatte viele Fragen.

 

»Frau Laura verzeihen Sie meine Neugierde, ich will nicht aufdringlich sein, aber...«

 

»Sag das nicht«, antwortete sie, »fragen kannst Du immer. Ich eigne mich zwar nicht zum Unterrichten, aber Auskunft zu geben fällt mir leicht. «

 

Wir lachten über diese Bemerkung. »Wie geht man in der Kolonie mit der Thematik des Eigentums um? Nehmen wir zum Beispiel Ihr Haus, gehört es Ihnen? «, fragte ich. Sie lächelte und erklärte:»So wie es auf der Erde geschieht, ist auch hier Eigentum etwas Relatives. Unsere Anschaffungen bezahlen wir mit unseren geleisteten Arbeitsstunden, die als Belohnung für unseren Einsatz und Fleiß in Form eines Stunden-Bonus an uns ausbezahlt werden. So gesehen, ist das unser Geld; damit können wir hier jede Art von Ware erwerben. Grundsätzlich sind die Gebäude Allgemeingut, jedoch stehen sie unter der Aufsicht der Regierung. Wenn man dreißigtausend geleistete Arbeitsstunden vorweisen kann, was durchaus möglich ist, kann jede geistige Familie ein Haus erwerben, aber nie mehr als ein Haus. Unser Haus konnten wir dank des ausdauernden Arbeitseinsatzes meines Mannes, der viel früher als ich in die spirituelle Welt gekommen ist, erwerben. Für achtzehn Jahre waren wir zwar physisch getrennt aber dank der Liebe, die wir für einander empfinden, blieben wir miteinander verbunden. Als Ricardo nach einer Zeit äußerst starker Verwirrung in die Kolonie gebracht wurde, blieb er nicht untätig. Er begriff sofort, dass er sich einsetzen musste und für unsere Zukunft ein Heim vorzubereiten hatte. Als ich ankam, weihten wir unser Heim ein, das er mit viel Sorgfalt eingerichtet hatte. Wir empfanden großes Glück. In jener Zeit hat mir mein Mann viel Neues beigebracht. « Sie fuhr fort:

 

»Sehr jung verwitwet, hatte ich schwere Zeiten durchzustehen. Ich war allein mit unseren zwei kleinen Kindern und war gezwungen, hart zu arbeiten. Das Opfer zahlte sich aus und ich konnte meinen Kindern, ohne den Rahmen meiner Möglichkeiten zu sprengen, eine gute Erziehung, Schulung und Ausbildung ermöglichen. Sehr früh habe ich sie gelehrt, hart anzupacken, um sie an schwere Arbeit zu gewöhnen. Später verstand ich, warum ich von Ängsten und Leiden in der Schwellenregion verschont blieb. Mein anstrengendes Leben hatte mich vor zahlreichen und gefährlichen Versuchungen bewahrt. Die ehrliche, ermattende, schweißtreibende Arbeit ist ein wertvolles Mittel, das der Seele zur Erhebung verhilft und ihr Schutz bietet. Ricardo wieder zu treffen und gemeinsam ein neues Heim zu bauen, war für mich wie im Himmel zu sein. In den folgenden Jahren erlebten wir eine wundervolle Zeit voller Glück. Wir arbeiteten an unserer Entwicklung weiter, knüpften unsere Liebesbande noch enger und setzten uns wirkungsvoll für den Fortschritt unserer Familie ein. Im Lauf der Zeit sind dann Lísias, Iolanda und Judite zu uns gekommen, was unser Glück noch mehrte. «

 

Frau Laura unterbrach das Gespräch und schien nachzudenken. Nach einer Weile sprach sie in ernstem Tonfall weiter:

 

»Obwohl wir in der Gegenwart viel Freude genießen durften, wartete die irdische Sphäre schon auf uns. Die Vergangenheit forderte Wiedergutmachung, denn nur so können wir uns mit den Göttlichen Gesetzen versöhnen und eine ausgewogene Zukunft gestalten.

 

Es war uns nicht gestattet, unsere Schuld gegenüber der Erde mit dem Stunden-Bonus zu tilgen; wir mussten sie mit dem Schweiß ehrlicher Arbeit wiedergutmachen. Angesichts unseres guten Willens und unserer Bereitschaft wurde uns unsere schmerzhafte Vergangenheit in aller Deutlichkeit offenbart. Das Gesetz, das den Zyklus der Reinkarnation regelt, forderte unsere Rückkehr auf die Erde. «

 

Dieses Gespräch beeindruckte mich, denn es war das erste Mal, dass jemand in der Kolonie mit mir über vergangene Inkarnationen sprach.

 

»Frau Laura«, unterbrach ich sie, »verzeihen Sie meine Neugierde, aber mir wurde es bisher nicht gestattet etwas über meine spirituelle Vergangenheit zu erfahren. Bin ich nicht auch vom physischen Leib getrennt? Habe ich nicht auch den Fluss des Todes überquert? Konnten Sie sich, nachdem Sie hier ankamen, sofort an Ihre Vergangenheit erinnern, oder mussten Sie dafür den passenden Zeitpunkt abwarten? «

 

»Ich musste darauf warten«, erwiderte sie lächelnd. »Wichtig ist vor allem, dass wir uns von den Eindrücken unseres physischen Lebens lösen. Unsere Minderwertigkeitskomplexe belasten uns noch zu sehr. Wenn wir Zugang zu unseren Erinnerungen haben wollen, ist es unerlässlich, dass unsere innere Ausgewogenheit wieder hergestellt ist. Im Allgemeinen haben wir alle in unseren Lebenszyklen erschütternde Fehler begangen und jeder, der sich an begangene Vergehen erinnern kann, hält sich für das unseligste Wesen im Universum. Wer Opfer eines Verbrechens wurde und sich daran erinnern kann, hält sich gleichermaßen für unglücklich. Deshalb wird nur die Seele, die in sich gefestigt ist, von der spontanen Erinnerung profitieren können. Das Erinnerungsvermögen der Seelen, die noch nicht die Reife dazu erlangt haben, wird überwacht um zu verhindern, dass trotzdem versucht wird, sich zu erinnern. Zumal dies dazu führen könnte, dass diese Seelen entweder in einen Zustand der Verwirrung geraten oder sogar dem Wahnsinn verfallen. «

 

Kam Ihre Erinnerung an die Vergangenheit auf ganz natürliche Weise? «

 

»Ich erkläre es Dir«, antwortete sie gütig. »Als meine Erinnerungen an das Gestern hochkamen, wühlten sie mich doch ziemlich auf. Es stellte sich heraus, dass mein Mann sich im gleichen seelischen Zustand befand, weshalb wir beschlossen, gemeinsam den Assistenten Longobardo aufzusuchen. Dieser Freund überwies uns, nachdem er unsere Schilderungen hörte, an die Magnetiseure des Ministeriums für Aufklärung. Dort wurden wir liebevoll empfangen und zu allererst zu den Archiven geführt, in denen Eintragungen über jeden Einzelnen gemacht und verwahrt werden. Die Techniker des Ministeriums empfahlen Ricardo und mir, während der nächsten zwei Jahre unsere drei Jahrhunderte umfassenden Lebensgeschichten zu lesen. Sie versicherten uns, dass unsere Tätigkeit im Ministerium für Hilfeleistung in dieser Zeit in keiner Weise beeinträchtigt wird. Allerdings erlaubte uns der Leiter der Abteilung für Erinnerungen nicht, in noch frühere Lebensabschnitte Einblick zu nehmen. Er war der Ansicht, dass weiter zurückliegende Erinnerungen uns überfordern könnten. «     angels-light.org

 

»Brauchtet Ihr nur darin zu lesen, um Euch zu erinnern? « fragte ich wissbegierig. »Nein, durch die Lektüre erhielten wir zunächst wichtige Informationen. Nach einer längeren Zeit der Meditation und Selbstanalyse wurden wir bestimmten psychischen Behandlungen unterzogen, um zu Gefühlsfeldern der Erinnerung zu gelangen. Danach haben Spezialisten mittels des magnetischen Passés die im Gehirn schlummernden Energien wiedererweckt. Anschließend erinnerten sich Ricardo und ich an unsere vollständige, dreihundertjährige Geschichte. Jetzt begriffen wir, dass unsere Schuld gegenüber der Erde noch sehr groß war. «

 

»Wo ist unser Bruder Ricardo? Ich würde ihn gerne kennen lernen«, wollte ich von ihr wissen. Lísias Mutter schüttelte den Kopf und sagte leise:

 

»Wegen unserer Vergangenheit haben wir beschlossen uns wieder auf der Erde zu treffen, dort erwartet uns viel, viel Arbeit. Deshalb ist Ricardo bereits vor drei Jahren zurückgegangen. Ich werde ihm in einigen Tagen folgen. Ich warte nur noch auf Teresa, damit ich sie zu unserer Familie bringen kann. «

 

Ihr leerer Blick verriet, dass sie weit weg an der Seite ihrer Tochter war, die sich noch auf der Erde aufhielt. Sie erläuterte:

 

»Es wird nicht mehr lange dauern und Eloisas Mutter wird hier ankommen. Als Verdienst für ihre großen Opfer, die sie seit ihrer Kindheit brachte, wird sie nur für wenige Stunden in der Schwellenregion verbleiben. Dank der harten Zeit, die sie durchmachte, wird sie es nicht nötig haben sich einer Erneuerungstherapie zu unterziehen. Ich werde ihr meine Aufgaben im Ministerium für Hilfeleistung übergeben und ruhig abreisen können. Der Herr vergisst uns nie! «

 

 

 

(22)

 

DER STUNDEN BONUS

 

 

Ich bemerkte, wie Frau Laura, als sie an ihren Mann dachte, ganz plötzlich traurig wurde, so dass ich das Thema des Gesprächs wechselte.

 

»Was können Sie mir über den Stunden-Bonus sagen? Handelt es sich um Münzgeld? « Ihr Gesicht klärte sich, und sie antwortete höflich:

 

»Nein, es ist nicht eigentlich eine Münze, aber ein Schein, auf dem die Arbeitsstunden jedes Einzelnen eingetragen werden. Dieser Schein berechtigt zum Kauf, in anderen Worten, er fungiert als Kaufgeld. « »Kaufgeld? «, fragte ich verwundert.

 

»Ich erkläre es Dir«, antwortete Frau Laura. »In Nosso Lar ist die Produktion der Bekleidungs- und Grundlebensmittel für die Allgemeinheit bestimmt. ImRegierungssitz sowie in den Ministerien gibt es eine Verteiler-Zentrale. Das Hauptlager gehört der Gemeinschaft. «

 

Staunend hörte ich sie sagen:

 

»Alle Bewohner der Kolonie Nosso Lar arbeiten am Wachstum des Allgemeinguts mit und dürfen davon leben. Allein denjenigen, die arbeiten, steht mehr zu. Denn obschon jeder Bewohner unserer Kolonie mit dem Notwendigsten an Kleidung und Brot versorgt wird, sind es diejenigen, die sich um den Stunden-Bonus bemühen, welche sich in der Gesellschaft einige Vorrechte erarbeitet haben. Um ein Beispiel zu nennen: Sie dürfen z.B. ein Eigenheim besitzen. Es ist auch zu beachten, dass noch nicht arbeitende Geistwesen zur Arbeit gezwungen werden können. Der Müßiggänger wird zwar eingekleidet, aber nur der fleißige Arbeiter darf die Kleider seines Geschmackes wählen, verstehst Du? Den Arbeitsscheuen wird es Dank der Fürsprache ihrer Freunde erlaubt sein, sich entweder in den Erholungszonen oder in den Parks des Kurhauses aufzuhalten. Dagegen ist es den fleißigen Seelen, welche im Besitz eines Stunden-Bonus sind, gestattet, sich mit ihren geliebten Geschwistern in den für die Freizeit reservierten Orten aufzuhalten. Im Allgemeinen wird ihnen auch der Kontakt zu den weisen Leitern verschiedener Schulen innerhalb der Ministerien ermöglicht. Es ist wichtig zu wissen, wie viel Punkte moralische Besserung und Erhöhung uns einbringt. Jeder von uns, der arbeitet, sollte an einem vierundzwanzig Stunden dauernden Tag mindestens acht Stunden gemeinnützigen Dienst leisten. Obschon die Arbeitsprogramme in der Kolonie zahlreich und intensiv sind, erlaubt es die Regierung allen, die freiwillig für das Wohl der Gemeinschaft arbeiten wollen, einen zusätzlichen Einsatz von vier Stunden zu leisten. So ergibt es sich, dass sehr viele zu einem Stunden-Bonus von zweiundsiebzig Stunden pro Woche kommen. Es gibt auch Seelen, die unter großer Aufopferung Dienste leisten, die zweifach, oder manchmal sogar dreifach belohnt werden. «

 

»Ist das die einzige Art der Entlohnung? «, fragte ich.

 

»Ja, das ist die gängige Art, die Mitarbeiter der Kolonie für Arbeit und Disziplin zu entlohnen. «

 

Mir kamen die irdischen Einrichtungen in den Sinn und ich fragte verblüfft:

 

»Lässt sich diese Zahlungsart mit der Art der Beschäftigung vereinbaren? Der Verwalter erhält für seine täglich verrichtete Arbeit einen acht Stunden-Bonus. Und ein Angestellter der Verkehrsbetriebe bekommt dasselbe Entgelt? Ist denn die Tätigkeit des Ersteren nicht höher gestellt, als die des Letzteren? « Lächelnd erwiderte sie:

 

»Alles ist relativ. Wenn man sich in leitender oder in untergeordneter Stelle aufopfernd einsetzt, wird die Entlohnung gerechterweise vervielfacht. Um Deine Frage eingehender zu betrachten, ist es vor allem wichtig, etliche Nachteile, die auf der Erde üblich sind, zu vergessen. Die Art des Dienstes ist der wichtigste Punkt. Es zeigt sich jedoch, dass es auf der Erde viel schwieriger ist, eine Lösung dafür zu finden. Während die Seele im menschlichen Leib weilt, übt sie sich im Dienen und lernt in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens zu arbeiten. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass auf der Erde die Löhne angemessen festgelegt werden. Jeder Gewinn, der aus einem weltlichen Profit stammt, ist ein vorübergehender Gewinn. Wir sehen arbeitende Menschen, die ganz davon besessen sind, Geld zu verdienen. Sie wälzen ansehnliches Vermögen hin und her und verprassen es gewissenlos. Andere hingegen legen bei Bankinstituten beträchtliche Geldsummen an, verlieren ihren Frieden und zerstören die Familie. Es ist aber auch zu beachten, dass siebzig Prozent aller Verwalter auf Erden ihre moralischen Verpflichtungen nicht ernst nehmen. Der gleiche Prozentansatz gilt für diejenigen, die in untergeordneten Stellungen tätig sind. Die Mehrheit der arbeitenden Menschen übt ihren Beruf ohne Engagement aus, obschon sie dafür entsprechend entlohnt werden. Sowohl in den Regierungen wie in den Unternehmen arbeiten Ärzte, die für ihre Dienste bezahlt werden, jedoch anderen Interessen nachgehen. So wie es Arbeitnehmer gibt, die bezahlt werden, um die Zeit totzuschlagen. Welcher Art Dienst ist denn das? In der Wirtschaft gibt es solche, die die Pflichten und Verpflichtungen ihres Berufes nie voll wahrgenommen haben. Dennoch erheben sie Anspruch auf Bonus, Gefälligkeiten und Altersversorgung, wie es großzügige Gesetze vorsehen. Sie sind wie giftige Insekte, die sich auf das gesegnete Mahl stürzen. Glaube mir, diese Fahrlässigkeit wird alle sehr teuer zu stehen kommen. Es scheint, dass die Zeit, in welcher die Sozialorgane die menschliche Arbeit nach ihrer Qualität einschätzen werden, noch sehr weit entfernt ist. Doch auf höherer geistiger Ebene wird die Bewertung der Arbeit erst festgelegt, nachdem die moralischen Werte geprüft wurden.«

 

Ihre Worte führten mich zu neuen Überlegungen.

 

»Der wahre Gewinn,« fuhr sie fort »den die Geschöpfe machen können, ist geistiger Art. Der Wert des Stunden- Bonus in unserer Organisation kann, je nach der Art unserer Arbeit, beachtlich gesteigert werden. Jedes Ministerium hat einen eigenen Stunden-Bonus. Im Erneuerungs­ministerium gibt es den „Erneuerungs-Stunden-Bonus", im Aufklärungs-Ministerium den „Aufklärungs-Stunden-Bonus" und so fort. Auch unsere spirituellen Verdienste werden anerkannt und so ist es sinnvoll, dass die Art unserer Arbeit im persönlichen Ausweis eingetragen wird. Die wesentlichen Errungenschaften bestehen aus Erfahrung, Erziehung, Bildung und der Möglichkeit der Vermehrung der Göttlichen Gnade. So gesehen, bedeuten hier Beflissenheit und Hingabe fast alles. Normalerweise bereitet sich die Mehrheit der Bewohner unserer Übergangsstätte auf die Notwendigkeit einer Rückkehr in das leibliche Leben vor. Nach diesem Prinzip ist es natürlich, dass der Mensch, der fünftausend Arbeitsstunden seiner Erneuerung widmet, einen überragenden Einsatz zu seinen Gunsten geleistet hat. Derjenige aber, der sechstausend Stunden im Ministerium für Aufklärung gearbeitet hat, ist weiser. Wir können unseren erworbenen Stunden-Bonus ausgeben, aber wertvoller als der Bonus ist die Eintragung unserer gemeinnützig geleisteten Dienstzeit, die uns das Recht auf hochwertige Auszeichnungen gibt. «

 

Solche Informationen waren für mich von großem Wert.

 

»Können wir denn unseren Stunden-Bonus auch zugunsten unserer Freunde einsetzen? «, fragte ich neugierig.

 

»Aber sicher«, sagte sie, »wir dürfen den Segen unseres persönlichen Einsatzes mit denen teilen, die uns lieben. Dies ist ein persönliches Recht, welches dem rechtschaffenen Arbeiter zusteht. Es gibt Abertausende in Nosso Lar, die von diesem freundschaftlichen und brüderlichen Handeln profitieren konnten. «

 

Lísias Mutter lächelte und meinte noch: »Je höher die Anzahl der Dienststunden ist, desto mehr sind wir berechtigt, uns für jemanden einzusetzen. Daraus folgt, dass alles seinen Preis hat und dass man, bevor man etwas geschenkt bekommt, zuerst geben können muss. Das Bitten hat einen großen Stellenwert im Leben jedes Einzelnen. Doch nur derjenige, der sich auszeichnet, kann eine Bitte äußern oder anderen Gefälligkeiten erweisen. Verstehst Du? «

 

»Wie steht es mit dem Erben? «, interessierte ich mich.

 

»Bei uns verläuft es ganz einfach«, meinte Frau Laura. »Nehmen wir meinen Fall als Beispiel. In Kürze werde ich zur Erde zurückkehren. Ich habe ein persönliches Bonus- Guthaben über dreitausend Stunden, die ich im Hilfsdienst geleistet habe. Dieses Guthaben werde ich meiner nächstens ankommenden Tochter nicht hinterlassen können, da es in das allgemeine Gut einfließen wird. Meine Familie behält aber das Recht auf das Haus. Dank meiner erbrachten Leistungen darf ich mich für meine Tochter einsetzen und ihr das Tätigkeitsfeld vorbereiten. Ich kann auch dafür sorgen, dass sie die Unterstützung von Freunden bekommt. Dieses Guthaben bedeutet auch, dass ich während meiner Anwesenheit auf der Erde auf die wertvolle Hilfe unserer spirituellen Organisation zählen kann. Was ich noch mitnehme, sind die Erfahrungen, die ich in jahrelanger Tätigkeit im Ministerium für Hilfeleistung gemacht habe. Ich kehre zur Erde zurück, ausgestattet mit höheren Werten und edleren Eigenschaften, die mir den ersehnten Erfolg ermöglichen werden. «

 

Als ich mich voller Bewunderung über die einfache Art des Verdienens, des Nutzens, des Mitwirkens und des Dienens äußern und mit den auf der Erde herrschenden Regeln vergleichen wollte, vernahm ich mir bekannte Stimmen. Frau Laura sagte zufrieden: »Unsere Lieben sind zurück. « Sie stand auf, um sie zu empfangen.

 

 

 

(23)

 

LERNEN, ZU HÖREN

 

 

Innerlich bedauerte ich die Unterbrechung unseres Gesprächs, denn Frau Lauras Ausführungen gaben meinem Herzen Kraft.

 

Lísias, offensichtlich zufrieden, kam ins Haus. »André, hast Du Dich noch nicht zurückgezogen? « fragte er. Die Freunde verabschiedeten sich und er lud mich ein, ihn zu begleiten.

 

»Komm mit in den Garten, und schau Dir den Mond an. Von hier aus ist er besonders gut zu sehen. «

 

Frau Laura plauderte mit den Töchtern, während ich in Begleitung Lísias auf den Blumengarten zuging. Mir bot sich dort ein überwältigender Anblick! Bis jetzt hatte ich ja keine Gelegenheit, das grandiose Naturschauspiel, das sich hier in den weitläufigen Quartieren des Ministeriumsfür Hilfeleistung zeigte, zu erleben. In den Gärten blühten prächtige Glyzinien und Schneelilien, deren blau schimmernden Kelchen lieblicher Duft entströmte. Ich sog diese neuen Energien tief in mich hinein. In der Ferne sah ich die Türme des Regierungsgebäudes, die schöne Lichtbilder in die Nacht projizierten. Angesichts solcher Schönheit fand ich nicht die richtigen Worte, meine Gefühle auszudrücken.

 

»Einen solchen Frieden«, sagte ich bewegt, »habe ich noch nie erlebt. Was für eine wunderbare Nacht.« Mein Begleiter lächelte und meinte:

 

»Die in innerer Harmonie lebenden Bewohner dieser Kolonie verpflichten sich, keine negativen Gedanken aufkommen zu lassen. Diese gemeinsame Anstrengung wirkt sich wie ein ständiges Gebet aus. Was wir jetzt wahrnehmen, sind die Schwingungen des Friedens die sich daraus ergeben. « Entzückt verharrte ich noch eine Weile. Ich wollte das sanfte Licht und die Schwingungen des Friedens in mich aufnehmen. Nach unserer Rückkehr ins Wohnzimmer schritt Lísias zu einem kleinen Gerät, das einem Rundfunkgerät der Erde glich. Meine Neugierde war entfacht. Was würden wir hören? Nachrichten von der Erde? Lísias erklärte mir:

 

»Wir werden keine Stimmen vom Planeten Erde hören, da unsere Sendungen aus einem Bereich kommen, der feinere Schwingungsenergien besitzt, als die der Erdoberfläche. «

 

»Gibt es denn keine Möglichkeiten, Sendungen von der Erde zu empfangen? «, fragte ich ihn.

 

»Sicher könnten wir hier solche empfangen, so wie das in allen Ministerien möglich ist. Für uns daheim ist es jedoch wichtiger, in der Gegenwart zu bleiben. Ich meine damit, dass für uns die Durchführung von Tätigkeiten, die für unser Fortschreiten notwendig sind und die Anweisungen und Belehrungen aus der höheren geistigen Welt einen weit höheren Stellenwert haben, als irgendetwas auf der Erde. «

 

Obwohl er recht hatte, fragte ich, da ich immer noch am Irdischen festhielt, sofort:

 

»Ist es wirklich so? Wie geht es unseren Verwandten, die weit weg sind? Unseren Eltern, unseren Kindern?«

 

»Ich habe geahnt, dass du diese Fragen stellen würdest«, sagte er. »Auf Erden konnten wir unser Leben nicht richtig einschätzen. Wir waren in der Überschwänglichkeit der Gefühle gefangen und hielten uns für etwas ganz besonderes. Wir suchten Zuflucht in der Familie und vernachlässigten unsere restlichen Pflichten. Den wahren Prinzipien der Brüderlichkeit fühlten wir uns nicht verbunden, obschon wir sie in der ganzen Welt zu verbreiten vorgaben. Wurden wir aber aufgefordert sie zu bezeugen, zeigte es sich, dass wir nur solidarisch gegenüber den Unsrigen sein konnten. Hier jedoch, mein Freund, zeigt die Medaille des Lebens ein anderes Gesicht. Wir kommen nicht umhin, unsere alten Krankheiten zu selbst heilen und Ungerechtigkeiten zu beheben.

 

Angeblich sollen in den Anfängen der Kolonie alle Haushalte mit den Sendern der Erde verbunden gewesen sein. Zu dieser Zeit kostete es die Bewohner große Mühe, hier ohne Nachrichten von ihren Lieben auf der Erde auszukommen. Deshalb bedienten sie sich dieser Möglichkeit. Dies führte jedoch zu einer erheblichen nervlichen Belastung aller, die vom Ministerium für Erneuerung bis zum Ministerium der Erhöhung zu spüren war. Erschreckende Gerüchte wurden verbreitet und störten die Aktivitäten der Kolonie.

 

Vor genau zwei Jahrhunderten forderte deshalb einer der Minister der Göttlichen Vereinigung die Regierung auf, die Lage zu normalisieren. Es wird angenommen, dass der damalige Gouverneur zu nachsichtig war. Übermäßige Großzügigkeit kann in manchen Fällen zu Disziplinlosigkeit fuhren. Manchmal geschah es, dass Nachrichten von Angehörigen auf der Erde sich sogar traumatisch auf die hier lebenden Familien auswirkten. Bei vielen Bewohnern der Kolonie lösten die Katastrophen auf der Erde Mitgefühl aus und sie litten mit den Erdbewohnern. Es steht in unseren Archiven, dass unsere Stätte damals eher eine Unterabteilung der Schwellenregion zu sein schien, als ein Ort der Erneuerung und Bildung. In der Folge sprach sich der neue Gouverneur gegen den Nachrichtenaustausch mit der Erde aus und - unterstützt vom Ministerium der Göttlichen Vereinigung - wurde der Nachrichtenverkehr ganz eingestellt. Es gab natürlich Gegenargumente, doch der verantwortliche Minister stützte sich auf das Gleichnis Jesu: "Die Toten sollen ihre Toten begraben." Man verstand, was gemeint war und so gab man den Widerstand endgültig auf. «

 

»Aber«, wandte ich ein, »es wäre sicher interessant, Nachrichten von unseren Lieben auf der Erde zu erhalten. Dies würde sich auf unsere Seelen sehr beruhigend auswirken, nicht wahr? «

 

Lísias, der neben dem Gerät stand ohne es einzuschalten, fuhr in seinen Erläuterungen weiter fort:

 

»Du kannst Dich selbst fragen, ob Du hier die nötige Ruhe aufbrächtest, wenn Du erfahren müsstest, dass Dein geliebter Freund, Verwandter oder eines Deiner geliebten Kinder verleumdet wird oder zum Verleumder wurde. Könntest Du Deine Ruhe bewahren und gemäß den Göttlichen Regeln handeln? Wenn Dich jetzt jemand benachrichtigte, dass einer Deiner Blutsverwandten oder gar Dein Bruder, heute verhaftet wurde, weil er zum Verbrecher wurde, wärest Du stark genug und wüsstest mit solchen Nachrichten richtig umzugehen?«

 

Enttäuscht versuchte ich zu lächeln. Lísias sprach weiter.

 

»Wir sollten erst versuchen Verbindungen mit den niedrigeren Sphären herzustellen, wenn wir in der Lage sind, wirksam zu helfen. Wie können wir richtig helfen, wenn wir selbst sowohl emotional, als auch vernunftmässig unausgewogen sind? Deshalb ist es erforderlich, dass wir uns angemessen vorbereiten, bevor wir Kontakt mit unseren irdischen Verwandten aufnehmen. Wenn bei ihnen die spirituelle Liebe gereift ist, wäre ein gegenseitiger Kontakt sogar wünschenswert. Leider ist ein beachtlicher Prozentsatz der Inkarnierten noch nicht Herr ihrer selbst und lebt in einem Zustand der Verwirrung, den Höhen und Tiefen der materiellen Existenz ausgeliefert. Wir müssen es trotz unserer emotionalen Schwierigkeiten vermeiden, in die niedrigeren Schwingungsfelder abzustürzen. «

 

»Aber«, hartnäckig fragte ich weiter, »Lísias, würdest Du Dich nicht darüber freuen, mit einem Freund auf der Erde oder vielleicht mit Deinem Vater Kontakt zu haben? «

 

»Aber ganz sicher«, antwortete er gütig, »wenn wir diese Freude verdienen, besuchen wir ihn dort, wo er sich in neuem physischen Gewand aufhält. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir fehlbare Geschöpfe sind. Aus diesem Grund können nur kompetente Stellen entscheiden, ob wir berechtigt sind, dieses Recht einzufordern oder nicht.

 

Das gehört in den Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Kommunikation. Gewiss ist es einfacher, von der Höheren in die Niedrigere Sphäre abzusteigen, aber es gibt gewisse Prinzipien, welche die Kommunikation zwischen den verschiedenen Sphären regeln. Diese sind zu beachten, zumal das Zuhören ebenso wichtig ist wie das Sprechen. Weil damals die Bewohner von Nosso Lar nicht richtig zuhörten, konnten sie nicht erfolgreich helfen und oft herrschte ein Durcheinander in der Kolonie. «

 

Solch gewichtige Argumente konnten mich überzeugen, und ich schwieg, während Lísias das Gerät einschaltete. Ich war neugierig was da kommen würde.

 

 

 

(24)

 

ERGREIFENDER HILFERUF

 

 

Aus dem Empfangsgerät ertönte eine sanfte Melodie, die den ganzen Raum durchdrang. Sie wirkte beruhigend auf uns. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht des Sprechers.

 

»Hier spricht Moradias* Zweites Programm. Wir bitten erneut um Hilfe zugunsten des Friedens auf Erden. Wir rufen alle Mitarbeiter guten Willens auf, mit vereinten Energien sich für die Erhaltung des moralischen Gleichgewichts einzusetzen. Unser Appell richtet sich an alle, die für einige Stunden in den Zonen der Schwellenregion aushelfen können, wo Mächte der Finsternis sich mit dem menschlichen Gedankengut verbinden. Nachdem aus der Finsternis stammende Phalanx* Asien zum Krieg anstifteten, umkreisen sie jetzt europäische Nationen, um sie zu neuen Verbrechen anzustiften. Wir und alle anderen, die für die spirituelle Reinheit in der näheren Umgebung der Erdoberfläche zuständig sind, stellen eine Konzentration des Bösen fest. Wir bitten um brüderliche Unterstützung und um jede Hilfe, die Ihr uns geben könnt. Bedenkt, dass der Friede verteidigt werden muss. Wir ersuchen Euch, uns im Rahmen Eurer Möglichkeiten zu helfen. Es gibt Arbeit für alle. Von der Erdoberfläche bis hin zu unseren Toren gibt es viel zu tun. Gott segne uns. «

 

Die Stimme brach ab, es war wieder Musik zu hören. Der eindringliche Hilferuf drang tief in meine Seele. Lísias, ebenfalls beunruhigt, erklärte mir:

 

»Wir hörten das Zweite Programm des Senders von Moradia, einer alten und ehrwürdigen Kolonie, die sehr eng mit den niedrigeren Regionen in Verbindung steht. Wie Du weißt, haben wir den Monat August des Jahres 1939. Wegen Deiner persönlichen Probleme, die Dich in letzter Zeit sehr in Anspruch genommen haben, konntest Du nicht über die prekäre Lage, in der sich die Erde befindet, nachdenken. Ich kann nur bestätigen, dass die Nationen der Erde am Rande schrecklicher Kämpfe stehen. «

 

»Was sagst Du da? «, fragte ich ihn entsetzt, »Wurde denn nicht genug Blut im letzten Weltkrieg vergossen? «

 

Lísias lächelte traurig und sah mich mit glänzenden Augen an. Es berührte ihn tief, dass die Menschheit sich in einer so ernsten Lage befand. Zum ersten Mal konnte er mir nicht sofort antworten. Sein Schweigen befremdete mich. Ich war von den zahlreichen spirituellen Aktivitäten, die hier durchgeführt werden, sehr beeindruckt. Wie war es möglich, dass spirituelle Stätten, die von gütigen Geistwesen bewohnt sind, um Hilfe und Unterstützung bitten? Der Hilferuf des Sprechers hörte sich wie ein S.O.S. an. Ich hatte sein angespanntes Gesicht bemerkt. Sein ruheloser Blick verriet tiefen Kummer. In welcher Sprache drückte er sich aus? Überrascht stellte ich fest, das er klar und fließend Portugiesisch gesprochen hatte. Und ich hatte gedacht, dass sich alle Bewohner der spirituellen Kolonien nur durch ihre Gedanken mitteilten. Könnte es sein, dass dort die Kommunikation noch nicht so weit fortgeschritten war? Lísias, der meine Verwirrung spürte, erklärte mir:

 

»Die Ebenen, in denen es nur reine Gedanken gibt, sind für uns noch weit entfernt. Hier ist es so wie auf Erden: Diejenigen, die in vollkommener Harmonie zueinander stehen, können sich gedanklich mitteilen, für sie gibt es keine Sprachbarrieren. Aber im Allgemeinen können wir noch nicht auf unsere sprachliche Ausdrucksform verzichten. Unsere Kämpfe werden auf unermesslich großem Feld ausgetragen.

 

Die Erde ist von Milliarden Menschen bevölkert, die sich mit der unsichtbaren Menschheit des Planeten verbinden, was zusammen viele Billionen von Geschöpfen ausmacht. Es ist nicht möglich, sogleich nach dem Tod des physischen Körpers zu den Regionen zu gelangen, in denen Vollkommenheit herrscht. Da wir unser nationales und sprachliches Erbe beibehalten, sind unserem Denken psychische Grenzen gesetzt. In den verschiedenen Sektoren unserer spirituellen Aktivitäten gibt es jedoch eine erhebliche Anzahl von Geistwesen, die frei von jeglicher Einschränkung sind. Der Normalfall ist aber, dass die meisten von uns diese Einschränkungen auf sich nehmen müssen. Indes dürfen wir nicht vergessen, dass alles gemäß den Prinzipien abläuft, die das Gesetz der Evolution beinhalten. Es gibt keine Möglichkeit diese zu umgehen. «

 

In der Zwischenzeit wurde die Musik unterbrochen. Der Sprecher ergriff wieder das Wort:

 

»Hier spricht der Sender Moradias, Zweites Programm. Wir senden nochmals den Hilferuf unserer Kolonie für den Frieden auf Erden aus. Dichter Nebel konzentriert sich am Himmel Europas. Finstere Mächte aus der Schwellenregion dringen von allen Seiten ein, angezogen von den egoistischen und erbarmungswürdigen Neigungen der Menschen. Dennoch führen selbstlose Wohltäter auf der politischen Bühne einen harten Kampf für den internationalen Frieden. Aber es gibt auch Regierungen, denen wir aufgrund zu straffer Zentralisierung nur mit Mühe spirituelle Hilfe zukommen lassen können. Weil diese Länder über keine offiziellen Organe verfügen, wo man sie vernünftig und gemäßigt beraten könnte, schreiten sie auf einen groß angelegten schrecklichen Krieg zu.

 

Geliebte Brüder in den Höheren Sphären: Bemühen wir uns, gemeinsam den menschlichen Frieden zu erhalten und die westliche Zivilisation - welche die Wiege jahrhundertealter Errungenschaften ist, zu schützen. Gott beschütze uns. «

 

Der Sprecher verstummte und erneut ertönte die beruhigende Musik.

 

Lísias schwieg, und ich wagte es nicht, sein Schweigen zu unterbrechen. Der Sprecher meldete sich nach einer Pause von etwa fünf Minuten nochmals:

 

»Hier spricht der Sender Moradias, Zweites Programm. Wir senden nochmals den Hilferuf unserer Kolonie für den Frieden auf Erden. Brüder, Mitarbeiter, erflehen wir gemeinsam die Hilfe der mächtigen Bruderschaft des Lichts*, die das Schicksal Amerikas leitet. Helft uns, das tausendjährige Erbe irdischer Errungenschaften zu retten. Marschieren wir zusammen, um wehrlosen Gemeinschaften zu helfen. Lasst uns den Müttern, deren Herzen in Angst zu ersticken drohen, helfen. All unsere Energien sollen tatkräftig eingesetzt werden, in diesem Kampf gegen die Legionen von Unwissenden. Wenn es Euch möglich ist, dann kommt uns zu Hilfe! Wir alle gehören zum unsichtbaren Teil der irdischen Menschheit und viele von uns werden wieder in den physischen Körper eintauchen, um vergangene Fehler wieder gutzumachen. Vereinigen wir uns zu einer einzigen Schwingung und bringen Licht dorthin, wo die Menschheit von den Mächten der Finsternis belagert wird. Wehren wir das Böse mit dem Schild des Guten ab, denn Ströme von Blut und Tränen drohen Europa zu überschwemmen. Es ist deshalb notwendig, gemeinsam und konstruktiv zu arbeiten, und den Glauben weit hinauszutragen. Gott segne uns! «

 

Lísias schaltete das Gerät aus. Er trocknete diskret eine Träne und sagte ergriffen zu mir:

 

»Das waren die selbstlosen Brüder der Kolonie Moradia. « Er schwieg und meinte dann später traurig:

 

»Alles war umsonst. Es wird nicht lange dauern, und die Menschheit auf der Erde wird auf schreckliche und schmerzliche Art den Tribut dafür zahlen müssen. «

 

»Gibt es denn gar keine Möglichkeit, diese verheerende Katastrophe abzuwenden? «, fragte ich ihn besorgt.

 

»Leider nicht«, erwiderte Lísias ernst und in gequältem Tonfall, »denn die allgemeine Lage ist sehr kritisch. Um dem Hilferuf des Senders Moradia und dem von anderen Kreisen, die sich nahe der Schwellenregion befinden, nachzukommen, haben wir zur Beratung einberufen. Aber das Ministerium der Göttlichen Vereinigung warnte uns. Man ist der Meinung, dass sich die Menschheit auf Erden wie ein gieriger Mensch verhält, der sich am Festbankett überessen hat und jetzt an unvermeidlichen Verdauungsstörungen leidet. Viele Nationen ernährten sich mit kriminellem Stolz, Eitelkeit und grausamem Egoismus. Jetzt müssen sie diese tödlichen Gifte ausstoßen. «

 

Es war offensichtlich, dass Lísias nicht länger über dieses unangenehme Thema sprechen wollte und so zog ich mich zurück.

 

 

 

(25)

 

WERTVOLLE RATSCHLÄGE

 

 

Am nächsten Tag frühstückte ich in der Gesellschaft von Lísias und seiner Familie. Bevor sich seine Geschwister von uns verabschiedeten und zur Arbeit in das Ministerium für Erneuerung gingen, sagte Frau Laura gut gelaunt zu mir: »Ich habe vereinbart, dass Du den heutigen Tag in der Gesellschaft von Rafael, einem alten Bekannten unserer Familie, verbringst. Rafael arbeitet im Ministerium für Erneuerung und wird Dich dahin begleiten. Dort wird er Dich in meinem Namen Minister Genésio vorstellen. «

 

Ich nickte strahlend vor Freude und spürte, wie großes Glücksgefühl von meiner Seele Besitz ergriff. Gerührt dankte ich ihr, doch Worte genügten nicht, um meiner Dankbarkeitund Freude Ausdruck zu verleihen. Lísias zeigte sich auch hoch erfreut und umarmte mich warmherzig. Als Frau Laura ihrem Sohn den Abschiedskuss gab, empfahl sie ihm:

 

»Lísias, richte Minister Clarêncio bitte aus, dass ich zur Arbeit kommen werde, sobald ich unseren Freund in Rafaels Obhut weiß. « Ich war äußerst gerührt und wusste nicht, wie ich mich für eine solche Zuwendung bedanken sollte. Als ich dann mit Lísias Mutter allein war, sagte sie fürsorglich:

 

»Mein lieber André, erlaube mir, Dir einige Ratschläge auf Deinen neuen Weg zu geben. Ich bin überzeugt, dass das mütterliche Wort stets wichtig ist, und da Deine Mutter nicht in der Kolonie Nosso Lar wohnt, nehme ich mir nun dieses Recht. «

 

»Sehr gerne«, sagte ich. »Ich werde immer in Ihrer Schuld stehen für Ihre Fürsorge. « Sie lächelte und fügte gütig hinzu:

 

»Ich weiß, dass Du vor einiger Zeit um eine Arbeit ersucht hast. «

 

»Ja, das stimmt«, erklärte ich und erinnerte mich an Clarêncios Worte.

 

»Ich weiß auch«, sprach Frau Laura weiter, »dass man Deinem Wunsch nicht sofort entsprechen konnte. Später jedoch wurde Dir die notwendige Erlaubnis erteilt, die Ministerien, die uns enger mit der Erde verbinden, zu besuchen. Bezüglich dieser Erlaubnis möchte ich Dir meine bescheidenen Ratschläge anbieten. Glaube mir, ich spreche aus eigener Erfahrung. Jetzt, da Du diese Genehmigung hast, kann ich Dir nur raten, schnellstens Deine Neugierde zu zügeln. Bitte, verhalte Dich nicht wie ein Nachtfalter, der von Lampe zu Lampe fliegt. Es ist mir bekannt, dass die Forschung Dir ein großes Anliegen ist. Du bist ein gelehrter und leidenschaftlicher Arzt, der Neues und Rätselhaftes liebt. In einer neuen Position könnte es aber sehr leicht geschehen, dass Du wieder in alte Muster abgleitest. Erwäge bitte, dass Du ehrenwertere Erkenntnisse erzielen kannst, wenn Du Dein Interesse Höherem widmest, als nur die Dinge zu analysieren. Die so genannte gesunde Neugierde kann manchmal gefährlich werden, obschon sie auch zu einer interessanten, geistigen Bereicherung fuhren kann. Ein unerschrockener und zuverlässiger Geist kann dank seiner Neugierde viele Aufgaben ehrenvoll erfüllen. Den Unzuverlässigen und Unerfahrenen hingegen könnte diese Neugierde schmerzvolle Erfahrungen bringen, da sie ohne Nutzen ist. Clarêncio ermöglichte Dir den Zugang zu den Ministerien, angefangen bei dem Ministerium für Erneuerung. Also, mein Rat ist: Beschränke Dich nicht auf das Beobachten. Anstatt Dich von Deiner Neugierde leiten zu lassen ist, biete bei der ersten Gelegenheit an, selbst Hand anzulegen und bleibe dann dort.

 

Mache Dich mit den Arbeiten vertraut und versuche nicht, auch in den anderen Ministerien tätig zu sein. Es ist besser, wenn Du Dich bemühst, Sympathien zu gewinnen. Du darfst niemals vergessen, dass der dienende Geist Vorrang hat und der Forschergeist erst an zweiter Stelle stehen sollte. Sich in fremde Angelegenheiten einzumischen, nur um die Neugierde zu stillen, ist eine Unverschämtheit, die nichts Gutes hervorbringt. Sehr viele Unternehmungen in der Welt scheitern infolge solcher Fehler. Viele gefallen sich in der Rolle der Beobachter, jedoch nur wenige sind bereit, etwas zu vollbringen. Nur durch ehrliche und würdige Arbeit macht sich der Geist verdient und wird schließlich in den Genuss neuer Rechte kommen. Im Ministerium für Erneuerung wird hart gearbeitet, weil sich dort die niedrigste Zone unserer spirituellen Kolonie befindet. Dort werden alle Arbeitsgruppen von gütigen Geistwesen gebildet, die für die Erledigung der mühseligsten Aufgaben eingesetzt werden. Fühle Dich nicht gedemütigt, niedrige Arbeiten zu erledigen. Bedenke, in allen unseren Sphären, vom Planeten Erde angefangen bis zu den höheren Kreisen in den erhabenen Sphären, ist Jesus Christus der bedeutendste Arbeiter. Er war sich nicht zu schade, als bescheidener Zimmermann zu arbeiten. Der Minister Clarêncio hat es Dir freundlicherweise erlaubt, die Dienste in seinem Ministerium kennen zu lernen und Dich mit ihnen vertraut zu machen. Anstatt dich auf das Beobachten zu beschränken, kannst Du Dich nützlich machen und aktiv mithelfen. Zuweilen kann es geschehen, dass unserem Wunsch, einer spezifischen Tätigkeit nachzugehen, nicht entsprochen werden kann. Vielleicht steht sie uns nicht zu und ist denen vorbehalten, die dazu befähigt sind und sich durch harten und schmerzvollen Einsatz ausgezeichnet haben. Niemand wird indessen den guten Willen und die Einsatzbereitschaft eines Geistes ablehnen, der sich aus Liebe demütig der Arbeit hingibt. «

 

Ergriffen nahm ich diesen mütterlichen und gut gemeinten Rat von Frau Laura entgegen. In meinem bisherigen Leben kam es sehr selten vor, dass jemand in mütterlicher Zuneigung so viel Interesse für mein Schicksal zeigte. Diese Ratschläge drangen in mein Herz ein. Als wollte Frau Laura ihre besonnenen Worte noch mit Liebe untermauern, bemerkte sie:

 

»Zu wissen, wie ein neuer Anfang anzugehen ist, ist eine der erhabensten Lektionen die wir lernen können. Auf der Erde sind es nur wenige, die dies verstanden haben, und es gibt leider nur sehr wenige Beispiele dafür. Ein Beispiel jedoch gibt es: Paulus von Tarsien, der Gelehrte im Synedrium*. Er war wegen seiner Bildung und seiner Jugend der Hoffnungsträger eines ganzen Volkes und eine viel beachtete Persönlichkeit in Jerusalem. Eines Tages ging er hinaus in die Wüste, um von dort aus als einfacher und armer Weber ein neues Leben anzufangen. «

 

Ergriffen nahm ich ihre Hände in die meinen und dankte ihr. Lísias Mutter schaute in die Ferne und sagte leise: »Auch ich bin sehr dankbar, mein Bruder. Ich glaube nicht, dass Du zufällig zu uns gekommen bist. Wir sind alle wie in einem Netz durch jahrhundertealte Freundschaften miteinander verbunden. In Kürze werde ich wieder zurück zur Erde gehen, trotzdem werden wir immer durch die Liebe miteinander verbunden sein. Ich hoffe, Dich noch vor meiner Abreise glücklich und voller Begeisterung zu sehen. Dieses Haus soll dein Heim sein. Sei mutig und vertraue Gott. «

 

Ihre Worte berührten mich und angesichts ihrer Zuneigung spürte ich wie es ist, wenn die reine Liebe uns einnimmt und in uns ein unbeschreibliches Gefühl des Glücks hinterlässt. Ich war überglücklich. Frau Laura kam mir so vertraut vor. Obwohl ich versuchte mich zu erinnern, konnte ich nicht herausfinden, woher ich sie kannte. Aber ich war mir sicher, dass wir uns in früheren Zeiten schon begegnet waren.

 

Ich wollte sie küssen, wie ein Sohn seine Mutter küsst, doch in dem Moment klopfte es an der Tür. Frau Laura sah mich an, und in ihrem Gesicht zeigte sich eine tiefe mütterliche Liebe.

 

»Es ist Rafael, der Dich abholen kommt. Geh, mein Freund, und denke an Jesus. Setze Dich für das Wohl anderer ein. Es ist der einzige Weg, um Dich selbst zu finden und, dass es Dir gut geht. «

 

 

 

(26)

 

NEUE AUSSICHTEN

 

 

Die weisen und fürsorglichen Ratschläge von Lísias Mutter wirkten nachhaltig auf mich ein. In Begleitung Rafaels machte ich mich auf den Weg zum Ministerium für Erneuerung, wo mich Minister Genésio erwartete.

 

Ich war überzeugt, dass es sich nicht um einen Besuch handeln würde, sondern um eine lehrreiche und nützliche Gelegenheit, zu dienen. Auf dem Weg dorthin genoss ich wieder die große Schönheit der neuen, mir unbekannten Gegend. Schweigsam folgte ich Rafael, doch merkwürdigerweise schwirrten keine Fragen in meinem Kopf herum. Stattdessen stellte ich an mir eine andere mentale Aktivität fest: Ich betete aus vollem Herzen zu Jesus, er möge mir bei der Verwirklichung meiner Vorsätze beistehen und dass es mir weder an Arbeit noch an Kraft fehlen möge, sievoranzutreiben. Das Gebet - früher stand ich ihm ablehnend gegenüber - liess mich jetzt eine ganz neue Erfahrung machen, was meinem Wunsch zu dienen, sehr förderlich war. Sogar Rafael zeigte sich ob meines Verhaltens verwundert, als würde er so etwas von mir nicht erwarten. Erstaunt blickte er mich immer wieder an.

 

Der Aérobus hielt vor einem großen Gebäude. Wir stiegen schweigend aus. Nach einigen Minuten standen wir vor dem ehrwürdigen, sehr sympathischen Minister Genésio, dessen Gesicht eine positive Energie ausstrahlte. Rafael stellte mich mit einigen freundlichen Worten vor. Der Minister fragte mich:

 

»Also Du bist unser Bruder André? « »Ja, ich bin es und stehe Ihnen zur Verfügung«, antwortete ich.

 

»Frau Laura hat mir Deine Ankunft angekündigt, sei willkommen! «

 

Rafael ließ uns wissen, dass er in seinem Sektor dringend erwartet werde und verabschiedete sich freundlich. Minister Genésio blickte mich an und sprach:

 

»Ciarencio hat mit großem Interesse von Dir gesprochen. Es kommen viele vom Ministerium für Hilfeleistung zu uns, um sich ein Bild von unserer Tätigkeit zu machen. Meistens entscheiden sich die Besucher dafür, hier zu bleiben und beteiligen sich an den Tätigkeiten unseres Ministeriums. «

 

Ich verstand sofort seine feine Anspielung und erwiderte:

 

»Das ist ebenfalls mein größter Wunsch. Ich betete zu Gott, meinen noch schwachen Geist zu stärken, so dass sich die Zeit, die ich hier verbringen werde, für mich zu einem nutzbringenden und lehrreichen Aufenthalt entwickeln kann. «

 

Genésio schien von meinen Worten berührt. Demütig und respektvoll bat ich den Minister:

 

»Herr Minister, ich begreife jetzt, dass ich meine Aufnahme im Ministerium für Hilfeleistung der Gnade des Höchsten verdanke und vielleicht auch der stetigen Fürbitte meiner Mutter. Ich muss auch gestehen, dass ich bis jetzt nur Nutznießer war und selbst noch gar nichts Nützliches leisten musste. Ich bin sicher, dass mein Platz hier inmitten der wiedergutmachenden Aktivitäten ist. Deshalb bitte ich, wenn es möglich ist, dass mein Besuchsrecht in ein Arbeitsrecht umgewandelt wird. Denn heute sehe ich mehr denn je ein, dass ich mich neu ausrichten muss, um neue innere Werte zu erlangen. Ich verweilte zu lange in nutzloser Eitelkeit und Selbstverherrlichung. «

 

Er merkte, dass ich es ehrlich meinte und dass es wirklich mein Herzenswunsch war.

 

»Als ich mich neulich an den Minister Clarêncio wandte, « sprach ich weiter, »war mir die Tragweite meines Begehrens nicht bewusst. Zwar wollte ich arbeiten, aber war ich bereit zu dienen? Ich hatte es noch nicht gelernt die Zeit zu nutzen, und die an Segen reichen Gelegenheiten zu schätzen. Eigentlich wollte ich nichts anderes, als der zu sein, der ich auf Erden gewesen bin: Der stolze und geachtete Arzt, Sklave seiner anmaßenden Forderungen, seines blinden Egoismus und gefangen in seiner eigenen Meinung. Dennoch hat mich das Gesehene und Gehörte bereits stark geprägt, und ich begreife, dass gegenüber Gott jeder seine Verantwortung zu tragen hat. Endlich bin ich gereift und sehe ein, dass die Art der Beschäftigung unerheblich ist. Ich möchte dienen! Von meiner Aussage überrascht, fragte mich der Minister:

 

»Bist du wirklich der einstige Arzt? «

 

»Ja, der bin ich«, sagte ich scheu. Genésio schwieg für einen Augenblick, als suche er für den Fall eine Lösung und sagte anschließend:

 

»Ich lobe Deine ehrlichen Absichten. Möge der Herr Dir helfen, Dich daran zu halten. «

 

Wie um mir Mut zu machen, und in meinem Geist Hoffnung aufkommen zu lassen, ergänzte er:

 

»Ist der Schüler bereit, dann sendet der Vater den Lehrmeister. Mit der Arbeit ist es dasselbe. Wenn der Diener bereit ist, bekommt er Arbeit. Die Vorsehung hat Dir, mein Freund, bis jetzt vieles zukommen lassen. Du zeigst Dich bereit, mit uns zu arbeiten, Verantwortung zu übernehmen und die Aufgaben anzunehmen. Diese Haltung kommt der Erfüllung Deiner Wünsche sehr entgegen. In irdischen Kreisen ist es üblich, dem Menschen zu gratulieren, wenn er finanziell erfolgreich ist oder er einen prestigeträchtigen Posten annimmt. Hier ist es anders, hier wird Verständnis, das eigene Bemühen, und die ehrliche Demut geschätzt. «

 

Er bemerkte meine Anspannung und schloss seine Bemerkungen mit folgenden Worten:

 

»Es ist wohl möglich, die passende Beschäftigung zu erhalten. Für den Moment jedoch ist es von Vorteil, wenn Du zuerst einmal alles anschaust, beobachtest und darüber nachdenkst. «

 

Danach begab sich der Minister ins nächste Büro und rief:

 

»Ich bitte um die Anwesenheit von Tobias, bevor er zur Rehabilitationsstation* geht. «

 

Nach einigen Minuten erschien in der Tür ein sympathischer Herr.

 

»Tobias, hier ist unser Freund André aus dem Ministerium für Hilfeleistung. Er ist hier, um zu beobachten. Ich glaube es wäre für ihn von großem Nutzen, wenn er sich in der Rehabilitationsstation umschauen würde, um den Ablauf der Arbeit kennen zu lernen. «

 

Wir begrüßten uns, und Tobias meinte liebenswürdig, dass er mir gerne zur Verfügung stehen würde. Indessen bat ihn der Minister:

 

»Geh bitte mit André in die Rehabilitationsstation, denn er sollte unsere Tätigkeit kennen lernen. Er soll über alles informiert werden. «

 

»Ich bin gerade auf dem Weg dorthin, « sagte Tobias. »Wenn Du willst, kannst Du mich gleich begleiten. «

 

»Ganz gewiss, ich komme gerne mit«, meinte ich strahlend. Minister Genésio umarmte mich herzlich. Nach einigen Worten des Zuspruchs, die mir Mut und Hoffnung gaben, verabschiedete er sich.

 

Tobias und ich durchquerten Quartiere und gingen an zahlreichen, großräumigen Gebäuden vorbei, die aussahen, als ob drinnen emsig gearbeitet wurde. Tobias sah meinen fragenden Blick und erklärte mir:

 

»Hier befinden sich die wichtigsten Fabriken der Kolonie Nosso Lar, in denen Fruchtsäfte, Stoffe und allgemeine Gebrauchsgegenstände hergestellt werden.

 

In diesen Fabriken arbeiten mehr als hunderttausend Geistwesen, die sich hier durch ihre Arbeit erneuern und veredeln wollen. «

 

Dann betraten wir ein imposantes Gebäude. Zahlreiche Arbeiter kamen und gingen. Nachdem wir lange Gänge durchschritten hatten, erreichten wir ein breites Treppenhaus, das zu den unteren Stockwerken führte.

 

»Gehen wir nach unten«, sagte Tobias sehr ernst. Ich schaute ihn befremdet an, weshalb er erklärte:

 

»Die Rehabilitationsstation befindet sich in der Nähe der Schwellenregion. Wenn in unserer Kolonie Bedürftige aus dieser Region in diese Station aufgenommen werden, können sie anfangs weder Helligkeit, noch die Atmosphäre der oberen Ebenen ertragen. «

 

 

 

(27)

 

ENDLICH ARBEIT!

 

 

Was sich mir jetzt zeigte, hätte ich mir nie vorstellen können. Ich erblickte weder ein Lazarett noch ein Krankenhaus im herkömmlichen Sinn. Es war eine Art von aneinander gereihten, miteinander verbundenen, großen Zellen, belegt mit zahlreichen, Leichen ähnlichen, menschlichen Gestalten.

 

Ich hörte eigenartiges Wehklagen, Gestöhne, Schluchzer, und zusammenhanglose Sätze. Ausgezehrte Gesichter, bis auf die Knochen abgemagerte Hände, sowie schreckliche Fratzen offenbarten, in welch großer spiritu­eller Not sich diese Geistwesen befanden. Ich war erschüt­tert. In Gedanken sprach ich ein Gebet, das mich wieder aufrichtete. Unbeeindruckt rief Tobias eine ältere Mitar­beiterin herbei.»Ich stelle fest, dass sehr wenige Helfer hier sind. Was ist geschehen? «, fragte er sie verwundert.

 

»Minister Flácus«, erklärte sie respektvoll, »hat angeordnet, dass die Mehrheit der Helfer die Samariter* in die Schwellenregion begleiten sollen, um ihnen beim heutigen Dienst zu helfen.

 

«Wir müssen uns doppelt anstrengen. Wir haben keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Tobias ruhig.

 

»Bruder Tobias! Bruder Tobias! Ich flehe Dich an«, schrie ein alter Mann wild gestikulierend, der sich wie ein Wahnsinniger an sein Bett klammerte, »ich ersticke! Das ist ja tausend Mal schlimmer als das Sterben auf der Erde... Hilfe! Hilfe! Ich möchte hier raus, ich brauche Luft. «

 

Tobias ging zu ihm und untersuchte ihn aufmerksam.

 

»Warum hat sich der Zustand von Ribeiro dermaßen verschlechtert? «, fragte Tobias die Frau.

 

»Er hatte einen schweren Anfall«, erklärte sie Tobias. Nach Aussage des Assistenten Gonçalves wurde dieser Anfall von dichten negativen Gedanken verursacht, die von seinen Verwandten ausgesandt und von Ribeiro aufgenommen wurden. Deshalb hat sich sein schon sehr verwirrter Zustand noch mehr verschlechtert. Da er sehr geschwächt und mental noch nicht genügend stark ist, um sich von der Familie, den stärksten Banden der Welt, zu lösen, kann er diesen Gedanken nicht entgegenwirken, wie es zu wünschen wäre.«

 

Wie ein liebender Vater streichelte Tobias die Wangen des Kranken. Die Mitarbeiterin der Station berichtete uns weiter:

 

»Sehr früh heute Morgen hat er sich ohne unsere Einwilligung von hier entfernt und rannte überstürzt hinaus. Er schrie, dass er nach Hause gehen wolle, dass er seine weinende Gattin und Kinder nicht vergessen könne, dass es grausam sei, ihn hier festzuhalten, fern von seiner Familie.

 

Lourenço und Hermes versuchten ihn dazu zu bewegen, wieder ins Bett zu gehen, doch es war unmöglich. Um ihn vor sich selbst zu schützen, gab ich ihm einen magnetischen Passe, der ihn ruhig stellte. «

 

»Du hast das Richtige getan«, lobte sie Tobias besorgt. »Es muss etwas gegen den negativen Einfluss seiner Familie getan werden. Ich werde veranlassen, dass ihr eine größere Last aufgebürdet wird. Das wird sie von Ribeiro ablenken und er wird zur Ruhe kommen können. «

 

Ich blickte den Patienten an und versuchte herauszufinden, wie es um ihn stand. In seinem Gesicht sah ich den Ausdruck eines Geistesgestörten. Als er nach Tobias rief, verhielt er sich wie ein Kleinkind, das seine Vertrauensperson zwar erkennt, aber nicht fähig ist, irgendetwas wahrzunehmen. Weil mich dies erstaunte, erklärte mir Tobias:

 

»Der Arme wird von Albträumen heimgesucht, in denen er ständig mit sich selbst und seinen Verfehlungen konfrontiert wird. Nun, mein Freund, es ist so, dass der Mensch bei seiner Rückkehr in das spirituelle Leben - das wahre Leben -, das vorfinden wird, was er für sich selbst aufgebaut hat. Während seines irdischen Daseins erlag Ribeiro leider vielen Illusionen. «

 

Schon wollte ich nach dem Ursprung seines Leidens fragen, und wie es dazu kam, dass er in einen solchen Zustand geraten konnte, da erinnerte ich mich an den weisen Ratschlag von Frau Laura, meine Neugierde betreffend, und schwieg lieber.

 

Tobias richtete liebevolle Worte voller Zuversicht und Hoffnung an den Kranken und versprach, ihm beim Genesen zu helfen. Des Weiteren ermahnte er ihn, sich ruhig zu verhalten und sich nicht darüber zu ärgern, dass er ans Bett gefesselt war. Dies sei nötig, damit er wieder gesund werde. Ribeiro zitterte, verzog sein wachsfarbenes Gesicht zu einem Lächeln und bedankte sich weinend bei Tobias.

 

Wir gingen durch viele Reihen von sorgfältig hergerichteten Betten, doch roch es hier sehr unangenehm. Es war, wie ich später erfuhr, die mentale Ausdünstung derjenigen, die noch die schmerzhafte Erinnerung des sterbenden physischen Körpers bewahrten und gelegentlich von niedrigen Gedankenformen beherrscht wurden.

 

»Diese Zimmer sind männlichen Geistwesen vorbehalten«, erklärte Tobias.

 

»Tobias! Tobias... Ich sterbe vor Hunger und Durst!«, brüllte einer.

 

»Bruder hilf mir!«, schrie ein anderer. »Um Gottes Willen ... ich halte es nicht mehr aus!« schrie ein anderer verzweifelt. Diese Szenen bohrten sich tief in mein Herz. Die Patienten taten mir unendlich leid. Ich rang mit mir und schließlich fragte ich Tobias:

 

»Mein Freud, weshalb sind sie hier?« Tobias antwortete sehr ruhig und besonnen:

 

»Wir dürfen hier nicht nur den Schmerz und Trostlosigkeit sehen. Die hier zu pflegenden Patienten konnten die Schwellenregion verlassen - wo sie, wegen ihrer Unvorsichtigkeit und Vernachlässigung ihrer geistigen Realität sehr zu leiden hatten. Nun bereiten sie sich auf die Arbeit des Wiederaufbaus ihres Höheren Selbsts vor. Ihre Tränen, ihr Leiden haben sie selbst verursacht. Bedenke, dass der Mensch immer das ernten wird, was er gesät hat.« In seine Gedanken versunken, meinte er nach einer Weile:

 

»Unsere Patienten sind Schmuggler, die dachten, sie könnten sich in das Ewige Leben einschmuggeln. « »Wie ist das zu verstehen? «, fragte ich interessiert. Er lächelte und sagte mit fester Stimme:

 

»Sie waren überzeugt, dass irdische und geistige Güter gleichgesetzt sind. Sie nahmen fälschlicherweise an, dass sie das schändliche Leben, welches sie auf Erden genossen hatten, die Macht des Geldes, die Auflehnung gegen das Gesetz und die Erfüllung ihrer kleinlichen Wünsche über die Grenze des Grabes hinaus schmuggeln könnten. Sie dachten, dass diese Werte hier den gleichen Stellenwert hätten und es ihnen die Tore zu neuen Torheiten öffnen werde. Sie benahmen sich während ihres irdischen Lebens wie leichtsinnige Geschäftsmänner, die nicht bedachten, dass, wenn sie andere Länder bereisen, die Währung ihres Landes in die lokale Währung umzutauschen ist. Sie haben es versäumt, ihre materiellen Güter gegen spirituelle Werte einzutauschen. Nicht einmal die Gewissheit über den Tod des Fleisches konnte sie dazu bewegen, spirituelle Werte zu erwerben, solange sie noch auf der Erde waren. Jetzt sind sie hier und was geschieht mit ihnen? Die einstigen Millionäre der physischen Ebene werden zu Bettlern des Geistes. « Tobias' Schilderungen waren sehr logisch und zeigten eine andere, mir unbekannte Realität.

 

Nachdem er Worte der Hoffnung und des Zuspruchs an die Patienten gerichtet hatte, führte er mich zu einem anderen, daneben liegenden, großen Zimmer.

 

»Sehen wir uns einige dieser Halbtoten an. «

 

Narcisa, die treue Mitarbeiterin der Rehabilitations­station, begleitete uns. Als die Tür geöffnet wurde, geriet ich ins Schwanken angesichts des bejammernswerten Bildes, das sich mir bot. Zweiunddreißig Männer, mit Furcht erregendem Gesichtsausdruck, lagen unbeweglich, kaum atmend in ihren Betten. Tobias zeigte in ihre Richtung und erklärte:

 

»Diese Leidenden - wir nennen sie "die Nichtgläubigen", versetzten wir in einen viel tieferen und schwereren Schlaf als wir es bei den meisten unserer unaufgeklärten Brüder tun. Denn sie hatten sich anstatt dem Herrn, dem kompromisslosen Egoismus verschrieben. Anstatt an das Leben, an die Arbeit und an das sich stets Entwickelnde zu glauben, anerkannten sie nur das Nichts, den Stillstand und den Triumph des Verbrechens. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verwandelten sie ihr physisches Leben in eine stetige Vorbereitung auf den langen, tiefen Schlaf, der danach folgen sollte. Da sie weder eine Ahnung vom Guten, noch vom Dienst zum Wohl der Menschheit haben, bleibt nicht anderes übrig, als sie für viele Jahre in einen tiefen Schlaf zu versetzen, in dem sie von fürchterlichen Albträumen gepeinigt werden. «

 

Staunend sah ich, wie Tobias den Patienten behutsam einen magnetischen Passé gab, damit sie wieder zu Kräften kamen. Als er die Behandlung der ersten zwei beendet hatte, floss aus ihren Mündern eine schwarze Substanz heraus. Es erweckte den Eindruck, als ob sie etwas Schwarzes und Klebriges erbrachen, das stark nach verwesendem Fleisch stank.

 

» Sie speien giftige Fluide aus, die sie in sich angesammelt haben«, erklärte mir Tobias sehr ruhig.

 

Narcisa bemühte sich, so rasch wie möglich den Raum zu reinigen. Da zahlreiche Patienten diese stinkende, schwarze Substanz von sich gaben, griff ich ein, nahm das Reinigungsmaterial und begann eifrig, mit zu säubern. Narcisa schien über meinen Einsatz erfreut zu sein. Auch Tobias schaute in meine Richtung und signalisierte Dankbarkeit und Zufriedenheit. Die Arbeit erstreckte sich über den ganzen Tag hinaus.

 

Keiner meiner damaligen irdischen Kollegen hätte erraten können, welche Befriedigung mir diese einfache Arbeit gab. Wie sich der einst stolze Arzt durch diese Tätigkeit auf einer bescheidenen Krankenstation voller Demut um die eigene Erneuerung bemühte.

 

 

 

(28)

 

IM DIENST

 

 

Nach dem gemeinschaftlichen Abendgebet stellte Tobias das Funkgerät an, um Nachrichten von den in der Schwellenregion arbeitenden Samaritern zu empfangen. Ich war begierig, mehr darüber zu erfahren. Man teilte mir mit, dass sich Gruppen, die sich an Unternehmen dieser Art beteiligen wollten, zur vereinbarten Zeit in der Arbeitszentrale per Funk melden sollten.

 

Obwohl ich durch die anstrengende Arbeit etwas müde war, schien in meinem Herzen die Sonne. Freude breitete sich aus. Ich war glücklich darüber, wieder arbeiten zu können und nützlich zu sein. Arbeit ist nicht nur die beste Medizin, sie stärkt auch den Geist. Der Kontakt zu den Samaritern wurde hergestellt und aus dem Funkgerät hörte man nach kurzer Pause eine Stimme:»Die Samariter rufen das Ministerium für Erneuerung! Die Samariter rufen das Ministerium für Erneuerung! Es gibt viel zu tun in den finsteren Abgründen der Schwellenregion. Wir haben eine beachtliche Anzahl von unseligen Brüdern verlegen können: Neunundzwanzig konnten wir der spirituellen Finsternis entreißen, davon sind zweiundzwanzig geistig verwirrt und sieben psychisch sehr geschwächt. Unsere Gruppe organisiert ihren Transport. Wir werden einige Minuten nach Mitternacht ankommen und bitten Euch, alles zum Empfang vorzubereiten. «

 

Narcisa und Tobias sahen sich erstaunt an. Als der Sprecher seinen Funkspruch beendet hatte, konnte ich mich nicht zurückhalten und fragte:

 

»Wie ist das gemeint? Warum dieser Massentransport? Handelt es sich hier nicht auch um Geistwesen? « Tobias erklärte lächelnd:

 

»Es scheint, dass Du vergessen hast, wie Du selbst im Ministerium für Hilfeleistung angekommen bist. Ich kenne die Geschichte deiner Ankunft in Nosso Lar: Du bist auf die gleiche Weise hierher gebracht worden. Vergessen wir nicht, dass auch in der Natur sich alles allmählich und nach ganz bestimmten Regeln abgewickelt. Dass wir sowohl auf Erden, als auch in den Kreisen der Schwellenregion immer noch von sehr schwerem Fluidum umhüllt sind. Wir können dies vergleichen mit zwei Vögeln: Beide haben Flügel. Der erste, der Strauss, kann trotz seiner Flügel nicht fliegen und wenn er in die Höhe steigen möchte, muss er dorthin gehoben werden. Der zweite, die Schwalbe, kann dank ihrer Flügel schnell den Himmel erreichen und die Lüfte durchkreuzen. «

 

Ich merkte, dass Tobias keine Zeit hatte, meine weiteren Fragen zu beantworten, denn er wandte sich an Narcisa:

 

» Heute Abend kommt eine große Gruppe an. Wir müssen sofortige Maßnahmen ergreifen. «

 

»Wir werden viele Betten benötigen! «, meinte Narcisa besorgt.

 

»Mache Dir keine Sorgen«, sagte Tobias », wir werden die Verwirrten im Pavillon 7 und die Entkräfteten in der Station 33 unterbringen. « Er dachte etwas nach und sagte anschließend ernst:

 

»Die Unterbringung der Patienten ist insofern kein Problem, da genügend Platz vorhanden ist. Was wirklich zu einem Problem werden kann, ist, dass uns tüchtige Betreuer für diese Aufgabe fehlen.     himmels-engel.de

 

Angesichts der Bedrohung, die zurzeit von den Mächten der Finsternis ausgeht und über der Erde und den Menschen schwebt, wurden die Fähigsten an die Erdoberfläche entsandt, wo sie die Kommunikation zwischen den beiden Ebenen gewährleisten sollen.

 

Wir brauchen Betreuer, welche die Nachtschicht übernehmen können. Es ist vorauszusehen, dass die Betreuer der Rehabilitationsstation die mit den Samaritern zurückkommen werden, mit Sicherheit sehr müde sind. «

 

»Ich stehe gerne zur Verfügung«, sagte ich spontan. Tobias schaute mich an. Sein Blick drückte Dankbarkeit aus, worüber ich mich sehr freute.

 

»Bist du tatsächlich bereit, die Nacht hier in der Station zu verbringen? «, fragte er überrascht.

 

»Tun es die anderen nicht auch? Ich bin bereit und fühle mich kräftig genug die Schicht zu übernehmen. Ich muss die verlorene Zeit nachholen. «

 

Tobias umarmte mich und sagte dankbar: »Also gut, ich nehme Dein Angebot an. Ich vertraue Deinem guten Willen, uns helfen zu wollen. Narcisa und die anderen Kollegen werden auch wachen. Ich werde noch Venäncio und Salústio, zwei Mitbrüder meines Vertrauens, hierher schicken. Ich kann leider nicht zur Nachtschicht bleiben, da ich bereits andere Verpflichtungen übernommen habe. Ich werde einen Arbeitsplan erstellen, damit die Arbeit so leicht wie möglich erledigt werden kann. Sollte ein Notfall eintreffen, können Du oder die anderen mich jeder Zeit erreichen und mir Bericht erstatten. «

 

Nun wurden alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Narcisa und fünf weitere Helfer bereiteten die benötigte Wäsche und das Pflegematerial vor, während Tobias und ich schweres Material vom Pavillon 7 zur Station 33 brachten. Ich hätte nicht erklären können, was mit mir geschah, verspürte ich doch, wie ein starkes Glücksgefühl in mir aufkam. Ich verstehe jetzt, dass für die Beschäftigten in den Arbeitsstätten, die den wahren Wert der Arbeit erkannt haben, das Dienen die höchste aller Freuden ist. Dabei dachte ich nicht an den Stunden-Bonus oder an eine sofortige Belohnung für meinen Einsatz. Dennoch empfand ich eine tiefe Befriedigung, weil ich glücklich und mit ruhigem Gewissen meiner Mutter und den Wohltätern, die ich im Ministerium für Hilfeleistung kennen gelernt hatte, entgegentreten konnte.

 

Als Tobias mich zum Abschied umarmte, sagte er: »Der Frieden Jesu sei mit Dir. Ich wünsche Dir eine gute Nacht und einen guten Dienst. Morgen um acht Uhr kannst Du dann ausruhen. Wie Du vielleicht weißt, beträgt unser normales tägliches Arbeitspensum zwölf Stunden, aber wir befinden uns eben in einem Ausnahmezustand. «

 

Ich sagte ihm, dass ich seine Anweisung freudig akzeptiere. Allein mit den vielen Betreuern, konnte ich mich nun den Kranken widmen. Unter den Diensttuenden beeindruckte mich die liebevolle und spontane Art Narcisas. die sich der Kranken wie eine Mutter annahm. Angezogen von ihrem großzügigen Wesen, versuchte ich mit ihr ins Gespräch zu kommen, was nicht schwierig war. Diese freundliche Frau glich einem offenen Buch voller Liebe und Weisheit. Wir unterhielten uns ruhig und in voller Harmonie.

 

»Arbeitet meine Schwester schon lange hier? «, fragte ich.

 

»Ja, seit sechs Jahren und einigen Monaten leiste ich Aktivdienst in der Rehabilitationsstation. Es fehlen mir jedoch drei Jahre, um meinen Wunsch ausführen zu können. Ich habe eine Verpflichtung zu erfüllen. «

 

»Was meinen Sie? «, fragte ich interessiert. »Ich habe mich verpflichtet, einige inkarnierte, geliebte Geistwesen zu finden, damit wir unseren spirituellen Fortschritt gemeinsam vorantreiben. Wegen der Verirrungen der Vergan­genheit habe ich vergebens um die Möglichkeit gebeten, mein Vorhaben verwirklichen zu können. Ich war verstört und ängst­lich, als mir geraten wurde, Ministerin Veneranda um Hilfe zu ersuchen. Unsere Wohltäterin im Ministerium für Erneuerung versprach, sich meinem Anliegen anzunehmen und es dem Mi­nisterium für Hilfeleistung vorzulegen. Sie versprach dies aller­dings unter der Bedingung, dass ich mich verpflichte, für zehn Jahre hier zu dienen, um an mir gewisse, aus dem Gleichge­wicht geratene Emotionen zu berichtigen. Im ersten Moment wollte ich das Angebot ablehnen, denn die an mich gestellten Anforderungen schienen mir zu hoch zu sein. Ich erkannte je­doch rechtzeitig, dass sie recht hatte und es gut mit mir meinte. Ich verstand auch, dass es mir und nicht ihr, sehr viel Nutzen bringen würde. In der Tat habe ich sehr viel dadurch gewon­nen. Mit der Zeit bin ich innerlich ruhiger, ausgeglichener und barmherziger geworden. Spirituell gereift, hoffe ich, meine zu­künftige irdische Existenz würdevoll leben zu können. «

 

Ich wollte ihr meine Bewunderung ausdrücken, als wir von einem Kranken unterbrochen wurden, der schrie: »Narcisa! Narcisa!«

 

Ich durfte diese ergebene Schwester, die zur spirituellen Mutter der Leidenden wurde, nicht länger aufhalten, nur weil ich aus persönlichen Gründen noch mehr über sie erfahren wollte.

 

 

 

(29)

 

FRANCISCOS WAHRNEHMUNG

 

 

Während Narcisa den verzweifelten Patienten tröstete, teilte man mir mit, dass ich am internen Telefon verlangt werde. Es war Frau Laura. Sie wollte wissen wie es mir ergangen sei. Ich hatte tatsächlich vergessen, ihr mitzuteilen, dass ich in dieser Nacht arbeiten würde. Ich entschuldigte mich bei meiner Wohltäterin und berichtete ihr schnell, was geschehen war. Es war durch den Apparat hörbar, wie Lísias Mutter an meiner Freude teilnahm.

 

»Ich gratuliere Dir, mein Sohn! Liebe Deine Arbeit und diene mit Hingabe. Das ist der Weg, den wir gehen müssen, um unsere innere Wandlung für die Ewigkeit zu vollziehen. Vergiss nicht, dass Du bei uns ein Zuhause hast. « sagte sieDanach verabschiedeten wir uns. Diese Worte der Freundschaft spornten mich noch mehr an. Ich ging zu den Kranken zurück und sah wie Narcisa sich bemühte, einen jungen Mann zu beruhigen, der sichtlich verstört war. Ich eilte ihr zur Hilfe. Der Arme blickte verzweifelt ins Leere und rief ängstlich:

 

»Gott hilf mir, ich fürchte mich! « In seinen Augen war schreckliche Furcht zu lesen. Er schrie:

 

»Schwester Narcisa da kommt es, das Ungeheuer! Ich spüre die Würmer. Es, kommt, bitte Schwester, befreie mich!«

 

»Beruhige Dich Francisco«, forderte sie ihn auf. »Du kannst Dich selbst befreien und Deine Ruhe und Freude wieder finden. Es wird auf Dich selbst ankommen, ob es Dir gelingen wird. Ich helfe Dir: Stell Dir vor, dein Gehirn ist wie eine Galerie, in der viele Bilder ausgestellt sind. Wenn Dir eines der Bilder nicht gefällt oder Dir Angst einflösst, kannst Du es von der Wand entfernen und wegwerfen. «

 

Der Kranke zeigte guten Willen und beruhigte sich, solange er ihre freundliche Stimme hörte. Bald hatte er aber einen Rückfall. Aschfahl im Gesicht schrie er voller Verzweiflung:

 

»Aber Schwester, schau... es verlässt mich nicht und plagt mich wieder! Schau nur, was es tut. «

 

»Ich sehe es Francisco«, sagte sie beruhigend. »Du musst Dich bemühen. Zusammen werden wir es vertreiben. « »Dieses teuflische Gespenst«, sagte Francisco und weinte wie ein Kind. Er tat uns leid.

 

»Vertraue Jesus und vergiss das Ungeheuer. Das Gespenst wird sich von uns entfernen« sprach die Schwester mitfühlend.

 

Sie gab ihm einen magnetischen Passé, der ihn beruhigte und seine Energien erneuerte. Francisco bedankte sich bei ihr. Seine Augen leuchteten vor Freude, als er sagte:

 

»Jetzt bin ich ruhiger. «

 

Narcisa bat eine der Pflegerinnen, ihm ein Glas magnetisiertes Wasser* zu bringen. Ihre beispiellose Hingabe steckte mich an. Das geschieht, weil das Gute, wie auch das Böse, eine magische Anziehungskraft besitzt und ansteckend wirkt. Narcisa begriff, dass mein Wunsch zu lernen ehrlich war und zeigte sich bereit, mich in die erhabenen Geheimnisse des Dienens einzuführen. Beeindruckt wollte ich zuerst von ihr wissen, wovon der Kranke sprach. Könnte es sein, dass er von einem mir nicht sichtbaren Schatten belagert wurde? Die erfahrene Pflegerin der Rehabilitationsstation antwortete lächelnd.

 

»Er sieht seine eigene Leiche. «

 

»Wie bitte? « fragte ich verblüfft.

 

»Zu seinen Lebzeiten hatte er eine starke Bindung zu seinem physischen Leib « erläuterte sie » und als er, nach einem durch Fahrlässigkeit selbst verursachtem Unfall in die spirituelle Sphäre eintrat, verharrte er lange Zeit an der Seite seiner körperlichen Überreste. Er konnte sich den neuen Umständen nicht anpassen und versuchte immer wieder, den leblosen Körper aus dem Grab zu hieven. In seiner panischen Angst, sich mit dem Tod seines Körpers befassen zu müssen, verging viel wertvolle Zeit. Er war derart befangen und verzweifelt, dass er sich von seinem im Grab liegenden Körper nicht trennen konnte. Auch gelang es den Geistwesen aus Höheren Sphären nicht, ihn zu beschwichtigen und ihm klar zu machen, dass das Leben im Jenseits weiter geht. Er entzog sich ihrer Einflussnahme. Letztendlich haben ihm die Würmer dermaßen zugesetzt, dass er voller Entsetzen das Grab verliess. Fortan irrte er in den Niedrigeren Sphären der Schwellenregion herum bis seine damaligen Eltern auf Erden - die große spirituellen Verdienste erlangt hatten - , sich in Nosso Lar für ihn einsetzten und baten, ihn in der Kolonie aufzunehmen. Die Samariter holten ihn fast unter Zwang und brachten ihn hierher. Sein Zustand ist so ernst, dass er die Station nicht so schnell verlassen wird. Der Freund, der auf Erden sein Vater war, befindet sich im Moment auf einer sehr riskanten Mission, sehr weit weg von Nosso Lar. «

 

»Besucht er den Kranken? «, fragte ich.

 

»Er ist schon zwei Mal hier gewesen. Es berührt mich sehr zu sehen, wie er still leidet. Der junge Mann ist so verwirrt, dass er seinen gütigen und großzügigen Vater nicht erkennt. Er schreit und ist verängstigt, was ein Zeichen seiner schlimmen Demenz ist. Vor einiger Zeit besuchte der Vater seinen Sohn in Begleitung des Ministers Pádua vom Ministerium für Kommunikation. Während der Anwesenheit seines Freundes, dem er den Aufenthalt seines unglücklichen Sohnes in dieser Kolonie verdankt, zeigte er große, ja erhabene emotionale Stärke. Beide sprachen über die Situation der Neuankommenden aus den irdischen Regionen. Dann verabschiedete sich der Minister, da er noch andere Pflichten hatte. Franciscos Vater bat mich, sein menschliches Verhalten zu entschuldigen, kniete vor dem Kranken nieder und legte seine Hände in dessen Hände. Es sah so aus, als würde er seinem erkrankten Sohn stärkende Lebensenergien übertragen. Er küsste ihn auf die Stirn und weinte hemmungslos. Auch ich musste weinen und ließ sie allein. Ich weiß nicht, was zwischen den Beiden geschehen ist, aber ich stellte fest, dass nach diesem Besuch sich der Zustand Franciscos besserte. Die Demenz an der er litt, ist stark zurückgegangen und tritt nur noch phasenweise und immer seltener auf. «

 

Die Geschichte Franciscos erschütterte mich.

 

»Aber wie ist es möglich, dass er sich vom Bild seiner eigenen Leiche verfolgt fühlt? « fragte ich Narcisa. »Das Bild, das Francisco verfolgt, ist der Albtraum, von dem viele Geistwesen heimgesucht werden, nachdem sie den Tod ihres physischen Körpers miterlebten. Weil sie sich zu fest an ihren physischen Leib Mammern, ihre ganze Konzentration nur ihm gilt und sie nur für den Körper und von ihm leben, ihn hegen und pflegen, erhält er zuweilen einen Kultstatus. Wenn der alles erneuernden Wind des Todes sie einholt, sind sie unfähig, ihren verehrten Körper loszulassen, jede Andeutung, dass sie eigentlich ein geistiges Wesen seien, wird von ihnen abgelehnt. Sie kämpfen verzweifelt um die Erhaltung ihres irdischen Körpers. Wenn dann die gefräßigen Würmer auf dem Plan erscheinen, flüchten sie entsetzt angesichts des fürchterlichen Anblickes ihres sich zersetzenden Fleischkörpers. Die fehlende Einsicht über ihren wahren Zustand führt sie dazu, eine noch auffälligere Verhaltensweise anzunehmen.

 

Sie lassen sich von selbst erzeugten Bildern ihres Leichnams beherrschen, die sie bis ins Innere ihrer Seele erschüttern. Hinzu kommen Verwirrungen und Krisen von mehr oder weniger langer Dauer. Ihr Leiden hat erst ein Ende, wenn sich ihr physischer Körper endlich vollständig aufgelöst hat. «

 

Ich war zutiefst ergriffen. Narcisa sagte zum Schluss: »Dank Gott durfte ich in den letzten Dienstjahren viel lernen. Ach, André, wie viele unserer inkarnierten Geschwister schlafen noch und sind für die spirituelle Realität noch nicht erwacht. Diese Tatsache soll uns zum Nachdenken anregen aber sie darf uns nicht belasten. Die Schmetterlingspuppe hängt an der leblosen Materie fest, trotzdem kann der Schmetterling nach der Metamorphose in die Lüfte fliegen. Auch aus dem fast unscheinbaren Samen wächst eine starke Eiche. Die abgestorbene Blume kehrt zur Erde zurück, aber ihr Duft schwebt weiterhin in der Luft. Jedes Leben im embryonalen Stadium scheint zu schlafen. Das sind Lektionen, die wir nie vergessen dürfen. «

 

Narcisa schwieg, und ich wagte es nicht, ihr Schweigen zu stören.

 

 

 

(30)

 

ERBSCHAFT UND EUTHANASIE

 

 

Ich stand nachdenklich da, als Salústio sich uns näherte und zu Narcisa sagte:

 

»Unsere Schwester Paulina möchte ihren kranken Vater im Pavillon 5 besuchen. Ich dachte es sei besser, erst nach Ihrer Meinung zu fragen, bevor ich es ihr erlaube. Der Zustand des Patienten ist immer noch kritisch. « Narcisa antwortete freundlich:

 

»Sie soll gleich eintreten. Die Ministerin hat ihr die Bewilligung dazu erteilt, weil sie sich in ihrer Freizeit für die Wiedervereinigung ihrer Familie einsetzt, meinte sie. « Der Bote verabschiedete sich schnell.

 

»Sie ist eine sehr liebe und fürsorgliche Tochter. « sagte Narcisa zu mir.

 

Nach kurzer Zeit stand Paulina vor uns. Sie trug ein leichtes, aus leuchtender Seide gewobenes Gewand, das ihre Schönheit sehr betonte. In ihrem schönen Gesicht mit engelhaften Zügen spiegelte sich jedoch ihr Kummer. Narcisa stellte uns vor und Paulina fragte, ohne sich an meiner Gegenwart zu stören, sehr besorgt:

 

»Meine Freundin, wie geht es meinem Vater? «

 

»Etwas besser«, antwortete die Pflegerin, »aber er ist immer noch sehr verwirrt. «

 

»Es ist zu bedauern«, sagte die junge Frau, «dasserund meine Geschwister in diesem mentalen Zustand verharren. Unnachgiebig sind sie Gefangene des gegenseitigen Hasses und der Bitterkeit. «

 

Narcisa bat uns, sie zu begleiten. Nach einigen Minuten standen wir vor einem alten Mann. Sein grimmiges, zerfurchtes Gesicht, sein Blick, seine zerzausten Haare und die zusammengepressten Lippen, lösten in mir eher Mitleid denn Sympathie aus. Trotzdem strengte ich mich an, die aufkommende Abneigung zu überwinden und in ihm nicht nur den Leidenden, sondern auch meinen Geistbruder zu sehen. Das bewirkte, dass der Eindruck des Ekels, den er in mir erweckte, verschwand. Als ich - befreit von Vorurteilen ihn dort liegen sah, musste ich an meine eigene Ankunft im Ministerium für Hilfeleistung denken und fragte mich, wie ich denn damals wohl ausgesehen hatte, als meine Verzweiflung meinem Gesicht abzulesen war. Wenn wir das Unglück anderer sehen, werden wir uns unserer eigenen Mängel bewusst und spüren, wie in uns das Mitgefühl für unsere Brüder erwacht. Der alte, kranke Mann hatte für seine Tochter, die ihn liebevoll begrüßte, kein freundliches Wort übrig. Auflehnend und feindselig dreinblickend, sah er aus wie ein wildes Tier in menschlicher Gestalt.

 

»Vater geht es Dir besser? «, fragte sie ihn zärtlich.

 

» Oh!! Oh!! «, schrie der Kranke mit schriller Stimme.»Ich kann diesen gemeinen Kerl nicht vergessen, ich finde keine Ruhe, ich sehe ihn immer noch an meiner Seite, wie er mir das tödliche Gift spritzt. «

 

»Sag das nicht, Vater«, bat die Tochter ihren Vater mit sanfter Stimme.»Vergiss nicht, dass Edelberte uns von Gott geschickt wurde. «

 

»Mein Sohn?!«, schrie der Unglückselige.» Nie und nimmer! Er ist ein Verbrecher der keine Vergebung verdient. Er ist ein Kind des Teufels! «

 

Paulina, den Tränen nahe, sprach zu ihm: »Weißt Du noch, was Jesus uns lehrte? Wir sollen einander lieben. Wir treffen uns auf Erden innerhalb einer Familie wieder, damit wir die wahre spirituelle Liebe erlernen.

 

Wichtig für uns ist die Erkenntnis, dass es nur einen Vater gibt, der wirklich ewig ist - Gott. Der Herr des Lebens gibt uns die Möglichkeit durch die Vater- oder Mutterschaft die Brüderlichkeit ohne Makel zu erlernen. Die irdische Familie hilft uns, dass wir die universelle Solidarität gemeinsam erlangen können; sie hilft uns, zugleich unsere Gefühle zu vervollkommnen. Die Familie kann aber auch ein Tempel sein, in dem erhabene Vereinigungen stattfinden. Bis wir uns tatsächlich Geschwister nennen können, werden wir viele Kämpfe austragen müssen und werden viel zu leiden haben. Wir gehören alle zur gleichen Schöpfungsfamilie, die unter der fürsorglichen Gnade des einzigen Vaters steht. «

 

Als der kranke Vater ihre sanfte Stimme hörte, begann er krampfartig zu weinen.

 

»Vater, vergib Edelberto! Sieh in ihm nicht den leichtsinnig handelnden Sohn, sondern den Bruder, der aufgeklärt werden muss. Ich war bei uns Zuhause auf der Erde und stellte fest, dass dort eine äußerst negative Stimmung herrscht. Diese Stimmung kommt von den Gedanken die Du ihnen schickst. Sie sind von Deiner Enttäuschung und von Deinem Unverständnis geprägt. Sie verhalten sich auf ähnliche Weise und so werden eure negativen Gedanken hin und her gesandt. Gedanken sind wie feine Wellen, die auch das entfernteste Ziel nicht verfehlen. Der Austausch von Hass und Groll verursacht in den Seelen großes Leid. Unsere Mutter, von Verzweiflung gekennzeichnet, wurde vor einigen Tagen in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Wegen der Streitigkeiten um das große Vermögen, das Du während Deines irdischen Daseins angehäuft hast, gehen jetzt Amália und Cacilda gerichtlich gegen Edelberto und Agenor vor. Es ist ein trauriges Bild, das verändert werden könnte, wenn Du nicht Deine Gedanken der Rache nähren und sie immerzu aussenden würdest. Du liegst hier und Dein Zustand ist ernst und auf Erden ist es Mutter, die in einem Zustand des Wahnsinns lebt. Deine Kinder hassen sich und, inmitten dieser aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen, steht das große Vermögen. Was ist es wert, wenn sie sich nicht lieben können? «

 

»Aber ich habe mein ganzes Vermögen der Familie hinterlassen«, sagte der betagte Mann grollend. »Ich meinte es nur gut mit ihnen. «

 

Paulina unterbrach ihn und sprach weiter: »Wenn es um das Vermögen geht, das uns nur vorübergehend gehört, wissen wir meistens nicht was wirklich gut ist. Hättest Du dafür gesorgt, dass unseren Lieben Werte, wie ehrliche Arbeit und moralische Verantwortung vermittelt worden wären, hätten sie einer ruhigen Zukunft entgegenblicken können. Dann wären deine Bemühungen und deine Fürsorge sehr wertvoll gewesen. Leider bemühen wir uns lediglich aus Eitelkeit und Ehrgeiz darum, Geld anzuhäufen, denn wir wollen gegenüber den anderen gut dastehen. Doch all das wird uns erst nach dem physischen Tod bewusst. Nur wenige sind darum bemüht, sich hochgeschätzte Tugenden wie Toleranz, Bescheidenheit, Demut und Verständnis anzueignen. Wir zwingen unsere Regeln anderen auf, entfernen uns von Gott und vergessen leider, an der Vervollkommnung unseres Geistes zu arbeiten. Keiner wird auf die Erde geboren mit der Bestimmung, Geld oder Wertsachen anzuhäufen. Solange wir im physischen Leben stehen, ist es unser Recht, Vorkehrungen für das irdische Dasein zu treffen. Aber es bedarf auch treuer und weiser Menschen, die es im guten Sinne verwalten können. Ein Geiziger und Herrschsüchtiger wird niemals des Vaters treuer Verwalter sein können. Auf diese Weise wurde unsere Familie zerstört. Vergebens habe ich versucht, euch spirituelle Hilfe zukommen zu lassen. Während Du und Mutter Euch aufgeopfert und immer mehr Güter angehäuft habt, haben es Amália und Cacilda versäumt, sich nützlich zu machen. Sie sind faul und leben in einer oberflächlichen Gesellschaft, wo sie Müßiggängern begegnet sind, die sie aus finanziellen Interessen geheiratet haben. Agenor brach sein Studium ab und verkehrt in schlechter Gesellschaft.

 

Edelberto wurde zwar Arzt, hat der Medizin aber sehr schnell den Rücken gekehrt und übt sie nur noch sporadisch aus. So, wie es solche tun, die den Arbeitsplatz nur noch aus Neugierde besuchen. Alle haben wertvolle Möglichkeiten des spirituellen Wachstums versäumt. Vom schnellen und leichten Geld angetan, gilt ihr Interesse nur noch der Erbschaft. «

 

Mit einem Ausdruck des Schreckens im Gesicht schrie der Kranke:

 

»Verdammter Edelberto! Verbrecher, undankbarer Sohn! Er tötete mich ohne Mitleid. Und ich hätte noch das Testament regeln wollen. Mieser Kerl!... Mieser Kerl.«

 

»Beruhige Dich Vater! Habe Mitleid mit Deinem Sohn, vergib ihm und vergiss! «

 

Der alte Mann lästerte laut weiter. Die junge Frau wollte mit ihrem Vater diskutieren, aber Narcisa warf ihr einen Blick zu und gab ihr zu verstehen, sie solle es lassen. Narcisa rief Salústio heran, um den Kranken zu beruhigen. Schweigend streichelte Paulina die Stirn ihres Vaters und hatte Mühe nicht zu weinen.

 

Verblüfft verließ ich später den Raum in Begleitung der beiden Frauen. Die Freundinnen setzten ihre Unterhaltung fort. Danach bedankte sich Paulina herzlich und verabschiedete sich von uns. In ihrem Antlitz jedoch war der Kummer zu sehen. Wieder mit Narcisa allein, klärte die mich auf:

 

»Meistens ist eine Erbschaft für alle Beteiligten eine heikle und verwickelte Angelegenheit. Nur sehr selten kann der Nachlass problemlos geregelt werden. Nehmen wir zum Beispiel den Fall von Paulinas Familie. Hier geht es nicht nur um die Erbschaft, sondern auch um Euthanasie. Bedenke bitte, dass die ausgeprägte Gier nach Geld in ihrer Familie zu Zerwürfnis und Auseinandersetzung geführt hat. Geldgierige und geizige Eltern haben oft verschwenderische Kinder. Ich habe die Familie unserer Freundin Paulina auf der Erde besucht und sah, wie der Bruder Edelberto, ein vornehm aussehender Arzt, seinem im Sterben liegenden Vater den sanften Tod brachte. Wir haben vergebens versucht es zu verhindern. Der unselige Sohn hat tatsächlich aus finanziellen Gründen seinem Vater einen raschen Tod zugefügt. Diese Unbesonnenheit ist die Ursache des gegenwärtigen Hasses und des schlechten Zustands unseres Patienten.»

 

Narcisa beendete ihre Rede mit den weisen Worten:

 

» Gott erschuf den Himmel und uns Menschen. Wir aber verwandeln uns immer noch in teuflische Wesen, die in selbst gemachten Höllen leben. «

 

 

 

(31)

 

VAMPIRE

 

 

Es war einundzwanzig Uhr und wir hatten, abgesehen von den kurzen Gesprächen, in denen wir nach Lösungen für spirituelle Probleme suchten, noch nicht viel Muße gehabt, uns auszuruhen.

 

Hier war ein Patient, der um Hilfe bat, dort ein anderer, dem wir einen magnetischen Passé geben mussten. Als wir uns auf den Weg machten, um im Pavillon 11 nach zwei Patienten zu sehen, hörte ich lautes Geschrei. Instinktiv wollte ich mich nähern, aber Narcisa hielt mich zurück und sagte:

 

»Geh bitte nicht weiter, an jenem Ort sind die sexuell Verwirrten untergebracht. Es wäre kein schöner Anblick für Dich. Warte, bis Du besser darauf vorbereitet bist. «

 

Obschon ich nicht auf dem Besuch dieser Abteilung bestand, bedrängten mich doch tausend Fragen. MeinForschergeist machte sich wieder bemerkbar, ich erinnerte mich jedoch an die präzise Anweisung von Lísias Mutter, mich nicht von meiner wahren Aufgabe ablenken zu lassen. Aus dem hinteren Teil des riesengroßen Parks kam ein Mann mit sonderbarem Gesichtsausdruck auf uns zu. Sie wandte sich zu ihm und fragte:

 

»Was gibt es Justino? Musst Du mir etwas ausrichten?«

 

Der Arbeiter, der zur Aufsichtsmannschaft der Rehabilitationsstation gehörte, sagte besorgt:

 

»Ich bin nur gekommen, um mitzuteilen, dass am großen Tor, welches zum Ackerland führt, eine Frau um Hilfe bittet. Ich glaube, sie konnte unbemerkt am ersten Kontrollposten vorbeigehen. «

 

»Und warum habt ihr der Frau nicht geholfen? «

 

Auf die Frage Narcisas antwortete er schüchtern: »Unserem Befehl folgend können wir ihr nicht helfen, weil die arme Frau viele schwarze Flecken auf ihrem Körper hat. «

 

»Was sagst Du da? «, fragte Narcisa erschrocken.

 

»Es ist so. «

 

»Also dann ist es ein ernstes Problem. «

 

Neugierig folgte ich ihr quer durch das vom Mondschein erhellte Ackerland, denn der beschriebene Kontrollposten lag nicht gerade in der Nähe. Auf dem Weg dorthin durchquerten wir eine sehr große Parkanlage deren Bäume Seite an Seite standen und sich im sanften Wind wiegten. Wir hatten schon mehr als einen Kilometer zurückgelegt, bis wir vor dem großen Tor standen und dort die bedauernswerte Frau, die um Hilfe flehte, erblickten. Narcisa, sonst normalerweise die Ruhe selbst, zeigte sich überrascht und beunruhigt von dem, was sie scheinbar erkannte, das ich aber nicht wahrnehmen konnte. Ich sah die Gestalt einer Frau in zerfetztem Kleid, mit einem schrecklichem Gesicht, und Beinen mit offenen Wunden.

 

»Kinder Gottes«, schrie die Frau als sie uns sah, »gebt meiner müden Seele ein Obdach. Wo ist das Paradies der Auserwählten? Ich will endlich dorthin gehen um den ersehnten Frieden genießen zu können. «

 

Diese jammernde Stimme berührte mich. Auch Narcisa war erschüttert. Leise fragte sie mich:

 

»Siehst Du die schwarzen Flecken an der Frau? «

 

»Nein, ich sehe nichts«, antwortete ich.

 

»Ach ja, Deine Wahrnehmungsfähigkeit ist noch nicht so entwickelt, deshalb kannst Du sie nicht sehen. «

 

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

 

»Wenn es in meiner Kompetenz liegen würde, ließe ich das Tor sofort für sie öffnen. Da sich uns dieses Geistwesen in diesem Zustand zeigt, darf ich überhaupt keine Maßnahme treffen. Ich muss erst mit dem diensthabenden Chef der Aufsichtsmannschaft sprechen. «

 

Sie näherte sich der Frau und sagte in höflichem Ton zu ihr:

 

»Bitte warten Sie hier. «

 

Nach diesem Erlebnis kehrten wir in das Innere der Rehabilitationsstation zurück. Zum ersten Mal hatte ich Kontakt zum Vorsteher der Wachmannschaft, die für die Bewachung dieser Station zuständig war. Narcisa stellte mich ihm vor und berichtete ihm über das Geschehene. Er hörte aufmerksam zu, nickte und sagte:

 

»Es ist gut, dass ich über den Fall informiert wurde. Gehen wir gemeinsam zu ihr. «

 

Als wir wieder dort ankamen, warf Bruder Paulo, so hieß der Vorsteher, einen Blick auf die Frau aus der Schwellenregion und sagte zu uns:

 

»Diese Frau ist vorerst nicht berechtigt von uns Hilfe zu bekommen, denn sie ist eine der ärgsten Sorten von Vampiren, die ich bis heute gesehen habe. Wir müssen sie ihrem Schicksal überlassen. «

 

Als ich das hörte, war ich bestürzt. War es denn nicht unsere christliche Pflicht diesem armen Geschöpf zu helfen, anstatt es sich selbst zu überlassen? Narcisa, die scheinbar auch so dachte, sprach zu ihm:

 

»Aber Bruder Paulo, gibt es denn gar keine Möglichkeit diese Unglückliche in einer der Stationen unterzubringen? «

 

»Ich kann das nicht erlauben, sonst würde ich meine Pflichten verletzen. « erklärte er.

 

Er zeigte auf die Frau, die noch immer ungeduldig und schreiend auf eine Entscheidung wartete, und fragte Narcisa:

 

»Haben Sie irgendetwas anderes als die schwarzen Flecken an ihr entdeckt? «

 

»Nichts anderes, Bruder Paolo « sagte sie. »Aber ich sehe mehr«, antwortete er und sagte leise: »Zählen Sie die schwarzen Flecken. «

 

Narcisa schaute genau hin und antwortete dann: »Ich sehe achtundfünfzig schwarze Flecken. «

 

Bruder Paulo erkläre es uns bitte: »Diese schwarzen Flecken stellen achtundfünfzig Kinder dar, die von ihr gleich nach der Geburt getötet wurden. In jedem dieser Flecken erkenne ich das geistige Abbild eines Kindes, das sie entweder erschlagen oder erstickt hat. Diese unselige Frau war in ihrem irdischen Leben eine Hebamme. Unter dem Vorwand, unglücklichen und unerfahrenen jungen Menschen 'einen guten Dienst zu erweisen', hat sie grauenhafte Verbrechen begangen. Dadurch befindet sie sich in einer wesentlich schlimmeren Lage, als die Selbstmörder und Mörder, für die manchmal mildernde Umstände gelten können. «

 

Erstaunt erinnerte ich mich an medizinische Fälle, in denen wir uns genötigt sahen das Ungeborene zu töten, um das gefährdete Leben der Mutter zu retten, Bruder Paulo erriet meine Gedanken und sagte:

 

»Ich spreche hier nicht von Maßnahmen, die zu Recht ergriffen werden, weil sie Bestandteil des Wiedergutmachungsprozesses des Reinkarniernden sein können. Ich beziehe mich auf die Tötung derer, die eine neue irdische Existenz beginnen wollen. Wenn man sie tötet verwehrt man ihnen das erhabene Recht auf das Leben auf Erden. « Dessen ungeachtet ließ Narcisa nicht nach.

 

»Auch ich habe in meiner Vergangenheit viele Fehler begangen» sagte sie beherzt zu Bruder Paulo.

 

»Helfen wir doch dieser Unseligen. Wenn Sie es mir gestatten, werde ich mich ganz besonders um sie kümmern. «

 

»Ich bin mir bewusst, dass auch wir alle noch mit großer Schuld beladen sind. « meinte er, beeindruckt von Narcisas ehrlichem Bemühen.

 

»Aber wir können von uns sagen, dass wir zu unseren Verfehlungen stehen und bereit sind, sie wieder gutzumachen. Hingegen ist die einzige Absicht dieser Frau, Verwirrung und Unfrieden unter den Arbeitern zu stiften. Heuchlerische Geistwesen wie sie senden zerstörerische Kräfte aus, die sich negativ auswirken. Wenn wir sie hineinlassen, wozu dient dann der Wachdienst? «

 

Bedeutungsvoll sagte er:

 

»Ich kann das Gesagte beweisen. « Bruder Paolo ging zur Bittstellerin und fragte:

 

»Was erwartest Du von unserer brüderlichen Hilfe? «

 

»Hilfe! Hilfe! «, antwortete sie tränenüberströmt.

 

»Aber meine Freundin«, meinte er ruhig, «wir müssen lernen, das sühnende Leid anzunehmen. Warum hast Du so vielen wehrlosen Geschöpfen, die mit Gottes Segen ihren Wiedergutmachungsprozess auf der Erde beginnen wollten, die Möglichkeit sich zu inkarnieren genommen? «

 

Sie hörte ihm mit steigender Unruhe zu. Ihr Gesicht War jetzt eine Angst einflößende Maske, erfüllt mit Hass.

 

»Wer beschuldigt mich einer solchen Gemeinheit? « schrie sie ihn an. »Ich habe ein reines Gewissen. Während meines ganzen Lebens auf Erden habe ich mich immer für die Mutterschaft eingesetzt. Ich war barmherzig und fromm, gut und rein. «

 

» Der Einblick in Deine Gedanken und Handlungen zeigt ein anderes Bild, das im Widerspruch zu Deiner Behauptung steht. Meine Schwester, ich glaube sogar, dass Du noch nicht von der Gnade der Reue berührt wurdest. Wenn Du Deine Seele dem Segen Gottes öffnest, und Deine eigenen Bedürfnisse zur Reue erkennst, dann kannst Du zurückkommen. «

 

Wütend schrie sie: »Teufel! Hexer! Anhänger Satans! Ich werde nie wieder hierher zurückkommen! Ich warte auf den mir versprochenen Himmel und ich werde ihn finden. «

 

Der Wachvorstand sprach jetzt bestimmt und entschlossen:

 

»Dann fordere ich Dich auf, von hier fortzugehen, denn hier wirst Du den gewünschten Himmel nicht finden. Wir sind hier in einer Arbeitsstätte. Und im Gegensatz zu Dir sind sich unsere Erkrankten ihres Fehlverhaltens bewusst und bemühen sich in der Obhut von liebevollen und hingebungsvollen Brüdern und Schwestern, es zu berichtigen. «

 

Die Frau bemerkte frech: »Ich habe Sie weder um Medikamente noch um eine Behandlung gebeten. Ich bin auf der Suche nach dem Paradies, das mir aufgrund meiner guten Taten zusteht. «

 

Sie warf uns ärgerliche Blicke zu. Jetzt war sie nicht mehr krank, sondern ging selbstsicher und scheinbar unbeeindruckt davon. Bruder Paulo blickte ihr eine Weile nach und meinte:

 

»Habt Ihr den Vampir in ihr bemerkt? Obschon sie eine Verbrecherin ist, gibt sie sich unschuldig. Sie ist bis inihr Innerstes böse, behauptet aber von sich, gut und rein zu sein. Sie ist verzweifelt, dennoch täuscht sie Gelassenheit vor. Eigenhändig hat sie sich die Hölle erschaffen, gleichwohl behauptet sie, dass sie auf der Suche nach dem Himmel ist. «

 

Wir hörten seine Ausführungen schweigend an. Zum Schluss sagte er:

 

»Wir dürfen uns nicht vom äußeren Erscheinungsbild beeindrucken lassen, sei es ein gutes oder ein schlechtes. Gewiss wird die Unglückliche an einem anderen Ort von der Göttlichen Gnade Hilfe erhalten. Aber im Namen der wahren Nächstenliebe erlaubt es mir meine Stellung nicht, ihr unsere Tore zu öffnen. «

 

 

 

(32)

 

MINISTERIN VENERANDA

 

 

Wir durchquerten den von Licht durchfluteten Park, der wegen seiner großen, Schatten spendenden Bäume und dem satten Grün eine besondere Anziehungskraft auf mich ausübte. Narcisa und ich plauderten zusammen und sie erzählte mir:

 

»Von diesem großen Park aus kann man zur Schwellenregion oder zu den Feldern gehen, in denen Pflanzen gezüchtet werden, aus denen man Säfte herstellt. Man gelangt von hier auch zu den wunderschönen Grünzonen, die unsere Ministerin Veneranda erstellen ließ. «

 

Mein Interesse bemerkend, erklärte sie weiter: »Ich spreche von den 'Grünen Sälen', in denen wir uns treffen, um uns weiterzubilden. Inmitten langer Baumreihen gibt es wunderbare 'Natur-Säle', die sich sehr gut für Vorträge der Minister des Erneuerungsministeriums eignen. Andere Säle sind reserviert für uns besuchende, auswärtige Minister oder werden Lernbegierigen zur Verfügung gestellt. Einer dieser Säle ist außerordentlich schön gestaltet und steht deshalb dem Gouverneur zur Verfügung, der dort seine Vorträge hält. Zu wechselnden Zeiten wachsen an den hoch aufragenden Bäumen farbenfrohe Blumen empor, was ihnen ein turmähnliches Aussehen verleiht. Es sieht zauberhaft aus. Das Dach bildet das Firmament. Es schenkt uns das Licht der Sonne oder des Mondes. «

 

«Wie wunderbar müssen diese natürlichen Plätze sein! «, bemerkte ich.

 

»Ganz sicher«, sprach Narcisa voller Begeisterung weiter. »Es wurde mir gesagt, dass vor vierzig Jahren die Ministerin ihr Projekt, dem sie den Namen 'grüne, natürliche Säle' gab, der Kolonie Nosso Lar vorstellte. Sie erntete damit viel Lob und Begeisterung. Alle Ministerien haben sich daran beteiligt, selbst das Ministerium der Göttlichen Vereinigung hat unter Anleitung der Ministerin Veneranda im Wald der Quellen solche natürlichen Orte entstehen lassen. Überall sind 'grüne Säle' angelegt. Alle sind wunderbar gestaltet, aber persönlich finde ich die im Schulareal, wegen ihrer unterschiedlichen Form und Größe am originellsten. In den Parkanlagen des Ministeriums für Aufklärung ließ Ministerin Veneranda ein richtiges, sternförmiges Schloss aus Pflanzen anlegen. Im inneren Raum des Schlosses ist genug Platz für fünf große Klassen samt Schülern und Ausbildern. In der Mitte wurde ein sehr großes Gerät aufgestellt, das dem Kinoprojektor auf Erden gleicht. Verschiedene Bilder werden von diesem Gerät auf fünf Leinwände gleichzeitig projiziert. Die Gestaltung der grünen Säle hat der Stätte viel Gutes gebracht, denn sie verfügt jetzt über Zonen, in denen Nützliches und Praktisches mit spiritueller Schönheit vereint sind. «

 

Sie machte eine Pause, worauf ich sie fragte:

 

»Wie sind die Säle eingerichtet? Gleich wie die auf der Erde?«

 

Narcisa antwortete lächelnd:

 

» Sie sind ganz unterschiedlich eingerichtet. Die Ministerin hat sich für die Einrichtung der Säle von Bildern aus dem Neuen Testament inspirieren lassen, das Christus' Leben unter den Menschen schildert. Bei der Gestaltung nutzte sie die in der Natur vorhandenen Materialien. So entstanden die 'Natürlichen Säle', die mit Sitzbänken und Sesseln ausgestattet sind, welche aus Lehm geformt und mit duftendem und weichem Moos überzogen wurden, was die Einzigartigkeit und Schönheit der Säle hervorhebt. Die Ministerin betonte damals, dass sie es für wichtig erachte, die belehrenden Worte des Meisters in Erinnerung zu rufen, welche er an den Ufern des Sees Genezareth während seiner göttlichen Mission gesprochen hatte.

 

Dies führte dann zur Gestaltung von Mobiliar aus Naturmaterialien. Diese Art von Möbel muss intensiv gepflegt werden, dies ist eine aufwendige und intensive Arbeit. Wenn man jedoch das Ganze betrachtet, weiß man, dass sich der Aufwand lohnt. «

 

Narcisa schwieg für einen Augenblick, fuhr dann aber fort:

 

»Ich erwähnte bereits, dass der schönste dieser Säle unserem Gouverneur zur Verfügung steht und nur von ihm selbst benutzt werden darf. Er hält darin seine Vorträge. Ministerin Veneranda hatte herausgefunden, dass er antike Landschaftsbilder im hellenischen Stil sehr mochte und dekorierte den Saal in entsprechender Weise. Sie ließ kleine Kanäle mit frischem Wasser anlegen und fein konstruierte Stege und winzig kleine Teiche bauen, umgeben von Lauben und blühender Vegetation. Alle dreißig Tage blühen andere Blumen, deshalb können wir jeden Monat eine neue Blumenpracht bestaunen. Die schönste Dekoration hebt die Ministerin für die Feier der Geburt Jesu im Dezember auf. In dieser feierlichen Zeit erreichen uns von der Erde die rührendsten und erhabensten Gedanken unserer inkarnierten Geschwister, begleitet von ihren ehrlich gemeinten Versprechen. Andererseits senden wir an die Höheren Sphären den innigsten Wunsch, die Hoffnung möge unser Herz nie verlassen und versichern unserem Herrn, ihm noch besser dienen zu wollen. Dieser Saal ist das Juwel unseres Ministeriums. Vielleicht hast Du schon davon gehört: Der Gouverneur kommt fast jeden Sonntag her und verbringt viele Stunden im Gespräch mit den Ministern für Erneuerung und den Mitarbeitern der Kolonie. Er unterbreitet ihnen Verbesserungsvorschläge und bespricht mit ihnen die Lage unserer Kolonie angesichts der Nähe zur Schwellenregion. Er empfängt uns, nimmt unsere besten Wünsche entgegen und den genesenden Patienten spricht er Mut zu und findet Worte des Trostes. Wenn er Zeit hat, bleibt er am Abend da, hört Musik oder besucht eine Tanzvorstellung der Kinder und Jugendlichen unserer Schulen. Die Mehrheit der Besucher von Nosso Lar kommen in unsere Kolonie, um die 'Natürlichen Säle' zu sehen, in denen weit mehr als dreißigtausend Personen Platz finden. «

 

Bei diesen interessanten Informationen erlebte ich ein Freudengefühl gemischt mit Neugierde.

 

»Der Saal der Ministerin Veneranda«, erzählte Narcisa begeistert, »ist ebenfalls prächtig ausgestattet. Wir verdanken der Ministerin sehr viel, weshalb wir uns freuen, ihren 'grünen Saal' mit besonderer Sorgfalt zu pflegen. Sie hat zahlreiche Maßnahmen zugunsten der Benachteiligten durchgeführt und wir sind ihr für ihren selbstlosen Einsatz großen Dank schuldig. Was sie an Gutem bewirkt hat, kann mit nichts aufgewogen werden. Ihr unermüdlicher Einsatz in Nosso Lar wird in der Regierung als einer der verdienstvollsten und ehrenhaftesten eingestuft. Sie ist in der Kolonie das Geistwesen, das die höchste Anzahl an Arbeitsstunden aufweisen kann. Sie ist die Dienstälteste in der Regierung und im Ministerium. Seit 200 Jahren ist sie aktiv an dieser Stätte tätig. «

 

Überaus beeindruckt sagte ich zu Narcisa: »Sicher wird der Wohltäterin viel Respekt gezollt! «

 

»Du triffst es genau«, meinte sie, »sie ist die spirituell Erhabenste in unserer Kolonie. Unsere elf Minister vom Ministerium für Erneuerung suchen bei ihr Rat, bevor sie bedeutende Maßnahmen ergreifen, und bei zahlreichen Fällen holt auch die Regierung ihre Meinung ein. Mit Ausnahme unseres Gouverneurs ist sie die einzige unserer Kolonie, die Jesus in den Strahlenden Sphären gesehen hat. Ihre Demut verbietet es ihr jedoch, darüber zu sprechen oder auf diesbezügliche Fragen einzugehen. Eine weitere interessante Episode zur Ministerin Veneranda gibt es noch: Vor vier Jahren gab es einen besonderen Festtag in der Kolonie.

 

Die Bruderschaft des Lichtes, die das Schicksal der Christen im Kontinent Amerika lenkt, ehrte unsere Ministerin für eine Million Dienststunden, die sie ununterbrochen, beharrlich und demütig geleistet hat. Ihr wurde die Auszeichnung von der Ehrenkommission in Anwesenheit des Gouverneurs und der Minister auf dem Großen Platz unter großem Jubel der Menge überreicht. Sie ist bis zum heutigen Tag das erste Geistwesen in dieser Kolonie, welches diese hochgeschätzte Auszeichnung erhalten hat. Ministerin Veneranda war sehr ergriffen und weinte still vor sich hin. Sie beruhigte sich aber, sagte, dass sie diese Ehrung nicht verdient habe und schenkte sie trotz des Protestes des Gouverneurs der Gemeinschaft unserer Kolonie Nosso Lar. Die Auszeichnung wird jetzt im Archiv der Kolonie aufbewahrt. Veneranda verzichtete auch auf alle Feierlichkeiten zu ihren Ehren und hat sich nie über diese höchst verdiente Auszeichnung geäussert! «

 

»Was für eine außergewöhnliche Frau«, sagte ich beeindruckt und fragte nach:

 

»Warum bewohnt sie nicht höhere Sphären als diese? « Narcisa sagte leise:

 

»Sie ist ein hoch entwickeltes Geistwesen, das in viel höheren Sphären als der unseren beheimatet ist. Aber sie bleibt aus Liebe und ihrer großen Opferbereitschaft wegen in Nosso Lar. Mir wurde gesagt, dass unsere edle Wohltäterin sich bereits seit mehr als tausend Jahren für ihre Lieben auf der Erde einsetzt und geduldig auf sie wartet. «

 

»Kann ich sie kennen lernen? «fragte ich immer noch sehr beeindruckt.

 

Narcisa schien mein Interesse zu gefallen, denn sie erklärte:

 

»Morgen Nachmittag, nach dem Gebet, wird die Ministerin in ihrem Saal einigen Präparanden einen Aufklärungsvortrag über 'Gedanken' halten. «

 

 

 

(33)

 

SELTSAME BEOBACHTUNGEN

 

 

Kurz vor Mitternacht erlaubte mir Narcisa, zum Haupttor der Rehabilitationsstation zu gehen. Wir erwarteten die Ankunft der Samariter, die scheinbar schon in der Nähe waren und wollten alles für die Erste Hilfe bereitstellen.

 

Erwartungsvoll ging ich den von dicht belaubten Bäumen gesäumten Weg entlang. Mir fielen dabei Bäume auf, die mich an uralte Eichen der Erde erinnerten. Es gab aber auch andere, wundervolle Bäume, die Erinnerungen an Akazien und Kiefern weckten. Diese friedliche Atmosphäre wirkte wie Balsam auf meine Seele. Ein solches Gefühl des Friedens hatte ich in der Rehabilitationsstation noch nicht erlebt. Entrückt, lief ich den natürlichen Laubenentlang weiter und genoss den frischen Wind, der eine entspannende Wirkung auf mich hatte. Ich dachte an all das, was mit mir seit meiner ersten Begegnung mit dem Minister Clarêncio geschehen war. Ich fragte mich, wo wohl der Ort ist, von dem wir träumen: Auf der Erde oder hier, in dieser spirituellen Kolonie? Ich hätte auch gerne gewusst, wie es Zélia und meinen Kindern erging. Warum wurde ich hier über die mannigfaltigen Aspekte des Lebens aufgeklärt, aber gleichzeitig wurde mir jegliche Information über meine irdische Familie untersagt. Sogar meine Mutter riet mir zu schweigen und enthielt sich darüber zu sprechen. Alles deutete darauf hin, dass ich mich nicht weiter mit meinem irdischen Leben zu befassen hatte, nein, ich sollte es sogar vergessen und intensiv an meiner inneren Erneuerung arbeiten. Dennoch schmerzte die Sehnsucht nach den Meinigen. Ich wünschte mir sehnsüchtig, meine geliebte Frau zu sehen und von meinen Kindern geküsst zu werden. Welcher Schicksalsschlag hatte uns getrennt und mich als Gestrandeter an unbekannte Gestade geworfen? Dennoch kamen in mir tröstende Gedanken auf. Ich war nicht der Verlassene oder der Gestrandete. Selbst wenn ich es wäre, hätte ich zugeben müssen, dass ich es mir selbst zuzuschreiben hatte. Seit meiner Ankunft in der Kolonie Nosso Lar konnte ich feststellen, dass mich eine seltsame Kraft trieb, so dass ich bewusster und intensiver an die Arbeit ging. Warum hatte ich auf der Erde nur so viel Zeit mit Leichtsinn jeder Art vergeudet?

 

Es ist wahr, ich liebte meine Lebenspartnerin sehr und war meinen Kindern liebevoll zugetan, was ich auch allen zeigte. Dennoch, wenn ich meine Rolle als Ehemann und als Vater ganz nüchtern betrachtete, muss ich zugeben, dass ich meiner Familie weder solide noch nützliche Werte vermittelt hatte und dass ich dieses Versäumnis zu spät erkannt hatte. Man könnte mein Handeln mit dem eines Wanderers vergleichen, der sich auf den Weg macht, ohne sich vorher mit Brot und Wasser einzudecken. Als er sein Versäumnis erkennt ist es zu spät, zurück zu kehren und er muss darben. Diese Gedanken plagten mich. Während meines irdischen Daseins fehlten mir diese Kenntnisse. Infolge dessen war ich nicht in der Lage zu begreifen, was nach dem Verlassen des physischen Leibes mit mir, mit meiner Frau und meinen Kindern geschah. Ob sie jetzt das Witwen- und Waisendasein fristeten? Auf diese Fragen fand ich damals keine Antwort.

 

Die frische Brise berührte mein Gesicht, als ob sie mich einladen wollte, auf andere, höhere Gedanken zu kommen. Diese inneren Fragen waren für mich eine Tortur. Angesichts der mich erwartenden Aufgaben konnte ich mich jedoch wieder auffangen. Ich ging auf das Tor zu und spähte über die Felder hinaus in die Ferne. Ich genoss den besonderen Augenblick im Mondschein, bewunderte die Schönheit des Himmels über mir und ließ mich von der Stille der Nacht verzaubern.

 

Plötzlich sah ich in der Ferne zwei riesenhafte Schatten. Sie kamen näher und ich bemerkte erstaunt, dass es zwei männliche Gestalten waren, die aus einer nicht zu definierenden, halbschimmernden Substanz bestanden. Aus ihren Armen und Füßen strahlte eine seltsame Art von Lichtfasern und vom Kopf gingen merkwürdige lange Drähte in die Höhe. Ich dachte ich sähe zwei Gespenster, es war angsteinflößend! Erschrocken ging ich schnell zurück. Verängstigt und angespannt erzählte ich Narcisa was ich gesehen hatte, doch sie konnte ihr Lachen nur mit Mühe zurückhalten.

 

»Aber mein Freund«, sagte sie gutgelaunt, »hast Du diese Gestalten nicht erkannt? « Ich war zu verlegen und sagte nichts. Sie sprach weiter:

 

»Auch ich habe vor langer Zeit, das Gleiche erlebt. Diese zwei Gestalten sind unsere auf der Erde inkarnierten Brüder. Sie sind sehr mächtige Geistwesen, die dort wichtige Rettungsmissionen durchführen. Sie können in ihrer Eigenschaft als Eingeweihte der Ewigen Weisheit zeitweise ihre körperlichen Hüllen verlassen und sich frei in unserer Sphäre bewegen. Die Drähte und Lichtfasern, die Du gesehen hast, kennzeichnen den Unterschied zwischen ihnen und uns. Hab also keine Angst vor ihnen. Aus höheren Sphären inkarnieren höchst entwickelte Geistwesen auf der Erde und leben unter den Menschen in äusserster Bescheidenheit und Demut. «

 

Sie machte mir Mut und lud mich ein, mit ihr zu gehen.

 

»Komm, gehen wir. Es ist vierzig Minuten nach Mitternacht und die Samariter kommen sicher gleich an.«

 

Zufrieden ging ich mit ihr zum großen Tor. Ich sah in der Ferne, wie die zwei Gestalten sich wieder von der Kolonie Nosso Lar entfernten. Narcisa sah ihnen nach.

 

»Sie sind in einen Mantel aus blauem Licht eingehüllt«, sagte sie ehrfürchtig. »Es müssen tatsächlich zwei sehr erhabene Geistmissionare sein, die auf der Erde eine Mission durchführen, über die wir nichts wissen dürfen. «

 

Wir blieben für eine Weile dort und betrachteten die in der stillen Nacht vor uns liegenden Felder. Dann zeigte meine liebe Freundin Narcisa auf einen schwarzen Punkt, der am vom Mond beleuchteten Horizont zu sehen war und sagte:

 

»Dort kommen sie! « Ich sah eine Karawane, die sich auf uns zu bewegte. Plötzlich hörte ich von weit her Hundegebell.

 

»Was ist das? «, fragte ich überrascht.

 

»Das sind die Hunde«, sagte Narcisa, »sie sind wertvolle Helfer in den dunklen Sphären der Schwellenregion, wo sich abgesehen von den Nichtinkarnierten, auch richtige Ungeheuer aufhalten. Es ist mir nicht gestattet sie näher zu beschreiben. «

 

Narcisa rief laut nach den Dienern und schickte einen von ihnen zur Rehabilitationsstation, um Anweisungen zu geben. Ich musterte die seltsame Gruppe, die sich langsam näherte. Es waren sechs große Wagen die aussahen wie Postkutschen, gezogen von Tieren, die aus dieser Entfernung den Maultieren der Erde ähnelten. Das Interessanteste aber war die Schar großer Vögel, die über dem Wagen kreisten und dabei merkwürdige Geräusche machten. Sofort frage ich Narcisa:

 

»Wo ist der Aérobus? Hätte nicht der Aérobus in der Schwellenregion eingesetzt werden können? «

 

»Nein«, erwiderte sie.

 

Ich wollte wissen warum nicht. Liebenswürdig wie immer, erklärte sie:

 

»Es ist wegen der Dichte der Materie. Nimm als Beispiel das Wasser und die Luft. Ein durch die Lüfte fliegendes Flugzeug kann im Wasser nicht dasselbe tun. Wir können hier sogar Vehikel bauen, die dem Unterseeboot ähnlich sind. Aber aus Rücksicht auf die Lage der Leidenden haben die Höheren Sphären beschlossen, die üblichen Verkehrsmittel einzusetzen. Abgesehen davon kann in vielen Fällen nicht auf die Hilfe der Tiere verzichtet werden. « »Warum denn? «, fragte ich.

 

»Die Hunde erleichtern uns die Arbeit und die Maultiere sind geduldige Lastenträger. Außerdem geben sie viel Wärme ab. Die Vögel, die wir 'reisende Ibisse' nennen, sind ausgezeichnete Helfer der Samariter, weil sie jegliche Form von hasserfüllten und perversen Gedanken verschlingen und auf diese Weise am Kampf mit den finsteren Gegenden der Schwellenregion beteiligt sind. «

 

Die Karawane kam jetzt immer näher. Narcisa blickte mich an und meinte:

 

»Jetzt ruft uns die Arbeit, es ist nicht der Zeitpunkt für weitere Erläuterungen. Wertvolle Informationen über die Tiere wirst Du nicht hier, sondern im Ministerium für Aufklärung erhalten. « Sie ging und erteilte Befehle. Wir bereiteten uns vor, die seelisch Kranken zu empfangen.

 

 

 

(34)

 

NEUANKÖMMLINGE AUS DER SCHWELLENREGION

 

 

Die Männer kamen mit den angeleinten Hunden auf uns zu und gleich danach durchschritten wir alle die langen Eingangskorridore der Rehabilitationsstation. Pfleger gingen eilig hin und her, einige der Erkrankten wurden hineingetragen. Narcisa, Salústio und andere Helfer, erfüllt von brüderlicher Liebe, gingen an die Arbeit. Auch die Samariter setzten ihre ganzen Energien bei dieser Hilfsaktion ein. Einige der Erkrankten verhielten sich demütig und ergeben, andere hingegen begehrten mit lauter Stimme auf.Als ich von meiner Arbeit kurz aufblickte, sah ich eine alte Frau, die Mühe hatte, aus dem letzten Wagen auszusteigen. Sie schaute mich an und rief mir zu:

 

»Mein Sohn hab Erbarmen mit mir! Um Gottes Willen hilf mir! « Beflissen ging ich zu ihr.

 

»Gott sei Dank! «, sagte sie und bekreuzigte sich. »Dank der göttlichen Vorsehung konnte ich dem Fegefeuer entkommen. Grauenhaft, diese verfluchten Dämonen, die mich plagten. Es war die Hölle! Aber die Engel des Herrn kamen und halfen mir. «

 

Ich war der alten Frau beim Aussteigen behilflich. Es war das erste Mal, dass ich von einer scheinbar vernünftigen und ruhigen Person etwas von der Hölle und dem Fegefeuer vernahm. Obschon mich Lísias Mutter vor übertriebener Neugierde warnte, - die, anstatt wahre Hilfe anzubieten, nur meinen gesteigerten Wissensdrang befriedigte -, schlug ich alle guten Ratschläge in den Wind. Mitgefühl vortäuschend, fragte ich sie:

 

»Kommen Sie von sehr weit her? «

 

Die alte Frau spürte mein Interesse und begann zu erzählen:

 

»Ich komme von weit her. Auf der Erde, mein Sohn, war ich eine tugendhafte, barmherzige und gläubige Frau und betete viel. Aber was kann man gegen Satans List tun? Als ich meine irdische Hülle ablegte, sah ich mich von fürchterlichen Ungeheuern verfolgt, die mich in einen regelrechten Strudel hinunterzogen. Anfangs flehte ich die himmlischen Erzengel um ihren Schutz an. Obschon diabolische Geistwesen mich eingekerkert hielten, verlor ich nie die Hoffnung, von einem Augenblick zum anderen befreit zu werden. Ich hatte immerhin doch einiges für die monatlichen Messen zugunsten meiner ewigen Ruhe bezahlt. «

 

Obwohl es mich gar nichts anging, versuchte ich noch weitere Einzelheiten von ihr zu erfahren.

 

»Was Sie sagen ist sehr interessant! Haben Sie nicht versucht, den Grund Ihres dortigen Aufenthaltes zu erfahren? «

 

»Überhaupt nicht«, antwortete sie und bekreuzigte sich.

 

»Wie ich schon sagte: Während meiner Lebzeiten auf der Erde bemühte ich mich stets, ein frommer Mensch zu sein. Nun, Sie wissen sicher, dass niemand frei von Sünden ist. Mit meinem Vermögen hätte ich ein ruhiges und angenehmes Leben führen können, aber meine Sklaven waren streitsüchtig, forderten mich heraus und gelegentlich war es notwendig, disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen. Die Aufseher hatten zu viele Skrupel und ich musste mich Tag für Tag durchsetzen. Nicht selten kam es vor, dass ein Sklave als abschreckendes Beispiel am Schandpfahl starb. Manchmal war es auch notwendig, dass ich die Kinder meiner Sklavinnen verkaufte, um die Ordnung wieder herzustellen. Gelegentlich wurde ich von Gewissensbissen geplagt, jedoch bei den monatlichen Besuchen, die Pater Amancio uns abstattete, nahm er mir die Beichte ab und nach dem Gottesdienst und dem Abendmahl war ich von diesen verzeihlichen Sünden erlöst. Danach war ich wieder im Frieden mit Gott und der Welt. «

 

Ich war von diesen Worten schockiert und begann sie aufzuklären:

 

»Meine Schwester, diese Art von spirituellem Frieden ist falsch, denn auch die Sklaven sind unsere Geschwister. Im Angesicht des Ewigen Vaters sind sowohl die Kinder der Sklaven, als auch die Kinder der Herrschaften alle seine Kinder. «

 

Als sie das hörte, stampfte sie verärgert auf den Boden und sprach gereizt:

 

»Nein, dass ist nicht so! Ein Sklave ist immer ein Sklave. Wäre es nicht so, würde uns die Kirche das Gegenteil lehren. Wenn sogar der Bischof sich Sklaven hielt, weshalb dann nicht wir auf unseren Plantagen? Wer hätte den Boden bestellen sollen, wenn nicht sie? Und glaube mir, für sie war es eine Ehre, dass sie in den mir gehörenden Sklavensiedlungen leben durften. Mein Anwesen, das fern von ihren Siedlungen lag, durften die Sklaven nur betreten, wenn ich Besuch hatte, um meine Gäste zu bedienen. Pater Amancio, unser tugendhafter Pfarrer, hat mir einmal anvertraut, dass die Afrikaner die schlechtesten Menschen auf der Welt sind, die nur geboren wurden, um in der Knechtschaft Gott dienen zu können. Und Du meinst, ich hätte ihnen gegenüber Skrupel haben sollen? Du kannst mir glauben, die Sklaven sind pervers, sie sind Kinder Satans! Manchmal staune ich, mit welcher Geduld ich dieses Gesindel auf Erden ertrug. Als dann die Prinzessin* beschloss die Sklaverei abzuschaffen, hat mich das dermaßen schockiert, dass ich meinen irdischen Körper unerwartet verließ. Es sind zwar schon viele Jahre seit damals vergangen, aber ich erinnere mich noch ganz genau. Ich lag schon seit einigen Tagen krank im Bett, als mir Pater Amancio die Neuigkeit berichtete. Danach ging es mir plötzlich sehr schlecht. Jetzt, da diese Kriminellen frei waren, wie hätten wir in dieser Welt weiterleben können? Sicher hätten sie uns am liebsten zu ihren eigenen Sklaven gemacht. Wäre es dann nicht besser, gleich zu sterben? Ich erinnere mich, dass ich große Mühe hatte zu beichten und die tröstenden Worte des Priesters zu vernehmen. Aber ich hatte den Eindruck, als ob die Dämonen auch Afrikaner wären, und sie nur auf mich warteten. Ich musste bis heute ihre Anwesenheit erleiden. «

 

»Wann war das? « fragte ich.

 

»Im Mai 1888*.« Da staunte ich. Sie blickte in die Ferne und sprach:

 

»Es könnte sein, dass meine Neffen vergessen haben die von mir testamentarisch festgelegten Gedenkmessen zu bezahlen. «

 

Ich wollte ihr antworten, sie ermutigen, auf andere Gedanken zu kommen, mit ihr über Brüderlichkeit und Glauben sprechen, als Narcisa auf mich zu kam und mich gütig ansprach:

 

»André, mein Freund, hast Du vergessen, dass wir hier sind um den Kranken und den Verwirrten zu helfen? Welchen Nutzen kannst Du aus dieser Schilderung ziehen? Geisteskranke sprechen unaufhörlich und wer ihnen zuhört, setzt sein spirituelles Interesse am falschen Ort ein. «

 

Dieser Hinweis wurde mit so viel Liebenswürdigkeit ausgesprochen, dass es mich beschämte und mir den Mut nahm, etwas zu erwidern.

 

»Lass Dich nicht davon beeindrucken, «sagte sie, »helfen wir lieber den Verwirrten. «

 

» Wollen Sie damit sagen, dass ich zu denen gehöre? « fragte die alte Frau beleidigt. Narcisa in ihrer ruhigen und taktvollen Art sagte, wobei sie die alte Frau mitfühlend anschaute:

 

»Nein meine Freundin, das meine ich nicht, aber ich glaube, dass Sie sehr müde sein müssen, denn Sie verbrachten lange Zeit im Fegefeuer. «

 

»Genau das stimmt«, sagte die Neuangekommene aus der Schwellenregion.

 

»Ihr könnt es Euch nicht vorstellen, wie ich leiden musste, geplagt und verfolgt von den Dämonen. «

 

Die Arme wollte ihre Geschichte auch Narcisa erzählen. Die aber - wie um mir zu zeigen, wie man sich in solchen Situationen verhalten soll -, sagte zur Frau:

 

»Sprechen Sie nicht länger über das Böse. Ich weiß über die schmerzvolle und bittere Geschichte Ihres Lebens Bescheid. Ruhen Sie sich aus. Ich werde Ihnen helfen. «

 

Narcisa rief einen der Helfer herbei und bat ihn:

 

»Zenóbio, geh bitte in das Lager der Frauen und sag Nemésia, dass ich sie bitte, hierher zu kommen, um unsere Schwester in die Pflegeabteilung zu begleiten. «

 

 

 

(35)

 

BESONDERE BEGEGNUNG

 

 

Wir waren mit dem Unterbringen der Tiere und dem Verstauen der Truppenausrüstung beschäftigt, als ich eine Stimme hörte, die mich rief:

 

»André! Du hier? Das ist aber eine angenehme Überraschung! Schön Dich zu sehen.« Ich drehte mich überrascht um und sah einen Samariter, in dem ich Silveira erkannte. Er war ein Kunde meines Vaters gewesen. Als unnachgiebiger Geschäftsmann hatte mein Vater Silveira und seine Familie um das ganze Vermögen und alle Güter gebracht.

 

Obwohl ich wegen des plötzlichen Erscheinens Silveiras eine gewisse Scheu empfand bemühte ich mich,ihn herzlich zu begrüßen. Jedoch war die Erinnerung an die damaligen Ereignisse unvermittelt wieder da. Meines Erachtens wäre es falsch gewesen, ihm etwas vorzumachen - insbesondere weil die Tugend der Ehrlichkeit in dieser Kolonie wirklich gelebt wird. Silveira, der meine peinliche Lage bemerkt hatte, sagte zu mir:

 

»Ich ahnte ja nicht, dass Du das physische Leben bereits verlassen hast und noch viel weniger hätte ich gedacht, Dich hier in Nosso Lar anzutreffen. «

 

Bewegt von seiner spontanen Art und seinem freundlichen Verhalten fiel es mir nicht mehr schwer, ihn zu umarmen. Ich wollte zu den Begebenheiten der Vergangenheit Stellung nehmen, aber ich konnte es nicht. Eigentlich wollte ich mich für das Verhalten meines Vaters, das zu Silveiras» Bankrott führte und ihn in eine schlimme Lage brachte, entschuldigen.     angels-heaven.org

 

Plötzlich fühlte ich mich in die Vergangenheit versetzt. Ich konnte beinahe die Stimme Frau Silveiras hören und in meiner Erinnerung sah ich sie, wie sie in unser Haus kam, um zugunsten ihres Mannes zu sprechen und uns die momentane Lage der Familie zu schildern. Traurig teilte sie uns damals mit, dass nicht nur ihr Mann seit langer Zeit krank sei, sondern dass nun auch ihre beiden Kinder krank im Bett lägen. Dies verschlimmere natürlich die bereits prekäre Lage, da die Behandlungskosten nun sehr gestiegen seien.

 

Die arme Frau weinte und bat um Verständnis und Hilfe. Demütig blickte sie meine Mutter an, in der Hoffnung, dass das weibliche Herz ihren Hilferuf hören würde. Ich erinnerte mich, dass sich meine Mutter für sie einsetzte und meinen Vater bat, die bereits unterschriebenen Schuldscheine zu vergessen und auf ein Gerichtsverfahren zu verzichten. Mein Vater, gewohnt, gewinnbringende Geschäfte abzuschließen und meistens vom Glück verwöhnt, konnte für die Lage eines Einzelhändlers kein Verständnis aufbringen. Er blieb hart und unnachgiebig. Er erklärte ihr, dass er zwar die Umstände bedaure und dass er seinem Kunden und Freund auf andere Weise helfen werde, aber was die Verschuldung angehe, so könne er keine Zugeständnisse machen, da er sich an das Gesetz halten müsse. Er erklärte weiter, dass er sich nicht über die Regeln seines Geschäfts hinwegsetzen könne und keine Ausnahme machen wolle, da die Schuldscheine legal seien. Gleichzeitig versuchte er die verzweifelte Frau zu trösten und erzählte ihr von Kunden, die sich noch in einer schlimmeren Lage befänden als ihre Familie. Ich weiß noch, wie meine Mutter die weinende und völlig aufgelöste Frau Silveira mitfühlend anblickte. Die flehenden Bitten der Frau ließen meinen Vater völlig gleichgültig.

 

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, rügte er meine Mutter und verbat ihr weitere Einmischungen in seine Geschäfte. Damit war der Ruin dieser Familie eingeleitet.

 

Etwas später - ich erinnere mich noch genau an den Tag - beobachtete ich, wie der Flügel der Tochter Silveiras abgeholt wurde. Der Flügel musste verkauft werden, damit die Familie ihre letzten Schulden dem unversöhnlichen Gläubiger bezahlen konnte.

 

Dass ich nicht die richtigen Worte fand, um mich jetzt bei Silveira zu entschuldigen, lag auch daran, dass ich damals meinen Vater noch ermutigte, die Sache bis zum bitteren Ende fortzuführen. Man könnte sagen, ich hatte den Geschäften des Herrn Silveira den Todesstoß versetzt. Meine Mutter hielt ich für zu sentimental. Damals noch jung und eitel, interessierte mich das Elend anderer nicht. Ich hatte keinen Blick für die Bedürfnisse der Menschen. Ich sah nur, was unserer Familie zustand und in dieser Hinsicht blieb ich unversöhnlich, trotz Mutters Bemühungen mich zur Vernunft zu bringen. Verbittert ob des finanziellen Ruins zog sich die Familie Silveira zurück und lebte in bitterer Armut irgendwo auf dem Land. Ich hatte nie mehr etwas von ihnen gehört, war mir aber ziemlich sicher, dass sie uns hassen mussten.

 

Ich konnte ich es kaum fassen, dass die Erinnerungen sekundenschnell hoch kamen.

 

Silveira sprach mich lächelnd an und holte mich zurück in die Realität. »Hast Du Deinen Vater schon besucht? «

 

Er stellte diese Frage spontan und ganz ohne Groll, so dass die Situation für mich noch unangenehmer wurde. Ich erklärte, dass ich ihn bis jetzt noch nicht besuchen konnte, obschon ich es sehr wünschte. Silveira, der bemerkt hatte wie peinlich mir alles war, umarmte mich und nahm danach seine Arbeit wieder auf.

 

Fassungslos suchte ich Narcisa auf. Ich erzählte ihr von der Begegnung mit Silveira und berichtete über die Ereignisse, die in meiner Familie auf Erden statt gefunden hatten. Ich hoffte, sie könne mir raten, wie ich mich verhalten solle. Sie hörte aufmerksam zu und sagte dann in liebevollem Ton:

 

»Wundere Dich nicht darüber. Vor einiger Zeit befand ich mich in der gleichen Lage. Ich schätze mich glücklich, bereits die Mehrheit der Personen, die ich in der Welt gedemütigt habe, hier angetroffen zu haben. Heute weiß ich, dass das eine erneute gesegnete Gelegenheit ist, die uns der Herr gewährt, damit wir die Zuneigung dieser Personen zurückgewinnen und die unterbrochene spirituelle Verbindung wieder herstellen können. «

 

Ihr Tonfall wurde ernster und belehrender, als sie mich fragte:

 

»Hast Du diese wunderbare Gelegenheit genutzt? Hast Du Dich bei Silveira entschuldigt? Bedenke, dass es das Größte ist, sich zu den eigenen Fehlern zu bekennen. Du bist gereift und bist in der Lage, Deine Rolle im damaligen Geschehen zu erkennen und dazu zu stehen. Versäume es nicht, ihn wieder als Freund zu gewinnen. Geh zu ihm, mein Lieber, und umarme ihn. Silveira ist immer sehr beschäftigt und vielleicht bekommst Du erst viel später eine neue Gelegenheit es zu tun. «

 

Narcisa bemerkte mein Zögern und forderte mich auf:

 

»Fürchte Dich nicht vor dem Misserfolg. Jedes Mal, wenn wir unsere Vernunft und unsere Gefühle für das Gute einsetzen, steht uns Jesus bei und sorgt dafür dass wir erfolgreich sind. Die Initiative soll von Dir ausgehen. Edle Taten erheben die Seele. Besinne Dich auf die Frohbotschaft und suche den Schatz der Versöhnung. «

 

Ich zögerte nicht länger und rannte zu Silveira. Ich sprach ganz offen mit ihm und bat ihn, meinem Vater und mir die begangenen Fehler und Beleidigungen zu verzeihen.

 

»Weißt Du«, betonte ich, »wir waren beide blind und eigennützig. Wenn Geld und Eitelkeit nebeneinander hergehen, fällt es den Menschen sehr schwer den eingeschlagenen Weg des Egoismus zu verlassen. « Silveira - sehr gerührt -, unterbrach mich.

 

»Aber Andre, wer ist schon fehlerlos? Meinst Du ich hätte keine Fehler begangen? Abgesehen davon war Dein Vater so etwas wie ein Lehrer für mich. Wir stehen in seiner Schuld. Es ist wahr, dass wegen seiner unbeugsamen Haltung meiner Familie gegenüber uns die Lebensgrundlage entzogen wurde. Aber ohne seine Mitwirkung hätten wir nie die strengen, aber wertvollen Lektionen des Lebens erlernt und hätten nichts für unser spirituelles Wachstum unternehmen können. Hier in der Kolonie lernen wir die altbewährten und bekannten Prinzipien des menschlichen Lebens neu auszulegen, so dass wir unsere so genannten Gegner nicht als unsere Feinde, sondern als unsere Wohltäter betrachten können. Gib Dich nicht traurigen Erinnerungen hin, sondern wisse, dass das Leben ewig ist und arbeite im Sinne Gottes. «

 

Er schaute mich bewegt an, umarmte mich wie ein Vater und fügte hinzu.

 

»Verliere keine Zeit mehr. Ich hoffe, dass wir in Kürze Deinen Vater besuchen können. «

 

Wir verabschiedeten uns und ich fühlte, wie ein neues beglückendes Gefühl mich erfüllte. Es war mir, als würde im hintersten, dunkelsten Winkel meines Herzens das Göttliche Licht endlich brennen und zwar für immer.

 

 

 

(36)

 

DER TRAUM

 

 

Die Arbeit ging ohne Unterbrechung voran. Es waren Kranke und Verwirrte, die auf die Behandlung warteten und die unsere besondere Aufmerksamkeit erforderten. Bei Anbruch der Nacht hatte ich mich mit dem magnetischen Passé vertraut gemacht und behandelte diejenigen, die ihn brauchten. Am folgenden Morgen kam Tobias zurück.

 

»Sehr gut, André« munterte er mich auf, »ich werde Dich Minister Genésio empfehlen und für Deinen ersten Einsatz wird Dir gleich ein doppelter Bonus zugesprochen. «

 

Ich wollte ihm dafür danken, als ich sah, dass Frau Laura und Lísias herangekommen waren. Sie umarmten mich und Frau Laura sagte lächelnd zu mir:

 

»Wir sind sehr zufrieden mit Dir. Ich habe Dich während der ganzen Nacht im Geiste begleitet. Dein Einstiegin diese Arbeit ist für unsere Familie eine große Freude. Ich wollte die Erste sein, die Minister Clarêncio diese wunderbare Nachricht überbringt. Er freut sich und lässt Dich grüßen. «

 

Sie unterhielten sich freundlich mit Tobias und Narcisa. Danach baten sie mich, ihnen von meinem Einsatz zu berichten, was mich außerordentlich freute. Aber die höchste Freude sollte ich später erleben. Derweil schlug Lísias Mutter vor, ich solle sie begleiten und zu Hause ausruhen. Tobias jedoch meinte, ich solle hier bleiben und im Zimmer neben der Rehabilitationsstation ausruhen. Dankend nahm ich das Angebot an, da ich merkte, dass ich wirklich sehr müde war und schlafen musste. Fürsorglich bereitete Narcisa das Bett vor. Als ich allein in meinem sehr bequemen und großen Zimmer war, betete ich zum Herrn des Lebens, und dankte ihm für den Segen, nützlich gewesen sein zu dürfen. Die Müdigkeit des Rechtschaffenen und die Gewissheit, meine Aufgabe erfüllt zu haben, ließen mich ruhig einschlafen. Plötzlich fühlte sich mein Körper sehr leicht an, und ich hatte den Eindruck, in einem kleinen Boot in eine mir unbekannte Richtung geführt zu werden. Wohin ging die Reise? Ich fand es nicht heraus. Ein schweigsamer Mann saß an meiner Seite und steuerte das Boot. Ich ließ mich führen, ohne ein Wort zu sagen, und staunte wie ein Kind über die Schönheit der Landschaft, die an mir vorbei zog. Ich stellte fest, dass das Boot in sehr hohem Tempo flussaufwärts fuhr. Einige Sekunden vergingen und ich war in einem wunderbaren Hafen eingetroffen, wo jemand mit lieblicher Stimme rief:

 

»André !... André !...«

 

Hastig stieg ich aus dem Boot. Ich hätte diese Stimme unter tausenden wieder erkannt. Schon im nächsten Augenblick umarmte ich, außer mir vor Glück, meine liebe Mutter. Sie führte mich zu einem herrlichen Park mit einzigartigen und wunderbar duftenden Blumen, die das Licht in sich aufnahmen. Das in den Blumenkelchen gespeicherte Licht schien sich golden schimmernd über alles zu breiten. Leises Rascheln der Blätter großer Bäume war zu vernehmen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel an Farben, Duft und Licht. Auch das Gefühl von Glück und Frieden, das sich in mir ausbreitete, war von besonderer Art. Träumte ich? Vielleicht - aber es war eine andere Art von Traum. Nicht der Traum, den ich während meines irdischen Lebens träumte. Ich war mir bewusst, dass mein schwerfälliger Körper auf dem Bett lag, und dass ich mich auf einer höheren Ebene befand. Mein Zeit- und Raumgefühl war intakt, aber meine Ergriffenheit nahm zu. Mutter lobte und ermutigte mich mit liebevollen Worten, weiter an meinem spirituellen Wachstum zu arbeiten.

 

«Ich habe Jesus inständig gebeten, mir die erhabene Freude zu gestatten, Dich nach Deinem ersten Arbeitseinsatz zu mir zu holen. Wie Du siehst, wirkt die Arbeit wie eine himmlische Stärkung für das Herz. Leider haben dies viele unserer von der Erde zurück gekommenen Brüder und Schwestern noch nicht begriffen, und diese Haltung wirkt sich nachteilig für sie aus. Sie bevorzugen es, auf ein Wunder zu warten, das nie geschehen wird. Weil sie die angebotenen wertvollen Aufforderungen zu dienen nicht annehmen, sei es, weil sie unter der Einsamkeit leiden und ihnen der Mut dazu fehlt, sei es, dass sie das Umfeld, in dem sie für den Herrn arbeiten sollen, missfällt. Sie führen ein schmarotzerähnliches Dasein.

 

Es ist deshalb unerlässlich, lieber André, alle im Leben erhaltenen Möglichkeiten in gottgefälliges Dienen zu verwandeln. In den Niedrigeren Sphären bedeutet das, dem Hungrigen einen Teller Suppe zu geben, dem Leprakranken Balsam aufzutragen, dem Enttäuschten Mut zuzusprechen. Solche gesegneten Dienste der Nächstenliebe werden im Haus des Vaters nie vergessen.

 

Hier in diesen Sphären werden die in Liebe geleisteten spirituellen Dienste an unseren Nächsten, wie zum Beispiel, dem Schuldigen Verständnis entgegenzubringen, dem Verzweifelten die Frohbotschaft zu verkünden oder dem Betrübten Hoffnung zu machen, vom Herrn bemerkt und uns gutgeschrieben.«

 

Mutters Gesicht war schöner denn je. Ihre Augen leuchteten und ihr Blick strahlte Erhabenheit aus. Als ihre Hände mich voller Zuneigung berührten, übertrug sie belebendes Fluidum auf mich.

 

»Jesus Frohbotschaft, mein lieber André, soll uns daran erinnern, dass Geben uns glücklicher macht als Nehmen. Wir sind aufgerufen, dieses Prinzip in unserem Alltag umzusetzen und zwar überall dort, wo uns die Gelegenheit geboten wird. Deshalb, mein Sohn, sei tolerant gegenüber Deinen Brüdern und Schwestern, liebe sie, bring ihnen das Göttliche Verständnis entgegen. Wenn wir das Gute verinnerlicht haben, werden wir auch fähig sein, unseren Nächsten mehr zu geben. So wie Jesus, der mehr von sich für die Erhebung der Menschheit gegeben hat, als wenn alle Milliardäre dieser Welt sich zusammen täten, um der Menschheit mit Gütern zu helfen.

 

Auch wenn es sich um materielle Hilfe handeln würde, wäre diese Tat trotzdem lobenswert. Schäme Dich also nicht, mein geliebter Sohn, in der Rehabilitationsstation den Verwundeten zu helfen und den Wahnsinnigen Aufklärung zu bieten, so wie ich es bei Deinem Einsatz letzte Nacht erlebt habe. Arbeite und tue Gutes! So wie auf der Erde leben auch in allen spirituellen Kolonien rastlose Seelen, die gierig nach Neuheiten und Unterhaltung sind und die der Hilfe bedürfen. Immer, wenn sich Dir die Gelegenheit bietet, versuche in erster Linie nützlich zu sein und sorge Dich nicht um Zerstreuung. Obwohl ich eine noch bedürftige Seele bin, kann ich im Geist sowohl Deine Bemühungen in der Kolonie Nosso Lar, als auch das Leid Deines Vaters in der Schwellenregion verfolgen. Gott kennt uns alle und weiß was wir tun. Dies gilt sowohl für einen erhabenen geistigen Botschafter seiner Liebe, als auch für das letzte der Wesen seiner Schöpfung, das noch auf einer niedrigeren Stufe als die Würmer der Erde steht. «

 

Sie schwieg und ich wollte etwas sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Die Erläuterungen meiner Mutter berührten mich aufs Tiefste. Mich liebevoll anschauend, sprach sie weiter:

 

»Hier, wie in den meisten spirituellen Kolonien, ist der Stundenbonus als Belohnung für die geleisteten Arbeitsstunden bekannt. Er vereint zwei wesentliche Faktoren: Einerseits kann dieser Bonus von jemandem zu unseren Gunsten eingesetzt werden, andererseits können wir damit jemanden aus unserem Familienkreis begünstigen. Indessen wird der reale Wert des Stundenbonus ausschließlich von Gott festgelegt, da uns fehlbaren Wesen, die auf Erden im Evolutionsprozess stecken, Fehler unterlaufen könnten.

 

Der spirituelle Inhalt der geleisteten Stunden wird hingegen direkt zwischen dem Arbeitenden und den Göttlichen Kräften der Schöpfung festgelegt. Deshalb, André, ändern sich Tag für Tag die Erfahrung bringenden Tätigkeiten, die wir seit dem Verlassen der Erde zugunsten unseres gemeinsamen Fortschritts ausüben. Gott ermöglicht es dem Verwalter, den er eingeladen hat, am Göttlichen Werk des Lebens mitzuwirken, aus vielfältigen Aufgaben wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen. Gleichermaßen hat er seinen Geschöpfen das Vorrecht erteilt, auf Erden oder auf anderen Welten für eine gewisse Zeit Vater oder Mutter zu sein. So wie der ehrbare und ehrliche Verwalter bestrebt ist, seine Aufgabe zu erfüllen, so ist auch Gott ein umsichtiger Vater und vergisst niemanden. Gott allein ist es vorbehalten, die Leistung des Arbeiters einzuschätzen. Jede Belohnung, die von außen kommt, wirkt sich auf die im Evolutionsprozess stehende Persönlichkeit aus. Dennoch zählt für die immerwährende Persönlichkeit nur die Leistung, die sie auf ihrem Weg zu Gottesruhm erbracht hat. Deshalb schenkt Gott denjenigen, die ihre Zeit nutzen, um zu lernen, die Weisheit und denjenigen, die die Fähigkeit zum Verzicht entfaltet haben, längere Lebensdauer und Freude. «

 

Während ich meine Tränen trocknete, schwieg meine Mutter. Dann nahm sie mich in ihre Arme und streichelte mich zärtlich. Wie ein Kind, das nach seiner Lektion ruhig einschläft, verlor ich das Bewusstsein, erwachte später in meinem Zimmer und fühlte, wie ein starkes Gefühl der Freude mich erfüllte.

 

 

 

(37)

 

DIE VORLESUNG DER MINISTERIN VENERANDA

 

 

Am nächsten Tag vernahm ich zu meiner großen Freude, dass Ministerin Veneranda einen Vortrag halten würde. Da ich wusste, dass man eine Erlaubnis haben musste, um an dem Vortrag teilzunehmen, unterhielt ich mich mit Tobias darüber:

 

»Unsere Instrukteure haben ein dicht gedrängtes Programm zu bewältigen weshalb an ihren Vorträgen nur die teilnehmen dürfen, die ernsthaft daran interessiert sind. Demgemäß ist es Dir erlaubt, dem Vortrag von Ministerin Veneranda beizuwohnen. Außer Dir werden viele hunderte Mitarbeiter der Ministerien für Hilfeleistung undErneuerung und deren Schützlinge dort sein. « Erklärte er und verabschiedete sich.

 

Den neuen Tag verbrachte ich im aktiven Dienst. Die Begegnung mit meiner Mutter und ihre wunderbaren Erläuterungen, die guten Taten betreffend, erfüllten meine Seele mit Zuversicht. Als ich an diesem Morgen erwachte, tauchten einige Fragen bezüglich der Erklärung des Stunden- Bonus auf. Wie kam es, dass Gott die Kompensation der geleisteten Dienste bestimmte? Wäre es nicht eher die Aufgabe des spirituellen Verwalters die Stunden zu zählen?

 

Tobias, der sich inzwischen an meine Wissbegierde gewohnt hatte, erklärte:

 

»Es istmeistens die Pflicht des Verwalters, die Stunden der geleisteten Dienste zu zählen und so die rechtmäßig erworbenen Verdienste dem Arbeiter anzurechnen. Der tatsächliche Wert der vollbrachten Dienstleistungen kann aber nur von der Allwissenheit Gottes bestimmt werden. Es gibt Arbeiter, die eine besondere Tätigkeit ausüben. Nach vierzig Jahre scheiden sie aus dem Dienst aus ohne sich spirituell entfaltet zu haben; sie haben es versäumt, die ihnen zugewiesene Aufgabe edelmütig und hingebungsvoll zu verrichten. Ebenso gibt es Menschen, die ihr physisches Leben nach hundert Jahren verlassen und immer noch unwissend wie ein Kind sind. Die Erläuterungen Deiner Mutter sind von unschätzbarem Wert. Um zu verstehen, was ihre Worte bedeuten, nehmen wir das Beispiel von den Stunden, die gute und schlechte Menschen geleistet haben: Bei den guten Menschen verwandeln sich diese Arbeitsstunden in einen Speicher voller Segen. Hingegen bei schlechten Menschen verwandeln sich die Stunden in qualvolle Gewissensbisse, als ob sie verflucht wären. Jedes Kind muss Gott Rechenschaft ablegen darüber, wie er die erhaltenen Möglichkeiten genutzt oder welche Werke er vollbracht hat «, erklärte Tobias.

 

Diese Betrachtungen brachten mich dazu, die Zeit in ihrem Gesamtaspekt zu überdenken. Es war vorgesehen, dass der Vortrag nach dem nachmittäglichen Gebet stattfinden sollte. Als es an der Zeit war ging ich mit Narcisa und Salústio zum Vortragssaal, der sich inmitten der Natur befand. Es war ein wunderbar grüner Ort. Aus Gras hergestellte Bänke luden zum Platz nehmen ein. Im Kerzenlicht schimmerten prächtige Blumen, die einen herrlichen Duft verbreiteten. Ich schätzte, dass ungefähr tausend Personen anwesend waren. Die Sitze waren wie in einer Versammlung angeordnet und ich bemerkte, dass zwanzig Geistwesen auf einer Bühne Platz genommen hatten, die sich zwischen uns und dem mit Blumen dekorierten Podium der Rednerin befand. Narcisa erläuterte das Geschehen:

 

» Diese Geistwesen haben einen besonderen Rang, weil sie über umfassende und fortgeschrittene Kenntnisse des heutigen Themas verfügen.

 

Sie sind als einzige berechtigt, sich direkt an die Ministerin Veneranda zu wenden. Dieses Recht wurde ihnen erteilt wegen dem Fleiß und der Beharrlichkeit, mit welcher sie ihr Wissen über das Thema erlangten. Ich denke, dass auch uns dieses Recht einmal zustehen wird. «

 

»Solltest Du nicht auch zu ihnen gehören? «, fragte ich sie.

 

»Nein, noch nicht. Dieser Platz steht mir vorerst nur zu, wenn Ministerin Veneranda über die Behandlung von verwirrten Geistwesen spricht. Dennoch gibt es Geistwesen, die deswegen anwesend sein dürfen, weil sie über ein breit gefächertes und gründliches Wissen über verschiedene Themen verfügen. «

 

»Ein merkwürdiges Konzept«, sagte ich. »Der Gouverneur entschloss sich zu dieser Maßnahme, weil er damit verhindern wollte, dass die Kurse und Vorträge der Minister durch Teilnehmer gestört werden.

 

Denn, obwohl ihnen die notwendigen Kenntnisse fehlen, wollen sie ihre persönliche Meinung dazu äußern. Dies würde aber einen großen Zeitverlust für die wirklich Interessierten bedeuten. Dessen ungeachtet dürfen immer Fragen gestellt werden sofern sie dazu dienen, aufkommende Zweifel zu beseitigen. Sie müssen aber zum richtigen Zeitpunkt gestellt werden, und immer nur dann, wenn sie für die Allgemeinheit von Nutzen sind«, erklärte Narcisa.

 

Ministerin Veneranda betrat den Saal. Sie war in Begleitung von zwei sehr vornehm aussehenden Frauen, die dem Ministerium für Kommunikation vorstanden, wie mir Narcisa sagte. Das Erscheinen der Ministerin Veneranda löste große Freude bei den Anwesenden aus. Obwohl ihr Name die „Altehrwürdige" bedeutet, zeigte ihr Gesicht keine Alterserscheinung. Es strahlte Güte und Bescheidenheit aus. Sie beriet sich kurz mit den Geistwesen auf der Bühne, die ihr die vom anwesenden Publikum meist benötigten Informationen aufzeigten. Dann begann sie ihre Vorlesung mit der Begrüßung:

 

»Wie immer möchte ich heute, statt einen langen Vortrag über das Thema 'Gedanken' zu halten, mich kurz fassen und Ihnen Wichtiges darüber sagen. Gegenwärtig befinden sich unter uns hunderte von Hörern, die erstaunt feststellen, dass es in unserer Sphäre ebenso viele Arten der Kommunikation wie auf Erden gibt. Dazu einige Fragen: Wusstet Ihr nicht, dass Gedankenübertragung die universelle Sprache ist? Habt Ihr gewusst, dass die Gedanken, als mentale Schöpfungen, das Wichtigste in unserem Leben sind? Zahlreiche Geschwister stellten verblüfft fest, dass hier die Behausungen, die Gebrauchsgegenstände und die Sprache die gleichen sind wie auf Erden. Diese Realität sollte niemanden überraschen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir während unserer irdischen Existenz in uns bekannten, entgegen gesetzten Schwingungsfeldern gelebt haben. Das Denken bildet die Grundlage gegenseitiger spiritueller Beziehungen aller Wesen. Im Universum sind es viele Millionen Seelen, die sich nur zaghaft diesen universellen Gesetzen unterordnen wollen. Wir können uns nicht mit den älteren und weiseren Geistwesen vergleichen, die in der Nähe des Göttlichen Vaters leben. Leider sind wir Geistwesen, die sich immer noch damit begnügen, in den niedrigen Welten unseres unvollkommenen Ichs zu leben. Anerkannte Lehrmeister auf Erden brachten die göttlichen Prinzipien den Menschen bei und offenbarten ihnen die unabänderlichen und tiefgründigen Wahrheiten. So gesehen, sind uns diese Gesetze während unseres irdischen Daseins bekannt, aber wir schenken ihnen weder Beachtung noch trachten wir danach, in Einklang mit ihnen zu leben. «

 

Ministerin Veneranda sprach weitere wichtige Punkte an:

 

»Könnte es sein, dass der Mensch, wenn er die Macht der Gedanken anerkennt, sich von seinem Gefühl der Minderwertigkeit befreien kann? Das ist fast unmöglich, wird man behaupten!

 

Ein irdisches Dasein ist nicht genug, um den Anspruch zu erheben, einen Platz unter den göttlichen Mitarbeitern einnehmen zu dürfen. Obwohl wir heute wissen, wie mächtig Gedanken sind, wollen wir nicht daran erinnert werden, dass wir während tausenden von Jahren diese spezifische Energie dazu benutzt haben, um Gedanken auszusenden, die sich zerstörerisch oder schädlich auf uns auswirkten.

 

Im Verlauf des Evolutionsprozesses hat der Mensch die Schulen der Weltreligionen besucht, um spirituell Wachsen zu können. Indessen hat der Mensch sich nicht selten dem Lippenbekenntnis hingegeben, statt das Gelehrte umzusetzen. Aber keiner kann seinen Pflichten mit Worten nachkommen, sondern nur mit Taten. Wie es in der Bibel geschrieben steht: 'dass der Herr des Lebens sich nicht mit dem Wort begnügte, sondern seine Schöpfung fortsetzte und noch heute arbeitet.' Obwohl wir wissen, dass der Gedanke die grundlegende Kraft darstellt, können wir nicht zugeben, dass wir seit Millionen von Jahren nicht fähig sind, diese Kraft richtig zu gebrauchen. Es ist bekannt, dass dem Vater die Pflicht obliegt, für seine Kinder zu sorgen. Demgegenüber steht die spirituelle Pflicht, dass jedes Geistwesen für seine eigenen mentalen Schöpfungen Verantwortung übernimmt. So wie kriminelle Gedanken gleichartige Wirkung erzeugen, sind erhabene Gedanken dem gleichen Gesetz unterstellt. Um es einfacher auszudrücken: Nachdem das Wasser verdampft ist und in die Höhe steigt, kehrt es gereinigt in Form von Niederschlägen, angereichert mit lebensnotwendigem Fluidum, als Segen spendender Regen oder als Tau auf die Erde zurück. Von der unreinen Erde aufgenommen, bilden sich zerstörerische Kleinstlebewesen.

 

Der Gedanke ist überall eine lebendige Kraft. Er ist die schöpferische Energie, die Eltern wie Kinder beeinflusst und in der universellen Familie für Ursache und Wirkung verantwortlich ist. Durch die Kraft der Gedanken kann der Mensch zum Engel werden oder er kann sich zu einem diabolischen Genie entwickeln, was ihn in den Abgrund zerren wird. Könnt Ihr die Bedeutung dieser Aspekte erfassen? Gewiss können Geistwesen, die sehr entwickelt sind und, ungeachtet ob sie sich im irdischen Körper aufhalten oder nicht, sich mental mitteilen. Sie können dies tun, ohne verbale oder sonstige Formen anzuwenden. Es ist wichtig zu betonen, dass die Grundlage aller Ideen, die alle Wesensarten als Intuition wahrnehmen, in den Gedanken entsteht. Deshalb kann ein Geistwesen, das immer in Frankreich gelebt hat, mühelos mentalen Kontakt zu einem Geistwesen in Brasilien herstellen und pflegen. Gedanken können ohne spezielle verbale Ausdrucksform vermittelt werden. Voraussetzung für diesen Gedankenaustausch ist, dass der Sender und der Empfänger sich auf der gleichen mentalen Ebene befinden, damit eine reine Übereinstimmung gelingt.

 

Wir befinden uns nicht in den Sphären absoluter mentaler Reinheit, in welchen gegenseitige Affinität unter den Geschöpfen herrscht. Wir stimmen uns auf andere isolierte Kreise ein. Unter dem Druck der Evolution schreiten wir voran und arbeiten auf Erden an unserem Fortschritt mit dem Ziel, solides Wissen und wichtige Erfahrungen bei unserer Rückkehr in die spirituellen Sphären mitnehmen zu können.

 

Nosso Lar, als eine spirituelle Übergangsstätte, ist ein Geschenk der Göttlichen Gnade, die uns zuteil wird, damit einige wenige sich auf ihren Aufstieg vorbereiten können und den anderen, der Mehrheit von uns, die Gelegenheit gegeben wird, wieder auf die Erde zurückzukehren, um dort Aufgaben zu erfüllen, die der Wiedergutmachung dienen. Wir sollten die Gesetze, unter denen die Gedanken wirken, zur Kenntnis nehmen und uns ihnen unverzüglich unterordnen. «

 

Ministerin Veneranda hielt inne und mit einem bedeutungsvollen Blick fragte sie das Publikum:

 

»Wer möchte die Gelegenheit sogleich ergreifen? «

 

Es ertönte sanfte Musik. Ministerin Veneranda plauderte noch für eine Weile mit einigen Anwesenden, wobei ihr Feingefühl, ihre Weisheit und ihre liebevolle und sanfte Art deutlich zu spüren waren. Mit der an das Publikum gerichteten Frage beendete sie den Vortrag. Erst als ich sah, dass sich die Teilnehmer verabschiedeten, fragte ich erstaunt:

 

»Ist der Vortrag schon zu Ende? «

 

Narcisa erklärte lächelnd:

 

»Dies ist die übliche Art der Ministerin, einen Vortrag zu beenden. Sie bricht ihn stets an dem Punkt ab, an dem unser Interesse am größten ist. Gewöhnlich zitiert sie Jesus und erwähnt, dass seine Predigten einen Anfang haben, aber man wisse nie, wann und wie sie enden. «

 

 

 

(38)

 

BEI TOBIAS ZU HAUSE

 

 

An meinem dritten Arbeitstag wurde ich von Tobias überrascht, als er sagte:

 

„Nach Deinem Dienstschluss am späten Nachmittag - der Abenddienst wird von anderen übernommen - bist Du herzlichst eingeladen zu mir nach Hause zu kommen.

 

Dieser Besuch sollte wunderschön und lehrreich werden. Als wir bei Tobias ankamen, stellte er mich zwei Frauen vor: Die ältere war seine Gattin Luciana, und die andere, mittleren Alters, seine Schwester Hilda. Beide begrüßten mich sehr freundlich. Tobias führte uns alle in die Bibliothek des Hauses. Dort konnten wir in verschiedenen, sehr schön gebundenen spirituellen Büchern blättern.

 

Frau Hilda lud mich in den Garten ein und zeigte mir dort eine hübsch verzierte Laube.Es hatte den Anschein, dass jede Familie in Nosso Lar in ihrem Garten unterschiedliche Blumensorten züchtete. In Lísias Garten waren hunderte von Glyzinien und Lilien zu bewundern. Im Hause Tobias' war der Garten voll von wunderschönen Hortensien, die zwischen Veilchenbeeten blühten. Hier waren es Lauben, welche aus zierlichen Bäumen, die an jungen Bambus erinnerten, gebildet wurden. Die vom Boden bis hinauf zur Decke der Laube sich aufrichtenden und ineinander verschlungenen grüne Äste stellten ein kunstvolles und interessantes Gebilde dar, das als Dach diente.

 

Ich wurde von dieser Fülle an Eindrücken überrascht und fand wieder einmal keine Worte, die meine Gemütsbewegung ausdrücken könnten.

 

Wir sprachen über die schöne Landschaft die sich vor aus ausbreitete und die nur aus diesem Winkel des Ministeriums für Erneuerung zu sehen war. Luciana bat uns wieder hinein kommen, denn ein kleiner Imbiss sei angerichtet worden. Ich fühlte mich in der einfachen und freundlichen Umgebung sehr wohl und empfand Tobias gegenüber tiefe Dankbarkeit für seine Einladung. Als ich ihm dies sagen wollte, winkte er ab. Stattdessen unterhielten wir uns angeregt, als er freundlich sagte:

 

»Mein Freund, Du bist erst seit kurzem im Ministerium angekommen so dass ich annehmen darf, dass Dir meine Familiengeschichte noch nicht bekannt ist. «

 

Beide Frauen lächelten, als sie mein Erstaunen bemerkten und der Hausherr fuhr fort mit seiner Erklärung:

 

»Meine Geschichte ist kein Einzelfall in der Kolonie, denn zahlreiche Familien befinden sich in ähnlicher Lage. Stell Dir vor, dass ich zweimal verheiratet gewesen bin. «

 

Auf seine Partnerinnen deutend meinte er:

 

»Über meine Gefährtinnen gibt es nichts zu sagen. «

 

»Naja«, sagte ich etwas verwirrt und fragte:»Bedeutet das, dass Frau Hilda und Frau Lucianabeide Deine Gattinnen auf Erden gewesen sind? «

 

»So ist es«, antwortete er ruhig.

 

Dann meldete sich Frau Hilda zu Wort:

 

»Bruder André vergib unserem Tobias. Jedes Mal wenn uns Rückkehrer von der Erde besuchen, kann es Tobias nicht lassen, ihnen von unserer Vergangenheit zu berichten. « sagte sie.

 

Tobias erwiderte heiter:

 

»Ist es denn kein Grund zur Freude, wenn das Laster der Eifersucht besiegt wurde und neue, geschwisterliche Liebe triumphieren konnte? «

 

»Ich bin überzeugt, dass dies für uns alle ein ernst zu nehmendes Problem ist«, bemerkte ich.

 

Tobias fuhr fort: «Es gibt doch auf der Erde eine Unzahl von Menschen, die in zweiter Ehe leben. Wie kann dieses so außerordentlich wichtige Konzept der Liebe betrachtet werden angesichts dessen, dass wir unsterbliche und ewige Geister sind? Mittlerweile wissen wir, dass der körperliche Tod nichts zerstört, sondern nur verändert. Wie soll das Thema der mehrfachen Ehen angegangen werden? Sollen Menschen verurteilt werden, weil sie sich mehrmals vermählt haben? Sicher ist, dass sich Millionen Menschen in dieser Lage befinden. Ich denke dabei an das, was Jesus über die Ehe sagte: Sie wird im Himmel geschlossen und dauert eine Ewigkeit. Zwingend ist es jedoch, uns einzugestehen, dass wir uns trotz unserer Verehrung für den Meister noch nicht auf der Stufe der Engel befinden. Wir sind auch als Nichtinkarnierte immer noch auf dem Weg der Evolution. «

 

»Und welche Lösung gibt es für solche Fälle? «, fragte ich.

 

Tobias fuhr mit seiner Erläuterung fort:

 

»Es ist einfach: Wenn wir uns bewusst sind, dass für Menschen die Entwicklung stufenweise vorangeht und für die Weiterentwicklung zum Engel dem Menschen ein langer Weg bevorsteht, wie können wir dann erwarten, in Gesellschaft engelhafter Wesen leben zu können. Wir sind doch nicht einmal fähig brüderlich miteinander umzugehen. Gewiss gibt es Brüder und Schwestern, die Dank ihres starken Willens und ihrer Entschlossenheit fähig sind, sich über Hindernisse hinwegzusetzen. Doch die Mehrheit von uns ist immer noch auf die Hilfe und Unterstützung von liebevollen Beschützern angewiesen. Diese Wahrheit berücksichtigend, kann nur die Wiederherstellung der brüderlichen Liebe zwischen den Betroffenen die Lösung bringen. Es ist unbestritten, dass die wahre Vermählung eine seelische ist und dass die Vereinigung zweier Seelen durch nichts getrennt werden kann. «

 

Luciana, bis jetzt schweigsam, sagte:

 

»Ich möchte aber betonen, dass wir das Glück gefunden haben dank Hildas Herzensgüte und selbstlosem Handeln. «

 

»Ich bitte Euch lasst es sein. Ihr müsst nicht Tugenden loben, die ich nicht besitze. « meinte Frau Hilda bescheiden: »Ich versuche meine schmerzliche aber lehrreiche Geschichte unserem Bruder in wenigen Worten zu erzählen. Als Tobias und ich uns auf der Erde vermählten, waren wir noch sehr jung. Wir erfüllten damit ein gemeinsames, heiliges Versprechen, das wir uns noch vor der Reinkarnation gegeben hatten. Ich glaube, es ist nicht notwendig zu erklären, wie beglückend es sein kann, wenn sich zwei wahrhaft liebende Seelen vermählen. Allerdings zerbrach unser Glück, als der Tod mich bei der Geburt unseres zweiten Kindes dem irdischen Leben entriss. Unsägliches Leid kam über uns. Tobias weinte viel und ich war zu schwach um gegen die Niedergeschlagenheit und Verzweiflung anzukämpfen. Ich verbrachte eine schwere und leidvolle Zeit in der Schwellenregion, zumal ich jeden Aufklärungsversuch seitens befreundeter Geistwesen ignorierte, obgleich ich sie intuitiv wahrnehmen konnte. Stattdessen klammerte ich mich noch fester an meinen Mann und an meine beiden Kinder. Ich wollte kämpfen, so wie die Henne für ihre Küken kämpft. Ich wusste, dass mein Mann eine neue Familie gründen wollte und dass die Kleinen eine Mutter brauchten, weil meine unverheiratete Schwägerin die Kinder nicht mochte, und die Köchin des Hauses ihnen nicht ehrlich zugetan war. Zudem waren die zwei Kindermädchen unverantwortlich und nicht in der Lage, ihrer Aufgabe nachzukommen. Tobias durfte die Lösung für das Problem nicht länger hinausschieben und nach einem Jahr vermählte er sich mit Luciana, was mich sehr verstimmte. Wenn ihr wüsstet, wie empört ich war!

 

Ich fühlte mich wie eine verletzte Wölfin und in meiner Ignoranz habe ich sogar angefangen gegen die Neue zu kämpfen und versuchte sie zu vernichten. Dennoch hat Jesus es ermöglicht, dass meine Großmutter mütterlicherseits, die seit vielen Jahren unter den Nichtinkarnierten weilt, mich in der Schwellenregion besuchen durfte. Zu meiner Überraschung kam sie auf mich zu und nahm an meiner Seite Platz. Etwas später setzte sie mich auf ihren Schoss, so wie sie es im Leben getan hatte und fragte mich mit bewegter Stimme:

 

»Meine Enkelin, was tust Du? Wie siehst Du Dich im Leben? Als Wölfin oder als ein gottbewusstes Geschöpf? Weißt Du, dass unsere Schwester Luciana jetzt wie eine eigene Mutter für Deine Kinder sorgt? Sie kümmert sich um Deinen Haushalt, pflegt Deinen Garten und erträgt die schlechten Launen Deines Mannes. Meinst Du nicht, dass ihr das Recht zusteht, den Platz als seine Lebensgefährtin einzunehmen? Ist dies die Art sich für die göttliche Unterstützung erkenntlich zu zeigen und die zu belohnen, die Dir helfen? Du duldest sie als Bedienstete, aber nicht als Schwester. Hilda, Hilda!

 

Hast Du Dich vom christlichen Glauben abgewendet? Hast Du vergessen, was Du gelernt hast? Meine arme Enkelin, meine arme....«

 

Weinend umarmte ich meine geliebte Großmutter und zusammen mit ihr verließ ich meine irdische Familie. Sie brachte mich in die spirituelle Übergangstätte Nosso Lars und seit damals betrachte ich Luciana als eine Tochter. Auch begann ich mich um mein spirituelles Wachstum zu bemühen. Ich hatte das Bedürfnis zu lernen und den Mitgliedern meiner irdischen Familie gleichermaßen zu helfen. Tobias> neue Familie wurde durch die heiligen, spirituellen Bande zu meiner Familie. Nach unserem irdischen Tod wurden Tobias und ich wieder vereint und zusammen mit Luciana bilden wir nun eine glückliche Familie. »Mein Freund, das ist unsere Geschichte. «

 

Luciana fügte noch hinzu:

 

»Sie spricht nicht über die Opfer, die sie bringt, um mir ein gutes Vorbild zu sein. «

 

»Sag das nicht, meine Tochter«, erwiderte Frau Hilda und berührte sanft Lucianas Wange.

 

Luciana lächelte und sagte:

 

»An dem Tag als Hilda mich küsste und mir vergab, fühlte ich, dass sich mein Herz vom Gespenst der Eifersucht befreit hatte. Dank Jesus und ihrer Hilfe habe ich gelernt, dass Ehen aus verschiedenen Gründen geschlossen werden: Aus Liebe, aus Freundschaft, und dass es die Pflichtehe und die Ehe als Prüfung gibt. Die spirituelle Ehe wird zwischen zwei sich liebenden Seelen geschlossen. Andere Paare heiraten, weil die Ehe ihnen die Möglichkeit der gegenseitigen Versöhnung oder der Wiedergutmachung von früher begangenen Verfehlungen bietet. Alle Ehen sind heilig. «

 

»Auf der Basis ehrlicher Brüderlichkeit haben wir eine neue Familie gegründet«, betonte Tobias. Es entstand eine Pause, die ich nutzte um zu fragen:

 

»Wann findet die Eheschließung hier statt? «

 

»Wenn sich beide auf der gleichen Schwingungsebene befinden«, erklärte Tobias. »Oder, um genauer zu sein, durch die höchste oder vollkommenste Affinität der Seelen.«

 

Wissbegierig vergaß ich für einen Augenblick die guten Manieren und fragte nach:

 

»Aber, wie steht es um Luciana? «

 

Bevor die Eheleute antworten konnten, ergriff Luciana selbst das Wort und erläuterte:

 

»Als ich den Witwer Tobias heiratete, musste ich geahnt haben, dass es vor allem eine Heirat aus Freundschaft sein würde. Ich hatte große Mühe, dies zu begreifen.

 

Ehen, in denen Partner von Unruhe geplagt sind, es Zwietracht gibt oder Traurigkeit herrscht, sind wohl eher eine rein körperliche Gemeinschaft, denn es besteht keine spirituelle Verbindung zu einander. «

 

Ich brannte darauf weitere Fragen zu stellen, da ich jedoch weder unhöflich noch aufdringlich sein wollte, hielt ich mich damit zurück. Dennoch erriet Frau Hilda meine Gedanken und sagte:

 

»Sei unbesorgt, Luciana ist verlobt. Ihr edler, spiritueller Gefährte aus zahlreichen gemeinsamen irdischen Leben ist seit einigen Jahren auf der Erde inkarniert und wartet auf sie. Das glückliche Treffen der beiden auf Erden ist vorgesehen für nächstes Jahr in São Paulo, Brasilien. «

 

Wir lachten alle fröhlich, da wurde Tobias zu einem dringenden Fall in die Rehabilitationsstation gerufen und wir waren gezwungen unser Gespräch zu beenden.

 

 

 

(39)

 

FRAU LAURAS ERLÄUTERUNGEN

 

 

Tobias' Geschichte berührte mich sehr.

 

Diese Familie, die auf den neuen Werten der Brüderlichkeit gegründet ist, wurde für mich zu dem Zentralthema meiner Überlegungen. Insofern als ich mich immer noch als das Oberhaupt meiner irdischen Familie betrachtete, wusste ich wie schwierig es wäre, wenn auch ich mich in einer solchen Lage befände. Ich fragte mich, ob ich den Mut von Tobias gehabt hätte, ob ich mich wohl so verhalten hätte wie er? Ich musste zugeben, dass ich so etwas meiner geliebten Zélia nicht zugemutet hätte, noch würde ich ein solches Verhalten von ihr geduldet haben.Das, was ich im Haus von Tobias gehört hatte, nahm mich derart in Anspruch, vor allem weil viele diesbezügliche Fragen mich bedrängten. Ich beschloss, am nächsten Tag zu Lísias zu gehen. Ich war brennend interessiert zu erfahren, was Frau Laura, zu der ich vollstes Vertrauen hatte, dazu sagen würde. Dort angekommen, wurde ich von allen freudig begrüsst. Ich dachte es wäre besser, wenn ich den richtigen Augenblick abwartete, um Frau Laura mein Anliegen zu unterbreiten. Als dann die Jungen das Haus verlassen hatten, um ihren Freizeitbeschäftigungen nachzugehen, näherte ich mich meiner großherzigen Freundin und etwas beschämt brachte ich das mich verwirrende Thema zur Sprache.

 

Frau Laura, die viel Lebenserfahrung besitzt, lächelte mir zu und sagte:

 

»Es ist sinnvoll, dass Du damit zu mir gekommen bist. Zu zweit können wir das Thema leichter angehen und erläutern, zumal jedes Seelenproblem der freundlichen Hilfe bedarf, um gelöst zu werden. «

 

»Der Fall Tobias « sagte sie nach einer kurzen Pause »ist nur ein Beispiel für viele ähnliche Fälle in unserer Kolonie. Diese erhabene Art des Denkens und des Handelns zeichnet auch andere spirituelle Gemeinschaften aus. «

 

»Es berührt unsere Gefühle sehr stark, nicht wahr? « bemerkte ich.

 

»Nun, aus menschlicher Sicht betrachtet, ist es sogar unfassbar. Jetzt aber sind wir aufgerufen, alles den natürlichen und spirituellen Prinzipien unter zu ordnen. Deshalb müssen wir lernen zu begreifen, dass sich die Evolution des Lebens in aufeinander folgenden Etappen abspielt. Während langer Zeit durchlief das menschliche Wesen viele Daseinsstufen, die von triebhaftem Verhalten gekennzeichnet waren. Es ist richtig, dass sich diese Spuren nicht von einem Tag auf den anderen beseitigen lassen. Wir haben viele Jahrhunderte gebraucht, um uns aus den Schalen unseres niedrigen Seins zu befreien und tun uns schwer zu begreifen, dass Sexualität eine dem Menschen von Gott gegebene Eigenschaft ist. Meines Erachtens bist Du noch nicht in der Lage, den höheren Sinn dieser Familie in vollem Umfang zu erfassen. In Tobias spiritueller Familie herrscht ein starkes Gefühl der Glückseligkeit, da sie nach ihrer Ankunft in der Kolonie die dunklen Wolken, die ihr irdisches Dasein überschatteten, in gegenseitiges Verständnis und brüderliche Liebe zu verwandeln wussten. Etwas, das nur Wenigen in so kurzer Zeit gelingt.«

 

»Läuft es in Regel so ab? «, fragte ich. »Erhält jeder Mann und jede Frau, die sich auf Erden mehrmals vermählt haben, in der spirituellen Sphäre die Gelegenheit, ihre familiären Beziehungen wiederherzustellen und mit ihren Lieben wieder zusammen zu sein? «

 

Frau Lauras Geduld mir gegenüber war bewundernswert.

 

»Sieh das nicht so radikal, »setzte sie ihre Erläuterung fort. »Es gibt Menschen, deren Fähigkeit zu verstehen noch nicht ausgereift ist, und trotzdem empfinden sie Liebe. Deshalb ist es unabdingbar, dass sich alles langsam entwickelt. Bedenke, dass alles, was wir hier an Gutem aufbauen, von größerem Wert ist, als das, was wir auf Erden erreicht haben. Der Fall Tobias zeigt uns den Sieg der wahren Brüderlichkeit, der von drei Seelen errungen wurde, die sich bemühten, wahres Verständnis füreinander zu erlangen. Jene, die sich nicht dem Gesetz der Brüderlichkeit und des Verständnisses anpassen wollen, werden innerhalb ihrer eigenen Grenzen bleiben, anstatt sie durchbrechen zu können. In der Schwellenregion gibt es finstere Gegenden, in denen sich Geistwesen aufhalten, die diesen Prüfungen nicht standhielten. Solange sie in ihrem Hass verhaftet bleiben, gleichen sie magnetisch aufgeladenen Nadeln, die von entgegengesetzter Energie angezogen, sich in alle Richtungen drehen. Solange sie der Wahrheit nichts abgewinnen können, bleiben sie Gefangene der Unwahrheiten. Infolgedessen bleibt ihnen den Zugang zu höheren Regionen verwehrt.

 

Dieser Umstand trifft auf unzählige Geistwesen zu, die während vieler Jahre dort ihr trostloses Dasein fristen müssen, nur weil sie sich der wahren Brüderlichkeit nicht unterordnen wollen. «

 

»Was geschieht mit diesen armen Seelen, wenn ihnen die Gelegenheit verwehrt wird in spirituellen Kolonien das zu lernen, was ihnen fehlt, und wo halten sie sich auf? «, wollte ich von ihr wissen.

 

»Nachdem sie die wahre Hölle durchlebten, die sie durch ihre eigenen niedrigen mentalen Schöpfungen selbst verursachten, wird ihnen die Gelegenheit gegeben, ein neues physisches Dasein auf Erden zu beginnen. Dort können sie ihre Entwicklung fortsetzen, was ihnen in der spirituellen Welt als Nichtinkarnierten nicht gelang. In den physischen Leib eingetaucht, werden sie, Dank der göttlichen Gnade, ihre Vergangenheit vergessen haben und von jenen Familienbanden aufgenommen werden, von welchen sie sich im Zustand des Hasses oder Unverständnisses getrennt hatten. Dies erinnert uns an Jesus» Worte, als er uns ermahnte, uns noch während des physischen Lebens mit unseren Feinden zu versöhnen. Wir sollten diesen Rat in unserem eigenen Interesse befolgen, denn er ist an uns alle gerichtet.

 

Wer nach der Beendigung des Reinkarnationszyk- lus auf Erden die Zeit zu nutzen weiß, kann sein Gewissen ins Reine bringen und den inneren Frieden erlangen. Im Falle eines neuen irdischen Lebens wird er eine leichtere Bürde zu tragen haben. Es gibt jedoch viele, denen es trotz zahlreicher Reinkarnationen, die sich über viele Jahrhun­derte erstrecken, nicht gelingt, sich noch auf Erden mit ih­ren Gegnern zu versöhnen. Erst wenn sie ihren physischen Körper abgelegt haben, gelangen sie zu dieser Erkenntnis und erfüllen das, was Jesus uns lehrte, nämlich unseren Feinden zu vergeben.

 

»Aber, mein lieber André, es sagt sich nicht einfach so: „Ich vergebe", denn das sind nur Worte. Derjenige, der wahrhaftig vergibt, muss zuerst Schwerstarbeit in seinem Inneren leisten. Er muss das aus früheren Zeiten angesam­melte Bündel an Kränkungen und Beleidigungen bewegen, umschichten, aufräumen, um dann davon loszukommen. «

 

Frau Laura unterbrach ihre Erläuterungen. Sie schien nachzudenken. Ich nutzte den Augenblick und bemerkte:

 

»Für mich ist die Ehe heilig. «

 

Sie schaute mich ohne jede Überraschung an und erwiderte:

 

»Geistwesen, die noch auf der Anfangsstufe ihrer Entwicklung stehen, zeigen sich an solchen Gesprächsthemen nicht interessiert.

 

Für uns jedoch, da wir uns bewusst sind, dass wir nur mit Christus die Erleuchtung erlangen können, ist es wichtig, zu wissen dass nicht nur die Ehe sondern jede sexuelle Erfahrung von grösster Wichtigkeit ist, weil sie Einfluss nimmt auf das Leben der Seele. «

 

Ihre Erläuterung machte mich verlegen, denn ich konnte mich noch genau an mein vergangenes Leben als ganz normaler Mann erinnern. Ich ehrte und schätzte meine Frau über alles, gleichwohl kam mir das Bibelzitat des Alten Testamentes in den Sinn: „Du sollst das Haus Deines Nächsten nicht begehren. Du sollst nicht das Weib Deines Nächsten, noch seinen Diener, seine Dienerin, seinen Esel, seinen Ochsen oder seinen gesamten Besitz begehren." Plötzlich vermochte ich es nicht länger, mich mit dem Fall Tobias auseinanderzusetzen. Frau Laura war meine Sinneswandlung nicht entgangen, denn sie sprach weiter:

 

»Wenn man sich bemüht, begangene Fehler zu korrigieren, was bei den meisten der Fall ist, muss die Fähigkeit zu verstehen vorhanden sein, sowie Dankbarkeit gegenüber der Göttlichen Gnade, die uns viele Möglichkeiten der Wiedergutmachung bereit hält. Aus diesem Grund ist die Erfahrung der Ehe für jeden, der ein bisschen aufgeklärt ist, von enormer Bedeutung. Sie hilft zu verstehen, dass Brüderlichkeit die Voraussetzung für wahre Hilfe ist. Erst kürzlich hörte ich einen bedeutenden Geistlehrer des Ministeriums der Erhöhung sagen, dass, wenn es ihm erlaubt wäre, er sich auf der Erde materialisieren und den Frommen dort erklären würde, dass jede Tat der Nächstenliebe erst eine göttliche Tat ist, wenn sie sich auf die Grundlage der Brüderlichkeit stützt.«

 

Frau Laura gab mir zu verstehen, dass sie sich nicht weiter über das Thema äußern wollte und bat mich, mit ihr in das Innere des Hauses zu gehen. Nachdem sie sich vergewissert hatte dass es Eloisa gut ging, verabschiedeten wir uns und ich kehrte zur Rehabilitationsstation zurück.

 

Obwohl ihre Erläuterungen mich nachdenklich machten, merkte ich, dass es weder Tobias und seine Geschichte, noch das Verhalten Hildas und Lucianas waren, die bei mir jetzt im Vordergrund standen. Es war die außerordentliche Frage der Brüderlichkeit unter den Menschen, die mich fesselte.

 

 

 

(40)

 

WER SÄET, DER ERNTET

 

 

Einem Impuls folgend suchte ich Narcisa auf und teilte ihr mit, dass ich das unerklärbare Bedürfnis hätte, die Frauen­abteilung der Rehabilitationsstation zu besuchen. Sie willigte ein und begleitete mich dorthin. Unterwegs erklärte sie mir:

 

»Wenn der Vater uns an einen bestimmten Ort beordert, bedeutet dies, dass uns dort eine Aufgabe erwartet. Nichts im Leben geschieht ohne einen plausiblen Grund, was Du bei Deinen „zufälligen" Besuchen stets berücksichtigen solltest. Weil wir bereit sind, Gutes zu tun, fällt es uns leichter die göttlichen Eingebungen wahrzunehmen. «

 

Noch am gleichen Tag suchten wir die freundliche und engagierte Pflegerin Nemésia auf.

 

Wir fanden sie in einem Krankenzimmer, in dem Frauen auf mit weissen Laken bezogenen Betten lagen. DieFrauen sahen wie menschliche Wracks aus und ihr Stöhnen und die verzweifelten Schreie gingen durch Mark und Bein. Nemésia, gütig und barmherzig wie Narcisa, sagte mir zugewandt:

 

»Du wirst Dich sicher in der Zwischenzeit an diese Szenen gewöhnt haben, denn bei den Männern sieht es nicht viel anders aus. «

 

Narcisa, begleite bitte unseren Bruder und zeige ihm alles, was ihm von Nutzen und für seine Lehrzeit wichtig ist. «

 

Auf dem Weg zum Pavillon 7 sprachen Narcisa und ich darüber, wie der Mensch immer wieder Opfer seiner Eitelkeit wird, die nur auf die Erfüllung der materiellen Wünsche zielt. Wir waren damit beschäftigt, Erfahrungen und wissenswerte Eindrücke zu diesem Thema auszutauschen, als wir den Pavillon 7 erreichten, in dem ein paar Dutzend Frauen in Einzelbetten lagen. Ich beobachtete die Gesichter der Kranken und eine fiel mir besonders auf. Wer war diese verbitterte Frau, deren blinde Augen stumpf und traurig blickten? Ihr frühzeitig gealtertes Gesicht drückte Hohn und Schicksalsergebenheit aus. Ihre Erscheinung schien mir vertraut und ich versuchte mich zu erinnern, woher ich sie wohl kannte. Ein heftiges, unangenehmes Gefühl kam auf, als ich mich jetzt erinnern konnte: Es war Elisa, eine Person aus meiner Vergangenheit. Dieselbe Elisa, die ich in meiner Jugendzeit gekannt hatte. Das Leidenhatte sie stark verändert, aber ich hatte keine Zweifel, dass sie es war. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, als Mutter sie auf Empfehlung einer Freundin bei uns als Haushaltshilfe einstellte. Anfangs bescheiden und unauffällig, begann sie sich zu verändern und missbrauchte das ihr entgegengebrachtes Vertrauen. Sie nahm sich das Recht heraus, Befehle zu erteilen und sich in die Privatangelegenheiten der Familie einzumischen. Elisa schien mir eine liederliche Person zu sein. Sie erzählte mir vom freizügigen Leben, das sie in ihrer Jugendzeit geführt hätte, was unsere Phantasien noch mehr anregte. Ohne an die Folgen zu denken, waren wir uns näher gekommen.

 

Meine Mutter versuchte unser Verhältnis zu unterbinden. Ich erinnerte mich an ihre mahnenden Worte, als sie mich zur Vernunft rief und mich darauf aufmerksam machte, dass es sich nicht zieme, eine persönliche Beziehung zum Hauspersonal zu pflegen. Es sei zwar richtig und angebracht, sie gut zu behandeln, doch so, dass die Würde des Standes bewahrt würde. Weiter sagte sie, dass ich unvernünftig gewesen sei und es zugelassen habe, dass es zu dieser Intimität kam.

 

Elisa sah sich später wegen großen moralischen Drucks gezwungen, unsere Familie zu verlassen. Sie verließ uns ohne mir einen Vorwurf zu machen, da sie nicht den Mut aufbrachte, mich offen anzuklagen. Die Zeit half mir, diese Episode als einen 'menschlichen Ausrutscher' in meinem Gedächtnis abzutun und ich glaubte, alles vergessen zu haben.

 

Dies erwies sich jedoch als Trugschluss, denn das Vorgefallene gehört zu meiner Lebensgeschichte und kann nicht ausgelöscht werden. Jetzt sah ich eine gedemütigte und besiegte Elisa vor mir. Ich fragte mich, wo dieses bejammernswerte Geschöpf, das so leiden musste, in der Zwischenzeit wohl gewesen sei. Woher kam sie?

 

Ich erkannte, dass ich bei Elisa anders empfand als bei Silveira, in dessen Schuld ich und mein Vater stehen. Hier trug ich allein die Schuld und war verantwortlich für ihren Zustand.

 

Von der Erinnerung übermannt, ging ich wie ein kleines Kind, das um Vergebung bittet, zitternd und beschämt zu Narcisa, in der Hoffnung, von ihr angehört zu werden und einen guten Rat zu bekommen.

 

Es war seltsam, aber bei heiklen und persönlichen Themen ging ich lieber zu Narcisa und Frau Laura als zum Minister Clarêncio. Den liebevollen Frauen konnte ich mich anvertrauen. Hingegen fehlte mir der Mut, Minister Clarêncio dieselben Fragen zu stellen oder ihm die jetzige Situation darzulegen, so wie ich es bei Frau Laura und Narcisa tat. Es würde mir vielleicht leichter fallen, wenn Tobias dabei wäre.

 

Ich begann Narcisa alles zu berichten, doch zauderte ich oft, weil es mir schwer fiel, meine Tränen zurückzuhalten. Trotzdem erzählte ich weiter, bis mich Narcisa unterbrach. Sie sagte, ich müsse die Geschichte nicht bis zu Ende erzählen, da sie erahnen könne, wie sie ausgehen würde. Narcisa riet mir:

 

»Gib Dich nicht zerstörerischen Gedanken hin. Ich weiß, wie Du unter dieser moralischen Last leidest, weil ich Ähnliches erfahren habe. Wenn jedoch der Herr es erlaubte, dass Du diese Schwester jetzt wieder triffst, bedeutet es, dass er Dich für fähig hält diese Schuld wieder gutzumachen. «     cosmic-people.com

 

Da ich schwankte, sprach sie weiter:

 

»Hab keine Angst, geh zu ihr und tröste sie. Bedenke, dass wir alle auf unserem Weg immer die Früchte unserer guten oder bösen Saat vorfinden werden und dies sind nicht leere Worte sondern eine universelle Wahrheit. Ich durfte viel aus ähnlichen Situationen lernen. Selig sind die, die sich Schuld aufgeladen haben und jetzt der Lage sind, sie zu begleichen. «

 

Ich spürte, dass ich bereit war, dies zu tun. Narcisa bemerkte es und sagte mir:

 

»Gehen wir, aber enthülle ihr noch nicht wer Du bist. Das kannst Du tun, nachdem Deine Hilfe gefruchtet hat. Da sie zurzeit fast vollständig erblindet ist, wird sie Dich nicht erkennen können. Die tiefe Traurigkeit, die sie umgibt verrät mir, dass sie eine gescheiterte Mutter und eine gestrauchelte Frau ist. «

 

Ich näherte mich Elisa und sprach ihr tröstende Worte zu. Elisa sagte mir ihren Namen und machte bereitwillig noch andere Angaben über ihre Person.

 

Ich erfuhr, dass sie vor drei Monaten in die Rehabilitationsstation gebracht worden war.

 

Als Narcisa sich entfernt hatte, fragte ich Elisa, wie um mich selbst zu bestrafen - obwohl ich mich bereit fühlte, diese Lektion tief in meiner Seele eindringen zu lassen:

 

»Wie ist es Dir ergangen, Elisa? Du musst viel gelitten haben...«

 

Sie bemerkte, dass diese Frage aufrichtig gemeint war. Resigniert lächelte sie mir zu und sagte:

 

»Weshalb sich an traurige Dinge erinnern? «

 

»Weil auch schmerzhafte Erfahrungen lehrreich sein können. « erwiderte ich.

 

Die unglückliche Patientin, der die tiefe moralische Wandlung anzusehen war, hielt einen Augenblick inne, als wollte sie ihre Gedanken sammeln und sagte dann:

 

»Ich machte die gleichen Erfahrungen, die leichtsinnige Frauen machen, wenn sie das ehrbare Brot der Arbeit gegen das bittere Gift der Illusion tauschen. Als ich jung war und das ist sehr lange her, war ich die Tochter einer sehr armen Familie. Ich erhielt die Gelegenheit, als Hausangestellte bei einem vermögenden Geschäftsmann zu arbeiten, was mein Leben veränderte. Die Familie hatte einen Sohn, der ebenso jung war wie ich. Obwohl ich es nicht wollte, kam es zwischen uns zu einer intimen Beziehung. Bedauerlicherweise dachte ich nicht mehr daran, dass Gott all denjenigen Arbeit verschafft, die ein geregeltes Leben führen, auch wenn sie noch so voller Fehler sind. Ich gab mich einem Leben hin, das mir Luxus und Annehmlichkeiten bot, doch letztendlich nur Pein einbrachte. Danach kam das Erwachen aus der Illusion: Ich verabscheute mich für mein ausschweifendes Leben. Die Folge davon war, dass ich an Syphilis erkrankt und blind ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Von allen verlassen, einsam, aller Illusionen beraubt und gezeichnet von Enttäuschungen und Krankheiten, trat der physische Tod ein. Mehr möchte ich nicht sagen. Von großer Verzweiflung geplagt, irrte ich lange Zeit im Jenseits herum und bat inständig um Hilfe bei der Heiligen Jungfrau. Eines Tages wurde ich von Geistboten besucht, die mich im Namen der Liebe hierher in dieses Haus des Trostes und des Heils brachten. «

 

Zu Tränen gerührt, fragte ich sie:

 

»Und er? Wie heißt der Mann, der so viel Unglück über Dich brachte? « Dann hörte ich, wie sie meinen Namen und den meiner Eltern aussprach.

 

»Hasst Du ihn deswegen? « fragte ich sie niedergeschlagen.

 

Mit einem traurigen Lächeln sagte sie: »Während meiner früheren Leidenszeit habe ich ihn verflucht und auf den Tod gehasst. Aber Schwester Nemésia bewirkte, dass ich meine Haltung änderte. Denn um ihn hassen zu können, müsste ich mich auch hassen. In meinem Fall muss die Schuldfrage aufgeteilt werden. Ich habe kein Recht über ihn zu urteilen. «

 

Diese demütige Haltung berührte mich tief. Als ich ihre Hand in die meine nahm, plagten mich Reue und Gewissensbisse. Wieder den Tränen nahe, sagte ich zu ihr:

 

»Meine Freundin, auch ich heiße André und möchte Dir helfen. Von nun an kannst Du auf mich zählen. «

 

»Deine Stimme« meinte Elisa unbefangen, » gleicht seiner Stimme. «

 

»Von nun an, sprach ich weiter, da ich bis jetzt in Nosso Lar noch keine eigene Familie habe, wirst Du die Schwester meines Herzens sein. Ich werde Dir wie ein Freund ergeben sein. «

 

Im Gesicht der Patientin erschien ein breites Lächeln, als würde ein starkes Licht es erhellen.

 

»Ich bin Dir sehr dankbar«, sagte sie zu mir und trocknete ihre Tränen. »Es ist lange her, seit jemand so gütig zu mir gesprochen hat und mir den Trost einer ehrlichen Freundschaft anbot! Möge Jesus Dich segnen! «

 

In diesem Augenblick, meine Tränen flössen reichlich, nahm Narcisa meine Hände in die ihren und wie eine Mutter wiederholte sie:

 

»Möge Jesus Dich segnen. «

 

 

 

(41)

 

AUFRUF ZUM KAMPF!

 

 

Anfang September 1939 erreichte unsere Kolonie die Nachricht, dass sich in Europa ein Krieg anbahnte. Alle in Nosso Lar waren deswegen bestürzt und in großer Sorge. Ebenso auch alle anderen mit dem amerikanischen Kontinent verbundenen Kolonien. Dieser Krieg brachte den Menschen auf Erden Zerstörung und für die geistige Natur des Menschen waren die Folgen nicht weniger dramatisch. Zahlreiche Kommentatoren, die ihr Grauen darüber nicht verhehlen konnten, berichteten über dieses, in absehbarer Zeit bevorstehende Kriegsgeschehen. Schon seit längerem war bekannt, dass Große Bruderschaften des Morgenlandes den feindlichen Schwingungen der Japanischen Nation ausgesetzt waren, was ihnen große Schwierigkeiten bereitete. Obwohl jetzt Schreckliches geschah, barg es doch hohenerzieherischen Wert in sich. So wie in den altehrwürdigen spirituellen Kreisen Asiens, bereitete sich Nosso Lar ebenfalls in aller Stille auf die Aufgabe vor. Neben dem edlen Aufruf zur Brüderlichkeit und Sympathie ermahnte uns der Gouverneur, dass wir auf unsere Gedanken Acht geben und uns nicht zu unredlichen Gefühlen verleiten lassen sollen. Ich hatte begriffen, dass die höheren Geistwesen die angreifenden Nationen nicht als Feinde betrachten werden, sondern als Unruhestifter, deren verbrecherisches Tun jedoch unbedingt zu unterbinden sei.

 

»Unselig sind die Völker, die sich mit dem Wein des Bösen vergiften lassen«, sagte Salústio, »denn wenn sie auch momentane Siege erlangen, bewirken sie nur, dass ihre Lage sich verschlimmert und zum Schluss doch nur zu verhängnisvollen Niederlagen führt. Wenn ein Land einen Krieg beginnt, verursacht es eine große Unordnung im Haus des Vaters und dafür muss es einen schrecklichen Preis bezahlen. «

 

Des Weiteren erkannte ich, dass sich die höheren Sphären des Lebens mit Recht zur Wehr setzen gegen die von Unwissenden und von der Finsternis herauf beschworenen Vereinigungen, die sich zusammen tun, um Anarchie und Zerstörung in der Welt zu entfesseln. Von Geistwesen, die mit mir zusammen dienten, erfuhr ich, dass bei Ereignissen dieser Art angreifende Nationen sich zu geballten Machtkonzentrationen des Bösen entwickeln. Wenn sich die Bevölkerung - mit Ausnahme der weisen und erhabenen Geistwesen, die unter ihnen leben und wirken -, nicht gegen die von dieser Machtkonzentration ausgehenden Gefahren wappnet, wird sie von Elementen der Perversion, die aus der Finsternis auf sie einwirken, eingenommen werden. Die Folge davon ist, dass ganze Volksgemeinschaften zum Spielball des Verbrechens werden. Teuflische Legionen bemächtigen sich großen Ballungszentren des allgemeinen Fortschritts und verwandeln sie in Orte des Grauens und der Perversion. Derweil finstere Scharen sich der Geisteskraft der Angreifer bemächtigen, kommen doch spirituelle Vereinigungen des erhabenen Lebens den Angegriffenen zu Hilfe. Wenn wir einerseits das einzelne Geschöpf bedauern, das außerhalb des Guten lebt, müssten wir dann das ganze Volk, das sich von der Gerechtigkeit abwendet, nicht stärker bemitleiden?

 

An einem Nachmittag - erst einige Tagen waren vergangen seit dem ersten Bombenabwurf über Polen - waren Narcisa, Tobias und ich in der Rehabilitationsstation, als außergewöhnliche Fanfarenklänge während einer Viertelstunde zu hören waren. Wir waren alle tief ergriffen. Narcisa erklärte:

 

»Mit diesen Klängen werden wir zur erhabenen Hilfeleistung für die Erde aufgefordert. «

 

»Das bedeutet, dass der Krieg intensiviert wird und damit auf die Menschen Schreckliches und Qualvolles zukommen wird«, fügte Tobias besorgt hinzu.

 

»Ungeachtet der Distanz zwischen Europa und dem amerikanischen Kontinent ist es wichtig daran zu erinnern, dass der Ursprung jeder amerikanischen Seele in Europa liegt. Auch die Neue Welt vor dem Krieg bewahren zu können erfordert von uns viel Einsatz. «

 

Die Fanfare klang fremdartig und doch wirkte sie sehr beeindruckend auf alle im Ministerium für Erneuerungen. Es wurde sehr still. Tobias entging meine Unruhe nicht, weshalb er mir erklärte:

 

»Wenn der Warnruf der Fanfare im Namen des Herrn ertönt, müssen wir innerlich still werden, damit wir den Aufruf vernehmen können und er in unserem Herzen Fuss fassen kann. «

 

Nachdem aus dem geheimnisvollen Instrument der letzte Ton ertönt war, bewegten wir uns alle in Richtung der großen Parkanlage um den Himmel zu beobachten. Tief beeindruckt erblickte ich unzählige leuchtende Punkte, die aussahen wie kleine strahlende Lichtquellen. Sie entfernten sich schnell in die Ferne des Firmamentes.

 

»Nur ranghohen Wachtgeistern ist es gestattet, dieses Instrument zu blasen«, sagte Tobias ebenfalls bewegt. «

 

Danach kehrten wir in die Rehabilitationsstation zurück. Lautes Stimmengewirr, welches offenbar von den öffentlichen Anlagen in den oberen Regionen der Kolonie stammte, machte mich aufmerksam. Tobias übertrug einige wichtige Pflegearbeiten an Narcisa und bat mich, mit ihm nach oben zu gehen, um zu sehen, was dort geschah. Dort angekommen - von hier führt der Weg zum Regierungsplatz -, bemerkten wir, dass sich aus allen Sektoren Gruppen von Geistwesen in Bewegung setzten. Ich staunte und mein Begleiter informierte mich:

 

»Diese Gruppen sind auf dem Weg zum Ministerium für Kommunikation. Sie hoffen, von dort Informationen zu erhalten. Wenn bei uns die Fanfaren zu hören sind, bedeutet es, dass es sich um einen Ernstfall handelt. Wir alle wissen, dass es um den Krieg auf Erden geht, aber vielleicht kann uns das Ministerium noch weitere Einzelheiten liefern. Schau Dir die Passanten an. «

 

An unserer Seite gingen zwei Herren und vier Frauen, die sich unterhielten.

 

»Stell Dir vor«, sagte eine der Frauen, »was uns im Ministerium für Hilfeleistung erwartet. Seit Monaten hat die Anzahl von Hilferufen beträchtlich zugenommen und es wird immer schwieriger, alle Aufgaben zu bewältigen. «

 

»Und auch bei uns im Ministerium für Erneuerung«, meinte ein älterer Herr, «ist das Arbeitsvolumen enorm gestiegen. Das bedeutet, dass wir in unserem Sektor noch wachsamer und stets gewappnet gegen die Einflüsse der Schwellenregionen sein müssen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was da noch alles auf uns zukommen wird. «

 

Tobias hielt mich zurück und sagte:

 

»Gehen wir weiter, hören wir, was in den anderen Gruppen gesprochen wird. «

 

Wir näherten uns zwei Männern, und ich hörte wie einer den anderen fragte:

 

»Könnte es sein, dass dieser Krieg in Europa auch bei uns Folgen haben wird? «

 

Der Angesprochene, der spirituell sehr ausgeglichen zu sein schien, antwortete gelassen:

 

»Also ich sehe keinen Grund zu überhasteten Handlungen. Wir werden viel mehr Arbeit bekommen, das ist das Einzige, was ich feststellen kann. Dies könnte jedoch wiederum einen Segen für uns alle bedeuten. Ansonsten meine ich, verläuft alles ganz normal.

 

Es ist doch so: Warum soll ich mich bemühen gesund zu werden, wenn ich gesund bin? Andererseits regt uns ein Unglück zum Nachdenken an. Du hast Dich bis jetzt von der Tatsache, dass China lang unter Beschuss stand, auch nicht beeindrucken lassen. «

 

»Aber jetzt, « meinte sein Begleiter enttäuscht, »muss ich vermutlich mein Arbeitsprogramm ändern. «

 

»Ach Helvécio, Helvécio « sagte der andere lächelnd, »vergessen wir "mein Programm" und denken wir an "unser Programm". «

 

Tobias gab mir ein Zeichen und zeigte auf drei Frauen, die an unserer linken Seite in die gleiche Richtung schritten. Auch ihre Gesichter zeigten Besorgnis.

 

»Das Ganze beunruhigt mich sehr«, meinte die jüngere der beiden, » weil Everardo noch nicht von der Erde zurückkommen sollte. «

 

»Aber ich glaube nicht, dass Portugal vom Krieg betroffen sein wird«, sagte eine der Frauen, »denn dieser Krieg findet nicht auf der Iberischen Halbinsel statt. «

 

»Also warum sorgst Du Dich? «, fragte die Dritte. » Was würde denn geschehen, falls Everardo schon jetzt zurückkäme? «

 

»Ich befürchte«, sagte die Angesprochene, »dass er mich hier aufsuchen würde, weil ich auf Erden seine Ehefrau gewesen bin. Ich würde ihn aber nicht nochmals ertragen können. Er ist grob, ignorant und ich werde seine Grausamkeiten keinesfalls von neuem erdulden. «

 

»Sei nicht albern! Hast Du vergessen, dass Everardo nicht an der Schwellenregion vorbeikommen kann, oder dass ihm noch etwas Schlimmeres bevorstehen könnte? « fragte die Freundin.

 

Tobias meinte, zu mir gewandt:

 

»Siebefürchtet, dass ihr grausamerund unbesonnener Ehemann freikommt. «

 

Wir blieben dort und beobachteten die Menge der Geistwesen. Danach gingen wir dann weiter zum Ministerium für Kommunikation. Auf dem Weg dorthin blieben wir vor den riesengroßen Gebäuden der Informationsdienste stehen. Dort drängten sich große Mengen besorgter Geistwesen und hofften, von dort Informationen zu erhalten. Scheinbar gab es unter ihnen Unstimmigkeiten, denn alle sprachen gleichzeitig und durcheinander. Dann bemerkte ich, dass jemand auf einen sehr hohen und breiten Vorbau stieg und um die Aufmerksamkeit der Menge bat. Ein alter, Achtung gebietender Mann gab den Anwesenden bekannt, dass der Gouverneur in einigen Augenblicken zu ihnen sprechen würde.

 

»Der Mann ist der Minister Espiridiäo«, erklärte mir Tobias.

 

Als wieder Ruhe eintrat, hörte man aus den zahlreichen Lautsprechern die Stimme des Gouverneurs ertönen.

 

»Brüder und Schwestern von Nosso Lar, gebt euch nicht verwirrenden Gedanken oder Worten hin. Kummer ist kein guter Ratgeber und die Unruhe verleitet zu Unbesonnenheit. Erweisen wir uns dem Aufruf des Herrn würdig, lasst uns dem göttlichen Willen folgen und ruhig und besonnen unsere Arbeiten verrichten. «

 

Der klare und impulsive Aufruf des Gouverneurs, der Autorität, doch auch Liebe ausstrahlte, bewirkte, dass sich die Menge innerhalb nur einer Stunde zurückzog und die normale Ruhe wieder einkehrte.

 

 

 

(42)

 

DER APPELL DES GOUVERNEURS

 

 

Gleich nach dem Aufruf der Fanfaren versprach der Gouverneur, im Ministerium für Erneuerung eine Andacht abzuhalten.

 

Narcisa erklärte, dass der Hauptgrund dafür die Vorbereitung neuer Kurse für Betreuer und Pfleger im Ministerium für Hilfeleistungsei; ebensowie im Übungszentrum des Ministeriums für Erneuerung. Sie erklärte noch:

 

»Obwohl der Kriegsschauplatz sehr weit entfernt von hier liegt, müssen wir Vorkehrungen treffen, die die Aufnahme von Notfällen in unsere Krankenhäuser gewährleistet. Zugleich ist es eine gute Gelegenheit, uns mit der Angst auseinander zu setzen und zu lernen mit ihr umzugehen. «

 

»Wie ist das zu verstehen? «, fragte ich sie befremdet.

 

»Ja, warum denn nicht? « antwortete sie, »Du findest es wahrscheinlich - so wie die meisten -seltsam, dass unzählige Menschen der zerstörerischen Geißel der Angst unterliegen, die so ansteckend wie eine sich schnell verbreitende Krankheiten ist. Wir bezeichnen die Angst als einen der schlimmsten Feinde des Menschen, weil sie ihm seiner Seelenstärken beraubt. «

 

Erstaunt hörte ich ihr zu:

 

»Tatsache ist, dass in Notsituationen wie dieser, die Regierung Angst bewältigende Übungen an erste Stel­le noch vor die Krankenpflegeausbildung stellt. Denn nur durch Ruhe kann Erfolg erzielt werden. Du wirst später noch verstehen, weshalb diese Dienste von so großer Wich­tigkeit sind. «

 

Diesem Argument konnte ich nichts entgegensetzen.

 

Am Tag vor dem wichtigen Anlass durfte ich mich zusammen mit zahlreichen Helfern an den Reinigungsarbeiten und dem Ausschmücken des großen, dem Gouverneur vorbehaltenen Saales beteiligen. Ich war sehr aufgeregt, denn ich würde zum ersten Mal an der Seite des ehrwürdigen, von allen verehrten Leiters der Kolonie stehen. Ich wusste, dass ich nicht als Einziger so bewegt war.

 

Seit den ersten Stunden des Sonntags waren ganze Scharen aus dem Ministerium für Erneuerung und seiner verschiedenen Abteilungen zum Ort der Andacht, dem Grünen Saal, unterwegs. Der große Chor des Regierungstempels, zusammen mit dem Schulknabenchor des Ministeriums für Aufklärung, eröffnete den festlichen Akt.

 

Zum Auftakt sangen zweitausend Stimmen die Hymne „Immer mit Dir, Herr Jesus". Danach waren noch weitere wunderschöne Melodien zu hören. Das Säuseln der aufkommenden leichten Brise, untermalt von sanften Melodien, verbreitete sich harmonisch im ganzen Saal.

 

Ich war überwältigt. Die Schönheit und Erhabenheit dieser Feierlichkeit übertrafen meine Vorstellungen.

 

Weil diese Festlichkeit für die Mitarbeiter des Ministeriums für Erneuerung stattfinden würde, erschienen sie zahlreich im Grünen Saal. Ebenfalls waren andere Ministerien durch zahlreiche Abordnungen vertreten. Zum ersten Mal stand ich einigen Mitarbeitern der Ministerien der Erhöhung und der Göttlichen Vereinigung gegenüber, die in strahlende Lichtroben gekleidet zu sein schienen.

 

Um zehn Uhr traf der Gouverneur ein, begleitet von den zwölf Ministern für Erneuerung. Die edle, eindrucksvolle Gestalt des Gouverneurs werde ich nie vergessen.

 

Im Gesicht dieses Mannes mit schlohweißem Haar waren die Weisheit des Alters und die Energie der Jugend, die Sanftmut des Heiligen und die Ruhe des pflichtbewussten und gerechten Regenten zu lesen. Er war groß gewachsen, schlank und trug ein weißes Gewand. Seine Augen waren klar, und der Blick durchdringend. Er hielt den Hirtenstab fest in der Hand, während er sicher durch die Menge schritt.

 

»Wieso hält er einen Hirtenstab? fragte ich«

 

»Der Gouverneur ist der Ansicht, dass es sich nur mit väterlicher Liebe regieren lässt, deshalb benutzt er dieses patriarchalische Symbol« erklärte Salústio.

 

Er nahm auf der höchsten Tribüne Platz und der Knabenchor sang, begleitet von sanften Akkorden der Harfe, die Hymne "Dir, Herr, geben wir unser Leben".

 

Der weise, unermüdliche und liebevolle Mann schaute auf tausende anwesender Mitarbeiter herab. Dann öffnete er ein leuchtendes Buch, das Evangelium des Herrn Jesus Christus, wie Salústio erklärte. Er blätterte aufmerksam darin und las dann mit ruhiger Stimme: 'Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei. Seht zu und erschreckt nicht, denn das muss so geschehen, aber es ist noch nicht das Ende'. Das Wort des Herrn, Matthäus, Kapitel 24, 6.«

 

Der Gouverneur begann mit volltönender Stimme inbrünstig zu beten und erflehte Christus' Segen für alle. Danach hiess er die Vertreter des Ministeriums der Göttlichen Vereinigung, der Erhöhung, für Aufklärung, für Kommunikation und für Hilfeleistung herzlich willkommen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den Mitarbeitern des Ministeriums für Erneuerung.

 

Es ist mir nicht möglich, den Tonfall seiner Stimme, die sowohl sanft als auch energisch, liebevoll und überzeugend war, zu beschreiben. Seine überragende Auslegung des Textes des Evangeliums, die aus seiner tiefen Verehrung für das Erhabene floss, können nicht mit menschlichen Worten ausgedrückt werden, denn dafür fehlen die richtigen Begriffe. Als der Gouverneur geendet hatte und es sehr still wurde, richtete er sich in persönlichem Ton an die Mitarbeiter für Erneuerung mit den folgenden Worten:

 

»Meine Brüder, die ihr in der Nähe der Erde Eure Dienste verrichtet, an Euch richte ich meinen persönlichen Appell, in der Hoffnung, auf Eure hochgeschätzte Mitarbeit zählen zu können. Unseren Mut und die Bereitschaft zu dienen, sollten wir auf die höchste Stufe erheben. Wenn die Mächte der Finsternis sich überall ausbreiten, bringen sie die niedrigeren Sphären in noch größere Bedrängnis. Deshalb muss die Erde neues Licht empfangen können, welches die dichte Finsternis, die dort herrscht, auflösen kann. Die heutige Andacht widme ich den Mitarbeitern des Ministeriums, um ihnen zu zeigen, dass ich mein vollstes Vertrauen in sie setze. Ich richte mich nicht an jene Brüder, die bereits auf höheren, mentalen Ebenen des Lebens aktiv sind, sondern an Euch, denn an Euren Sandalen klebt noch der Staub der Erde und die Erinnerung an Euer irdisches Leben ist noch frisch. Um die Bedeutung der Aufgabe zu betonen: Unsere Kolonie Nosso Lar benötigt dreißigtausend geschulte Mitarbeiter, die in der Abwehr eingesetzt werden. Sie dürfen während der Dauer unseres Kampfes gegen die Mächte der Ignoranz und des Verbrechens keine Mühe scheuen und sollen auf persönliche Annehmlichkeiten verzichten können. Weil wir unsere Feinde nicht an unsere spirituelle Kolonie heran lassen können, erwartet uns in den angrenzenden Schwingungsebenen, die zwischen der Kolonie und den niedrigeren Sphären liegen, viel Arbeit. Wir werden Präventivmaßnahmen ergreifen, um den Frieden zu bewahren. In Nosso Lar leben mehr als eine Million Geistwesen, die sich dem Willen Gottes beugen und den eigenen moralischen Fortschritt anstreben. Wie würde es aussehen, wenn wir die Invasion von vielen Millionen Unruhe stiftender Geistwesen erlaubten?

 

Wir dürfen also nicht zögern und müssen uns gegen das Böse zur Wehr setzen. Ich weiß, dass viele von Euch jetzt an Christus denken. Es stimmt, dass Jesus sich der Meute der Menschen und Verbrecher ergeben hat. Er tat es und dachte dabei an unsere Rettung. Er hat aber die Welt nicht einfach der Unordnung und der Zerstörung überlassen. Jeder muss bereit sein, sich selbst aufzuopfern, denn wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Kolonie den Übeltätern in die Hände fällt. Gewiss, unsere Hauptaufgabe liegt ebenso in der Verbrüderung und im Frieden, wie auch in der Liebe und im Trost, den wir den Leidenden bringen. Anderseits verstehen wir, dass das Böse eine Vergeudung von Energie ist und jedes Verbrechen als eine Krankheit der Seele zu betrachten ist. Aber Nosso Lar ist ein göttliches Gut, das wir verteidigen müssen und zwar mit aller Kraft unserer Herzen. Wer nicht zum Beschützer taugt, ist auch nicht berechtigt, Nutznießer zu sein. Deshalb bereiten wir Heere von Mitarbeitern darauf vor, Aufgaben der brüderlichen Liebe zu übernehmen. Sie sollen den Menschen auf Erden und den Geistwesen in der Schwellenregion und in der Finsternis Aufklärung und Trost bringen. Als erste Maßnahme muss in diesem Ministerium die Abwehr organisiert werden, damit die spirituellen Aktivitäten in den angrenzenden Schwingungsbereichen verwirklicht werden können. «

 

Er sprach noch lange, hob grundlegend wichtige Maßnahmen hervor und erläuterte deren Bedeutung. Ich hörte aufmerksam zu und trotzdem fehlen mir die Worte, um all das Gesprochene wiederzugeben. Zum Schluss wiederholte er die Lesung des Kapitels 24, 6. aus dem Matthäus Evangelium, bat Jesus um seinen Segen und spornte die Anwesenden an, ihre ganzen Energien einzusetzen, um die Gaben redlich zu verdienen.

 

Bewegt und entzückt hörte ich, wie der Knabenchor die Hymne, die die Ministerin Veneranda "Das große Jerusalem" nannte, anstimmte. Unter diesen Klängen verließ der Gouverneur die Bühne. Danach füllte sich der Saal mit Schwingungen der Hoffnung und Zuversicht. Eine leichte Brise trug von weit her wunderbar blau gefärbte Blütenblätter verschiedener Rosensorten herbei, die auf uns nieder rieselten. Als sie unser Haupt berührten, zerfielen sie sofort. Unsere Herzen quollen über vor Freude.

 

 

 

(43)

 

DIE GESPRÄCHSKUNDE

 

 

Die feierliche Stimmung im Ministerium für Erneuerung hielt auch noch an, nachdem sich der Gouverneur, zusammen mit seinen engsten Mitarbeitern, bereits zurückgezogen hatte. Wir jedoch unterhielten uns weiter über das große Ereignis. Hunderte von Brüdern kamen dem Appell des hohen spirituellen Führers nach und meldeten sich für die schwere Arbeit der Verteidigung der Kolonie. Ich suchte Tobias auf und fragte ihn, ob auch ich mich melden sollte. Mein gütiger Bruder lächelte und meinte zu meinem ehrlich gemeinten Angebot:

 

»André, Du stehst erst am Anfang einer neuen Tätigkeit. Überstürze nichts, indem Du noch mehr Verantwortung übernehmen willst. Wie der Gouverneur soeben sagte, wird es für alle genügend Arbeit geben. Vergissnicht, dass unsere Rehabilitationsstation zu jeder Tages- und Nachtzeit ein wichtiges und aktives Zentrum bildet. Sorge Dich nicht und bedenke, dass dreißigtausend Mitarbeiter aufgeboten werden müssen, um rund um die Uhr Wache zu stehen. Dies bedeutet, dass diejenigen, die nicht an vorderster Front stehen, beordert werden, die frei gewordenen Stellen zu besetzen. «

 

Ich war etwas enttäuscht, aber mein lieber Bruder meinte nach einer kurzen Pause gut gelaunt:

 

»Freue Dich, dass Du am 'Kursus für Angstbewältigung' teilnehmen kannst, das wird Dir sehr gut tun. «

 

Dann stand Lísias vor mir und umarmte mich herzlich. Er hatte zusammen mit der Gruppe aus dem Ministerium für Hilfeleistung an den Feierlichkeiten teilgenommen.

 

Tobias erlaubte es uns, uns zu entfernen. So konnten Lísias und ich ungestört plaudern.

 

»Hast Du im Ministerium für Erneuerung den Minister Benevenuto kennen gelernt? « fragte mich Lísias sogleich. »Er ist vorgestern aus Polen zurückgekehrt. «

 

»Nein, ich hatte noch nicht die Ehre. «

 

»Dann gehen wir zu ihm. Mich ehrt es, ihn zu meinem Freundeskreis zählen zu dürfen. «, sagte Lísias.

 

In wenigen Augenblicken waren wir im großen Grünen Saal angekommen, der dem Minister für Erneuerung, dem ich noch nie persönlich begegnet war, als Arbeitszimmer diente. Unter den Wipfeln großer Bäume trafen sich verschiedene Gruppen von Besuchern, die sich unterhielten und Meinungen austauschten. Lísias führte mich zu einer kleineren Gruppe, in der Minister Benevenuto sich mit einigen Freunden unterhielt. Er stellte mich mit freundlichen Worten dem Minister vor, der mich höflich begrüßte. Sodann wurde ich der größeren Runde vorgestellt und eingeladen, an den Gesprächen teilzunehmen. Das Thema wurde wieder aufgenommen, und ich begriff, dass über die Lage auf der Erde diskutiert wurde.

 

»Was auf der Erde geschieht ist sehr traurig. « sagte Benevenuto mit ernster Stimme, «wir, die für die Erhaltung des Friedens auf dem amerikanischen Kontinent zuständig sind, konnten uns vor der Reise nicht vorstellen, wie die spirituelle Hilfe aussehen könnte. Die Lage dort ist nicht überschaubar und alles ist schwierig. Es besteht kaum Hoffnung, sowohl bei den Aggressoren als auch bei der Mehrheit der Opfer, die in das fürchterliche Geschehen verwickelt sind, einen kleinen Funken von Glauben zu entdecken. Die Inkarnierten helfen uns nicht, im Gegenteil, sie saugen unsere Energien auf. Seit ich in diesem Ministerium arbeite, habe ich noch nie so großes kollektives Leiden gesehen. «

 

»Hat sich Eure Abordnung lange dort aufgehalten? «, fragte einer der anwesenden Freunde interessiert.

 

»Wir hielten uns dort solange auf, wie es uns möglich war«, erklärte der Minister und fuhr fort:

 

»Der Leiter der Expedition, unser Bruder aus dem Ministerium für Hilfeleistung, fand es angebracht, dass wir uns ganz und gar dieser Aufgabe widmeten. Auf diese Weise konnten wir Neues erfahren und daraus den höchsten Nutzen ziehen. Die Lage war ja dafür wie geschaffen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir uns nicht mit jenen spirituellen Helfern messen können, die dort selbstlos und mit außergewöhnlicher Ausdauer ihre Arbeit verrichten. Trotz schwerer, stickiger, mit Schwingungen der Zerstörung geladener Luft läuft die sofortige Hilfeleistung reibungslos ab. Das Schlachtfeld bietet, von oben gesehen, ein Bild unbeschreiblichen Grauens, ein Inferno ohne Ende. Nie offenbart der Mensch, wie abgründig tief er gefallen ist, als zu Kriegszeiten, da nehmen seine niederträchtigsten Eigenschaften überhand. Ich sah, wie intelligente und gebildete Menschen minuziös gewisse Sektoren auswählten, in denen friedliche Tätigkeiten stattfanden, um dort das, was sie als "Volltreffer" bezeichneten, durchzuführen. Bomben mit großer Sprengkraft wurden von Flugzeugen abgeworfen und zerstörten Gebäude, die in jahrelanger Arbeit errichtet wurden. Zu den giftigen Fluiden der Zerstörungswaffen gesellt sich der Gestank hasserfüllter Gedanken, was die Hilfeleistung beinahe unmöglich macht.

 

Was uns am meisten betrübte war, sehen zu müssen, in welcher trostlosen Verfassung sich etliche Aggressoren befanden, nachdem sie die körperliche Hülle auf dem Schlachtfeld verlassen hatten. Die Mehrheit von ihnen stand unter der Herrschaft finsterer Kräfte. Vor den geistigen Missionaren, die sie 'Die Gespenster des Kreuzes' nannten, flüchteten sie. «

 

»Wurden sie nicht aufgenommen und über ihre Lage aufgeklärt? «, unterbrach jemand den Minister.

 

Benevenuto machte eine Geste und antworte: »Es ist zwar möglich, friedfertige Wahnsinnige in der Familie zu pflegen, aber für den tobsüchtigen Geisteskranken gibt es nur die Psychiatrie. Diesen Geistwesen konnte nicht anders geholfen werden, als sie vorläufig den finsteren Abgründen zu überlassen. Ihre Not dort wird sie zwangsläufig dazu bringen, sich aus dieser Lage zu befreien, was nur durch edle Gedanken zu bewerkstelligen ist. Es ist deshalb vernünftig, dass die Hilfsaktionen nur für jene bestimmt sind, die tatsächlich Bereitschaft zeigen, diese erhabene Hilfe zu empfangen und zu nutzen. Ich möchte nochmals betonen, dass das, was wir anschauen mussten, für uns aus vielen Gründen überaus schmerzhaft war. «

 

Die entstandene Pause nutzend, fragte ein anderer:

 

»Es ist schwer zu glauben, dass sich Europa trotz seines enormen kulturellen Erbes in eine solche Katastrophe hineinreissen ließ. «

 

»Meine Freunde: Dies zeigt an, was geschehen kann, wenn den Menschen religiöse Kenntnisse fehlen «, erklärte der Minister ernst.

 

»Es genügt nicht, dass der Mensch einen hohen Intelligenzquotienten aufweist. Er muss sich auch spirituell entfalten, damit er die Bedeutung des Ewigen Lebens begreifen kann. Kirchen werden immer als heilig betrachtet werden und das Amt des Priesters wird stets ein göttliches Amt sein, vorausgesetzt, beide verkünden wirklich die Wahrheit Gottes. Wenn aber das Priestertum seine Macht missbraucht, dann wird es niemals den spirituellen Durst der Menschheit löschen können. Geistliche Persönlichkeiten, die sich nicht selbst vom Göttlichen ausfüllen lassen, können zweifelsohne bewundert und geachtet werden, aber sie werden niemals den Menschen Glauben und Vertrauen vermitteln können. «

 

»Ja und was ist mit dem Spiritismus? «, warf einer der Anwesenden ein.

 

»Sind nicht die ersten spiritistischen Erscheinungen in Amerika und in Europa vor mehr als fünfzig Jahren bekannt geworden? Wird diese neue Bewegung im Dienst der Ewigen Wahrheit fortgesetzt? «

 

Benevenuto machte eine bedeutungsvolle Geste und sagte:

 

»Der Spiritismus wird als „Der Tröster" der inkarnierten Menschheit bezeichnet. Er ist unsere große Hoffnung. Aber wir haben noch einen langen Weg zu gehen. Obschon der Spiritismus ein göttliches Geschenk ist, gibt es noch zu viele Menschen, die ihn noch nicht erfassen können, da ihnen bis jetzt die spirituelle Reife dazu fehlt. Eine überwältigende Anzahl von neuen Studenten will aus der neuen göttlichen Quelle lernen, doch können sie ihre traditionellen religiösen Gewohnheiten nicht ablegen. Sie möchten zwar vom Neuen Nutzen ziehen, sind aber nicht bereit, irgend etwas altes loszulassen. Sie berufen sich auf die Wahrheit, suchen sie aber nicht. Menschen mit medialen Fähigkeiten werden von vielen Forschern ausgenutzt. Viele Gläubige verhalten sich wie Kranke, die zwar genesen sind, aber weiterhin mehr an die Krankheit als an die Gesundheit glauben. Sie bemühen sich nicht auf eigenen Füssen zu stehen, was bedeutet, dass sie immer auf der Suche nach Geistern sind, die sich materialisieren. Sie interessieren sich nur für die flüchtigen Phänomene der Erscheinungen. Wir dagegen sind auf der Suche nach dem spirituellen Menschen, um die ernste Arbeit der Information fortsetzen zu können. «

 

Die Anwesenden hörten aufmerksam zu. Der Minister sprach mit ernster Stimme weiter:

 

»Wir leisten hier sehr umfassende Arbeit und sollten nicht vergessen, dass jeder Mensch ein Samenkorn Gottes ist. Packen wir unsere Aufgabe mit Hoffnung und Zuversicht an, in der Gewissheit, dass, wenn wir unseren Anteil erfüllen, wir beruhigt sein können, dass der Herr das Seine dazu tun wird. «

 

 

 

(44)

 

DIE REGION DER FINSTERNIS*

 

 

Lísias erfreute die Anwesenden der Gesprächsrunde mit seinem virtuosen Spiel auf der Zither. Die Melodien und Lieder kannten wir alle aus unserer Erdenzeit. Lísias Darbietung offenbarte mir eine weitere Facette seines Talents und seiner Sensibilität.

 

So erlebten wir alle zusammen einen herrlichen Tag des spirituellen Jubels. Wir frohlockten, und es schien, als wären wir bereits im Paradies.

 

Später, allein mit Lísias, musste ich ihm einfach von meinen beglückenden Eindrücken berichten. Er hörte zu und sagte dann:

 

»Es stimmt, André. Das Zusammensein mit denen, die wir lieben, wirkt sich dank der gegenseitig empfundenenLiebe auf unsere Seele wie wohltuender Balsam aus. Wenn sich Gruppen gleich gesinnter Seelen versammeln, verknüpfen sich ihre Gedanken zu einer Ballung von positiven bzw. negativen Energien, und davon bekommt jeder seinen entsprechenden Anteil an Freude oder Leid ab. Jeder wird ernten, was er gesät hat. Wer sich tagtäglich der Traurigkeit hingibt, wird zu ihrer Gefangenen. Wer der Krankheit huldigt, wird an ihren Folgen zu leiden haben. Aus diesem Grund ist das Umfeld, in dem sich der Mensch auf Erden bewegt, von großer Bedeutung. «

 

Er bemerkte mein Erstaunen und sagte: »Dies ist kein Geheimnis, es ist das Gesetz des Lebens, das sowohl Gutes wie Böses regelt. Wenn wir eine Versammlung besuchen, die im Namen der Brüderlichkeit, Hoffnung, Liebe und Freude stattfindet, werden wir am Schluss von den entsprechenden Gefühlen der Brüderlichkeit, Hoffnung, Liebe und Freude geprägt sein. Wenn wir jedoch an Versammlungen teilnehmen, die unlautere Absichten verbreiten und bei denen Egoismus, Eitelkeit oder Verbrechen vorherrschen, werden wir von den giftigen und zerstörenden Schwingungen dieser niedrigeren Emotionen ebenfalls angesteckt. «

 

»Du hast recht«, sagte ich beeindruckt, »ich verstehe, dass auch das Familienleben der Menschen diesem Prinzip unterstellt ist. Wenn sich Familienmitglieder gegenseitig verstehen und achten, stehen sie mit einem Fuß im Vorgarten des himmlischen Glücks. Haben sie jedoch nur Zwietracht und Bosheit gesät, dann erwartet sie die wahre Hölle. «

 

Lísias nickte zustimmend.

 

Ich erinnerte mich, dass ich ihn etwas fragen wollte, was mich seit einigen Stunden beschäftigte. Der Gouverneur redete in seiner Ansprache von den Sphären der Erde, der Schwellenregion und der Region der Finsternis. Über die Letztere hatte ich noch nie etwas gehört. Musste man nicht die Schwellenregion als eine finstere Region einstufen? Hatte ich nicht während der vielen Jahre, eingehüllt in düstere Nebelschwaden, selbst dort gelebt? Sah ich nicht in der Rehabilitationsstation zahlreiche Kranke und Verstörte aller Art, die von der Schwellenregion dorthin gebracht worden waren? Bei diesen Überlegungen fiel mir wieder ein, wie ich gleich nach meiner Ankunft in der Kolonie Nosso Lar von Lísias über meine Lage aufklärt worden war. Seit damals vertraue ich ihm, was mich diesmal veranlasste, ihm gegenüber meine Zweifel und mein Befremden bezüglich der Finsternis zu äussern. Ernst sagte er:

 

»Finsternis nennen wir die minderwertigsten Regionen, die uns bekannt sind. Es lässt sich so erklären: Wir Menschen sind wie Reisende des Lebens.

 

Einige wenige gehen gerade auf das wesentliche Ziel der Reise zu, das sind die nobelsten Geistwesen, die in sich selbst die göttliche Essenz entdeckten und die sich, ohne zu zögern auf das erhabene Ziel zu bewegen. Die Mehrheit jedoch stagniert. So geschieht es, dass Scharen von Seelen während vieler Jahrhunderte wieder auf der Erde inkarnieren müssen. Die ersten gehen auf dem direkten Weg auf ihr Ziel zu, die zweiten haben einen kurvenreichen Weg gewählt, der sie zwingt, sich immer wieder neu auszurichten und zu bewähren. Auf diesen Umwegen sind sie anfällig für zahlreiche Widrigkeiten des Lebens. Infolgedessen kann es vielen geschehen, dass sie sich im Wald des Lebens verlaufen und verstört im selbst erschaffenen Labyrinth herumirren. Zu dieser Kategorie gehören Millionen von Geistwesen, die in der Schwellenregion umherstreifen. Andere wiederum haben sich für die Finsternis entschieden. Oft fallen sie wegen ihrer egoistischen Haltung in abgründige Tiefen, wo sie für unbestimmte Zeit bleiben. Verstehst Du das? «

 

Diese Erläuterungen hätten nicht anschaulicher sein können. Angesichts dieses umfangreichen Themas musste ich Lísias noch einige Fragen stellen.

 

»Was kannst Du über solche Abstürze in die Abgründe sagen? Geschehen sie nur auf der Erde? Sind nur Inkarnierte anfällig dafür? «

 

Lísias überlegte und antwortete: »Deine Frage ist gerechtfertigt. Auch das Geistwesen kann in allen Sphären in die Abgründe des Bösen stürzen. Falls es in höheren Sphären zu Fall kommen sollte, sind die Widerstände größer und die Last der Schuld wird bedeutend stärker wahrgenommen. «

 

»Aber«, wandte ich befremdet ein, »ich dachte, dass, wenn die Seele einmal das physische Gefäß verlassen hat, ein Absturz nicht mehr möglich ist. Sind nicht die göttliche Umgebung, die Kenntnis der Wahrheit, die Hilfe „von Oben" die unfehlbaren Gegenmittel gegen das Gift der Eitelkeit und der Versuchung? «

 

Lísias gab mir weitere Erläuterungen: »Das Problem der Versuchung ist vielschichtiger als wir meinen. Auf der Erde gibt es viele Orte, wo das Göttliche zu spüren ist, wo die Wahrheit offenbart ist und wo Hilfe „von Oben" geleistet wird. Nicht wenige sind es, die sich an Zerstörung bringenden Schlachten beteiligen, die auf grünen Feldern stattfinden. Viele Verbrechen werden im Mondlicht begangen, weil die Verbrecher bar jeglicher Empfindungen für die Schönheit der Sterne sind. Andere gibt es, die, trotz der Kenntnis erhabener Wahrheiten die Schwachen ausbeuten. Jeder Winkel der Erde ist mit Göttlichem gesegnet. «

 

Seine klärenden Worte wirkten nachhaltig in mir. »Es ist eine Tatsache, dass Krieger es im allgemeinen liebten, ihre Werke der Zerstörung während des Frühlings und des Sommers durchzuführen, wenn sich die Natur am Boden und in den Lüften in bunten Farben, herrlichen Düften und intensivem Licht entfaltete. Sowohl Raubüberfälle als auch Morde werden vorwiegend dann begangen, wenn der Mond und die Sterne den Planeten in einen Mantel von romantischer Schönheit hüllen. Die Mehrheit der Peiniger der Menschheit ist unter den hoch gebildeten Menschen zu finden. Sie haben die göttliche Eingebung leider missachtet. «

 

Nachsinnend über den spirituellen Absturz fragte ich Lísias.

 

»Kannst Du mir ungefähr sagen, wo sich diese Region der Finsternis* befindet? Wenn die Schwellenregion mit den menschlichen Gedanken verbunden ist, wo ist dann dieser Ort des Leidens und des Schreckens zu finden? «

 

»Wie Du weißt, gibt es überall Leben«, erklärte er mir freundlich, »Das Vakuum ist etwas literarisches, es ist bloß ein Sinnbild, denn alles ist mit Lebensenergie durchdrungen. Jedes Wesen lebt in der Sphäre des Lebens, die ihm entspricht. « Lísias schien nachzudenken. Nach einer Pause fuhr er fort:

 

»Es ist natürlich, dass Du das Leben nach dem Tod des Körpers an der sich nach oben dehnenden Oberfläche der Planeten wähnst, so wie wir es früher auch taten. Du vergisst aber, dass es von der Oberfläche abwärts auch Leben gibt. Das Leben pulsiert sowohl in den Tiefen der Meere wie im Inneren der Erde. Dazu ist zu bedenken, dass wir Geistwesen ebenso dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen sind, wie die materiellen Körper. Die Erde ist mehr als nur ein Körper, dem wir Verletzungen zufügen oder den wir nach Lust und Laune missachten. Sie ist ein lebendiges Organ, das gewissen Gesetzen unterstellt ist. Diese Gesetze machen uns, gemessen an unseren Taten, entweder zu Sklaven oder zu freien Menschen. Sicher ist, dass eine von der Last der Schuld fasst erdrückte Seele nicht an die Oberfläche des wunderbaren Sees des Lebens kommen kann. Bildlich gesprochen bedeutet dies: Nur freie Vögel können in die Höhe fliegen. Vögel, die sich in den Lianen verfangen, sind an ihrem Weiterflug gehindert. Und es gibt solche, die wegen des Gewichts der aufgebürdeten Last festsitzen. Sie bleiben die Gefangenen des Unbekannten. Verstehst Du? «

 

Diese Frage von Lísias war überflüssig. Ich konnte es mir vorstellen, in welchem bedeutenden Rahmen der Läuterungsprozess der Seele, die sich in den niedrigeren Sphären des Lebens befand, abspielte.

 

Mein Gesprächspartner überlegte lange, so wie jemand, der sich bemüht die richtigen Worte zu finden. Nach einer Weile sagte er:

 

»In unserem Inneren beherbergen wir sowohl das Erhabene wie das Minderwertige. Auch der Planet Erde birgt in sich sowohl niedrige als auch erhabene Ausdrucksformen des Lebens. Der Schuldige erhält in den Niedrigeren Sphären die Möglichkeit der Wiedergutmachung seiner begangenen Verfehlungen. Für den Sieger ist die Höhere Sphäre das Eingangstor zum Ewigen Leben. Als ehemaliger Arzt auf Erden wusstest Du, dass der Richtungssinn im menschlichen Gehirn von gewissen Steuerungselementen kontrolliert wird. Heute wiederum weisst Du, dass sie nicht physischer sondern im Wesentlichen spiritueller Art sind. Wer sich dazu entschlossen hat, nur in der Finsternis zu leben, dem verkümmert der Sinn für das Göttliche. Deshalb ist es überhaupt nicht absonderlich, wenn er in finstere Abgründe fällt, denn nach dem Gesetz der Entsprechungen zieht der Lasterhafte den Abgrund an, und jeder von uns wird dort ankommen, wohin ihn seine eigene Füße tragen.

 

 

 

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DER MUSIKPLATZ

 

 

Am Nachmittag lud mich Lísias ein, ihn zum Musikplatz zu begleiten.

 

»Du musst Dich ein bisschen vergnügen, mein lieber André«, meinte er. Als ich zögerte, sagte er mit Nachdruck:

 

»Ich werde mit Tobias sprechen. Sogar Narcisa hat heute einen Ruhetag eingeschaltet. Komm, gehen wir! «

 

Ich bemerkte, dass etwas Sonderbares in mir vorging. Obwohl ich erst seit kurzem Dienst in der Rehabilitationsstation tat, verspürte ich große Liebe zu diesem Ort. Ich liebte die täglichen Besuche des Ministers Genésio, die Gesellschaft Narcisas, Tobias> Ratschläge, die Kameradschaft der Kollegen, all das tat meiner Seele wohl. Narcisa, Salústio und ich nutzten jede freie Minute, um Verbesserungen anzubringen, die die Lage der Krankenerleichtern könnte. Wir liebten sie, als wären sie unsere eigenen Kinder. Diese neue Erkenntnis tat mir gut.

 

Wir näherten uns Tobias und Lísias fragte ihn, ob ich ebenfalls einen Ruhetag haben könnte.

 

»Gute Idee! André sollte unbedingt den Musikplatz kennen lernen, erwiderte Tobias zufrieden. «

 

Er umarmte mich und sagte noch:

 

»Zögere nicht, geh hin und geniesse es! Wenn Du willst, kannst Du erst am Abend zurückkommen, der Schichtwechsel ist gewährleistet. «

 

Dankbar begleitete ich Lísias. Als wir sein Haus erreichten, das sich innerhalb des Areals des Ministeriums für Hilfeleistung befand, hatte ich die Freude, Frau Laura dort anzutreffen. Ich fragte sie, wann Eloisas Mutter von der Erde zurück erwartet werde. Es sollte nächste Woche sein und alle würden sich darauf schon sehr freuen, antwortete sie. Ich bemerkte, dass es im Inneren des Hauses noch schöner war als vorher, und auch der Garten war neu gestaltet worden.

 

Wir verabschiedeten uns von der Dame des Hauses, die mich umarmte und gutgelaunt sagte:

 

»Wie schön André. Für die Stadt ist es eine Freude, dass der Musikplatz einen neuen Stammgast bekommt. Aber achte auf Deine Gefühle! Heute kann ich Euch nicht begleiten und bleibe zu Hause. Aber sobald ich von der Erde zurückkehre, schließe ich mich Euch an. «

 

Heiter gingen wir alle zusammen auf die Strasse. Die jungen Frauen waren in Begleitung von Polidoro und Estácio, sie unterhielten sich lebhaft mit ihnen. Als Lísias und ich mit dem Aérobus an der Haltstelle vor dem Ministerium der Erhöhung angekommen waren, stiegen wir aus. Liebenswürdig teilte er mir mit:

 

»Endlich wirst Du meine Verlobte kennen lernen. Ich habe ihr viel von Dir erzählt. «

 

»Sonderbar! «, sagte ich etwas verwirrt, «verlobt man sich hier auch? «

 

»Warum denn nicht? Lebt die erhabene Liebe im sterblichen Körper oder in der unsterblichen Seele? Auf der Erde, mein Lieber, gleicht die Liebe dem Gold, das von rohem Gestein erdrückt wird. Die Liebe wird von den Menschen mit den eigenen egoistischen Bedürfnissen, mit Wünschen und minderwertigen Emotionen so stark vermengt, dass es schwer fällt, die Schlacke vom Edelmetall zu trennen. «

 

Dies klang logisch. Er sprach weiter: »In den spirituellen Sphären ist die Verlobungszeit viel schöner. Die Liebenden werden nicht vom Schleier der Illusion, der unsere irdischen Blicke trübt, eingehüllt. Wir sind, wie wir sind.

 

Lascínia und ich haben eine ganze Reihe von gescheiterten physischen Lebenserfahrungen hinter uns, und ich gestehe, dass meine Unbesonnenheit und meine Unzulänglichkeit für fast alle unglücklichen Erlebnisse der Vergangenheit verantwortlich waren.

 

Die Freiheit ist ein Merkmal der irdischen Gesellschaft, die vor allem den Männern vorbehalten ist. Leider weiß der Mann noch immer nicht, diese Freiheit richtig zu nutzen. Statt sie für sein spirituelles Wachstum zu gebrauchen, verkommt sie zu einem Werkzeug seiner niedrigen Instinkte. Die Gesellschaft gewährt den Frauen nicht die gleiche Freiheit, wie den Männern. Stattdessen werden der Frau strenge Regeln auferlegt, sodass man sogar behaupten könnte, dass die Männergesellschaft den Frauen hilft, nicht ins Verderben zu fallen.

 

Während des Daseins der Frau auf Erden muss sie die Tyrannei der Männer erdulden und sich deren Willen beugen. In der spirituellen Sphäre werden diese aus dem Gleichgewicht geratenen Werte wieder ins Lot gebracht. Wirklich frei ist nur derjenige, der es gelernt hat, auch gehorsam zu sein. Dies kann als Widerspruch verstanden werden, aber es hat seine Richtigkeit. «

 

»Schmiedest Du Pläne für ein neues Leben in der materiellen Welt? « fragte ich.

 

»Wie sollte es denn anders sein! «, erklärte er mir eifrig. » Ich muss mehr Erfahrungen sammeln, abgesehen davon habe ich noch irdische Schuld abzutragen. Lascínia und ich werden hier in Kürze unser Heim des Glücks aufbauen; womöglich werden wir in genau dreißig Jahren wieder auf der Erde inkarnieren. «

 

Mittlerweilen waren wir in der Nähe des Musikplatzes angekommen. Der großräumige Park war in unbeschreiblich schönes Licht getaucht. Aus wunderschönen Springbrunnen sprühten Wasserfontänen empor. Alles sah märchenhaft aus und war absolut neu für mich. Noch bevor ich Lísias meine Bewunderung mitteilen konnte, bemerkte er fröhlich:

 

»Lascínia wird immer von zwei Schwestern begleitet. Ihr könntet zusammen gehen. «

 

»Aber, Lísias«, unterbrach ich ihn zögernd - ich fühlte mich immer noch als verheirateter Mann, weshalb ich sagte:

 

»Ich hoffe, Du verstehst, dass ich noch eine starke Bindung zu Zélia verspüre. «

 

Der Freund lachte laut und bemerkte: »Das ist doch klar. Niemand will Deine Treuegefühle verletzen. Ich persönlich glaube aber nicht, dass die Ehe uns zwingt, das gesellschaftliche Leben in den Hintergrund zu stellen. Tu so, als ob Du ihr Bruder wärest, André. «

 

Ich lachte verlegen und wusste nichts darauf zu antworten. Wir erreichten den Eingang zum Musikplatz und Lísias bezahlte freundlicherweise die Eintrittskarten.

 

Vor dem schönen Musikpavillon lauschten Spaziergänger der Musik eines kleinen Orchesters. Von dort führten von Blumenbeeten umsäumte Spazierwege zur Mitte des Parks.

 

Ich wunderte mich über die große Vielfalt der gespielten Melodien, als Lísias erklärte:

 

»Der Musikplatz wird in einen äußeren- und einen Zentralplatz gegliedert. Auf dem äußeren Areal werden die musikalischen Wünsche jener Gruppen erfüllt, die die Musik noch nicht als erhabene Kunst erfassen können. Im mittleren Platz hingegen wird die universelle und göttliche Musik gespielt; man kann fast sagen, dass hier geheiligte Musik gespielt wird. «

 

Während wir durch die Alleen spazierten schien es mir, als lachten uns die Blumen an, so als wären sie Königinnen, umringt von ihrem Hofstaat. Dann ertönten wunderbar harmonische Klänge, die überall zu vernehmen waren. Auf der Erde gibt es nur wenige Menschen, die anspruchsvolle Musik wertzuschätzen wissen. Hingegen werden Volksmusik-Konzerte massenhaft besucht. Hier in der Kolonie stellte ich das Gegenteil fest: Der Zentralplatz war voll von Zuhörern. Ich hatte hier schon viele Menschenansammlungen gesehen. Das letzte Mal, als der Gouverneur für die Mitarbeiter des Ministeriums für Erneuerung eine Andacht gehalten hatte. Doch was ich heute erlebte, übertraf alle meine Erwartungen. Alle Ehrwürdigen der Kolonie Nosso Lar waren hier zusammen gekommen, es war ein unbeschreibliches Bild. Was diese Gesellschaft so außergewöhnlich erscheinen ließ, war nicht Luxus oder Exklusivität, nein! Alles war sehr natürlich. Die Schönheit lag in der Schlichtheit, in der Reinheit der Kunst und im pulsierenden, ungekünstelten Leben. Die individuelle, schlichte aber erlesene Eleganz der anwesenden Damen, die ihre Anmut auch ohne Schmuck zum Ausdruck brachten, beherrschte das Bild.

 

Ich genoss den Blick auf schöne, einladende und beleuchtete Parkanlagen, in denen große, mir auf der Erde unbekannte, prächtige Bäume wuchsen.

 

Nicht nur Liebespaare spazierten entlang der blumengeschmückten Alleen, sondern auch Gruppen von Frauen und Männern, die sich lebhaft über interessante und lehrreiche Themen unterhielten. Obwohl ich mich gegenüber diesen Kreisen von Auserwählten meiner Bedeutungslosigkeit schämte, entgingen mir ihre wohlwollenden Blicke nicht. Man sprach entspannt über das irdische Leben und ich konnte keine anzüglichen oder abfälligen Bemerkungen über die Menschen aus diesen Gesprächen heraushören. In den Gesprächen ging es um Liebe, Geistesbildung, wissenschaftliche Forschung und erbauende Philosophie. Der hohe Stellenwert gegenseitiger Hilfe wurde von allen hervorgehoben. Meinungsverschiedenheiten gab es anscheinend nicht.

 

Ich beobachtete, dass der Weiseste unter ihnen sich trotz seines enormen Wissens zurückhaltend verhielt und sich den weniger Gebildeten anpasste. Diese bemühten sich, das höhere Wissen, an dem sie teilhaben durften, zu verstehen und zu verinnerlichen. Immer wieder hörte ich, wie über Jesus und über die Frohbotschaft gesprochen wurde. Es war für mich sehr beeindruckend, dass die Erwähnung Jesu bei allen große Freude auslöste. Der Meister wurde nicht mit sinnloser Traurigkeit, negativen Gefühlen, oder gar unberechtigter Mutlosigkeit zitiert. Im Gegenteil; alle hielten Jesus für den bedeutendsten Wegweiser des ganzen irdischen Systems, dem sichtbaren und unsichtbaren, und für den verständnisvollen und gütigen Meister der aber auch weiß, dass Wachsamkeit für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Gerechtigkeit unerlässlich ist.

 

Diese - so viel Zuversicht ausstrahlende Gesellschaft beeindruckte mich tief. Sie hatten das verwirklicht, was eine große Anzahl von wahrhaft edelmütigen Denkern auf Erden sich ersehnte.

 

Immer noch bezaubert von der erhabenen Musik, hörte ich wie Lísias zu mir sagte:

 

»Unsere Ratgeber, die für Harmonie zuständig sind, empfangen aus den höheren Sphären die Inspiration. Manchmal werden berühmte Komponisten, die noch auf der Erde leben4, in Sphären wie die unsere gebracht. Bei diesen Besuchen werden sie von Geistwesen musisch inspiriert. Zurück auf der Erde, werden sie die musikalischen Fragmente die sie in der spirituellen Welt vernommen haben, im Rahmen ihrer Talente umsetzen und den Menschen vorspielen. André, das Universum ist voll von Schönheit und Erhabenheit, die strahlende Fackel des ewigen Lebens kommt von Gott. «

 

4) Während der Ruhephase des Körpers kann sich die Seele weitgehend von der physischen Hülle lösen - ein Silberfaden verbindet sie mit dem Leib - und begibt sich auf so genannte „Astralreisen". Wenn sie in den Körper zurückkehrt, erinnert sich die Person manchmal an das Erlebte als hätte sie geträumt. (Anm. der Übersetzerin).

 

Lísias sprach nicht weiter, denn plötzlich standen wir vor Lascínia und ihren Schwestern. Wir unterbrachen unser Gespräch und schlössen uns der froh gelaunten Gruppe an.

 

 

 

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DAS OPFER EINER FRAU

 

 

Ein Jahr in Nosso Lar ging zu Ende. Zurückschauend stellte ich freudig fest, dass ich die Zeit zu nutzen gewusst hatte. Neben den heilsamen Tätigkeiten, denen ich mich widmete, lernte ich nützlich zu sein und Freude an der Tätigkeit zu haben. Das hatte mein Selbstvertrauen gestärkt.

 

Meine irdische Familie durfte ich bislang noch nicht besuchen, trotz meiner quälenden Sehnsucht nach ihr. Manchmal wollte ich um diese Gunst bitten, doch mein Gefühl riet davon ab. Hatte ich nicht jede Hilfe erhalten, die ich benötigte? Bekam ich nicht von allen Zuneigung und Anerkennung? Was würde es bringen, wenn ich es erzwingen wollte? Ich kam zu der Überzeugung, dass es klüger war, abzuwarten. Wäre eine Wiederbegegnung mit meiner Familie zu diesem Zeitpunkt für mich von Nutzen, hätte ich dieErlaubnis von Minister Clarêncio dazu längst erhalten. Andererseits wusste ich, dass Minister Clarêncio auch noch im Ministerium für Erneuerung tätig war und weiterhin die Verantwortung für mich und meinen Aufenthalt in der Kolonie trug. Daran wurde ich von Frau Laura und Tobias immer wieder erinnert. Oft traf ich den gütigen Minister, aber er äußerte sich nie zu meinem Herzenswunsch. Er gab sich ohnehin sehr diskret, wenn es um seine Obliegenheiten ging. Das einzige Mal, dass er kurz auf meine Sehnsucht nach meiner Frau und meinen Kindern einging, war, als wir uns anlässlich der Weihnachtsfeier im Ministerium der Erhöhung trafen. Es war ein schöner Abend und er versicherte mir, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich in seiner Begleitung meine Familie auf Erden besuchen könne. Tief bewegt dankte ich ihm und wartete nun guten Mutes auf diese Gelegenheit. Inzwischen war es September des Jahres 1940 und meinem Wunsch konnte noch immer nicht entsprochen werden. Was mich tröstete war die Gewissheit, dass ich mich während der Wartezeit in der Rehabilitationsstation nützlich machen konnte. Ich arbeitete ohne mich auszuruhen, denn es gab ständig zu tun. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Kranken zu pflegen und in ihren Gedanken zu lesen, was sie brauchten. Auch widmete ich mich meiner unglücklichen Schwester Elisa und verhalf ihr auf sanfte Art, sich neu auszurichten. In dem Maße wie ich innerlich ruhiger und ausgewogener wurde, wuchs mein Bedürfnis, die Meinen wieder zu sehen. Die Sehnsucht nach ihnen schmerzte wie ein Stachel in meiner Brust. Wie um diese Sehnsucht zu besänftigen, besuchte mich meine Mutter von Zeit zu Zeit. Obwohl sie sich in höheren Sphären aufhielt, überließ sie mich nie meinem Schicksal.

 

In der Tat hatte sie mir bei unserem letzten Treffen gesagt, dass sie mich in ihre neuen Projekte einzuweihen be­absichtige. Damals hatte mich ihre sanfte Ergebenheit, mit der sie den moralischen, sie in der Seele tief verletzenden Schmerz annahm, sehr bewegt. Ich war neugierig zu erfahren, welche neuen Entscheidungen sie getroffen hatte und welche Pläne für die Zukunft noch auszuführen waren. So kam es, dass sie mich in den ersten Septembertagen 1940 in der Rehabilitati­onsstation besuchte. Nach der herzlichen Begrüssung eröff­nete sie mir, dass sie zur Erde zurückkehren wolle. Ruhig und zärtlich erklärte sie mir den Grund ihrer Entscheidung. Ich war bestürzt. Aufbegehrend sagte ich zu ihr:

 

»Ich bin nicht damit einverstanden. Warum solltest Du den Wunsch haben in den physischen Körper zurückkehren zu wollen? Warum auf dem dunklen Pfad wandern, wenn es nicht notwendig ist? «

 

Gelassen erwiderte meine Mutter:

 

»Mein Sohn, findest Du die Lage in der sich Dein Vater befindet, nicht schrecklich? Ich habe mich lange Zeit bemüht ihn aufzurichten, aber es war vergebens.

 

Heute ist Laerte ein Zweifler und sein Herz ist voll Bitterkeit. Er darf nicht länger in diesem Zustand bleiben, sonst ist er gefährdet, in noch tiefere Abgründe abzustürzen. Was soll ich tun, André? Würdest Du ihn in dieser Lage sehen, könntest Du ihm die rettende Hand entziehen? «

 

»Nein«, antwortete ich bedrückt, »ich würde alles daran setzen ihm zu helfen. Aber Du kannst ihm doch von hier aus helfen. «     himmels-engel.de

 

»Gewiss wäre das möglich, aber für die Geistwesen, die wahrhaftig lieben, geht die Hilfeleistung über das Händereichen aus der Entfernung hinaus. Es ist zu vergleichen mit dem Besitz von materiellen Gütern. Was wäre der ganze Reichtum wert, wenn wir unseren Lieben nichts davon abgeben würden? Würden wir es zulassen, dass unsere Kinder schutzlos im Freien leben müssen, während wir in einem Palast wohnen? Ich muss in seiner Nähe sein. Weil ich jetzt mit deiner Unterstützung rechnen kann, werde ich mich Luisa anschließen und deinem Vater helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. «

 

Ich überlegte und antwortete:

 

»Gibt es denn nichts, das Dich davon abbringen kann? «

 

»Nein, es muss sein. Ich habe sehr gründlich darüber nachgedacht, und mein Entschluss steht fest. Die ranghohen Geistwesen teilten meine Ansicht, als ich ihnen mein Vorhaben darlegte. Das Geistwesen, das sich in den niedrigeren Sphären aufhält, kann nicht selbst in die höheren Sphären aufsteigen. Das Gegenteil jedoch ist möglich. Es bleibt mir keine andere Wahl und ich darf keine Zeit verlieren. In Zukunft wirst du meine Stütze sein. Deshalb, mein Sohn, bewahre Deine Mutter im Herzen und unterstütze mich, sobald es Dir gestattet sein wird, zwischen den uns trennenden Sphären zu verkehren. In der Zwischenzeit sorge Dich um Deine Schwestern, die vermutlich immer noch in der Schwellenregion ihr Dasein fristen und an ihrer Läuterung arbeiten. In wenigen Tagen werde ich wieder auf der Erde sein und treffe mich mit Laerte, um die Aufgaben, die uns der Allmächtige Vater anvertraut hat, zu erfüllen. «

 

»Ja, aber wie wirst du ihn treffen? Im Geiste? «, fragte ich sie.

 

»Nein, mit Hilfe einiger Freunde konnte ich ihn letzte Woche auf der Erde finden und ohne sein Wissen seine sofortige Inkarnation vorbereiten. Wir haben uns den Umstand zu Nutze gemacht, dass er versucht vor den Frauen, die ihn immer noch und vielleicht auch mit Recht verfolgen, zu fliehen, um ihn sogleich in die neue leibliche Existenz einzubinden. «

 

»Wie ist das möglich? Verstößt das nicht gegen die Freiheit des Individuums? «

 

Meine Mutter lächelte traurig und erwiderte:

 

»Es gibt Reinkarnationen, die als drastische Maßnahmen zu verstehen sind. Wenn dem Kranken der Mut fehlt, helfen ihm Freunde die rettende, aber bittere Arznei zu schlucken. Was die unbegrenzte Freiheit angeht, so kann die Seele diese nur beanspruchen, wenn sie begriffen hat, dass sie Pflichten hat, die zu erfüllen sind. Es ist aber auch notwendig, zu erkennen, dass der Verschuldete Sklave seiner Verfehlungen ist. Gott hat den freien Willen erschaffen, aber wir sind die Schöpfer unseres Schicksals. Wir müssen den selbst erschaffenen Schicksalskreis durchbrechen. «

 

Sie sprach weiter während ich nachdachte und erläuterte:

 

»Die Schwestern, die Laerte verfolgen, wollen nicht von ihm lassen und es bestünde die Gefahr, dass sie versuchen würden, seine neue Reinkarnation zu verhindern. Aber dank dem Eingreifen der Göttlichen Hilfe, vertreten durch unsere Schutzgeister, steht diesem neuen irdischen Dasein nichts mehr im Wege. «

 

»Mein Gott« sagte ich bestürzt, »ist denn so was möglich? Sind wir tatsächlich dem Bösen unterworfen? Sind wir Marionetten in den Händen unserer Feinde? «

 

»Diese Fragen, mein Sohn«, erklärte meine Mutter in aller Ruhe, »hätten wir uns stellen sollen, bevor wir Fehltritte begehen und bevor wir aus Gefährten Gegner gemacht haben. Lass dich nicht vom Bösen verleiten. «

 

»Und was geschieht mit den bedauernswerten Frauen? «, wollte ich wissen. Meine Mutter sagte sanft:

 

»In einigen Jahren, werden sie als meine Töchter wieder geboren werden. Du darfst nicht vergessen, dass ich auf die Erde zurückkehre, um Deinem Vater zu helfen. So wie es nicht möglich ist, ein Feuer zu löschen, indem man Öl hineinschüttet, so wenig ist es möglich, wirkungsvoll zu helfen, wenn wir uns gegen die Widersacher stellen. André, es ist unerlässlich, zu lieben. Der Ungläubige sieht das wahre Ziel nicht und wandert durch die Wüste; die Verirrten kommen vom richtigen Weg ab und versinken im Morast.

 

Dein Vater ist heute ein Zweifler und die bedauerlichen Schwestern sind mit der schweren Bürde der Ignoranz und der Illusion belastet. In nicht allzu ferner Zukunft werde ich die Schwestern und deinen Vater in meinen mütterlichen Schoß aufnehmen. Auf diese Weise erfülle ich den Zweck meines neuen irdischen Daseins. «

 

Ihr strahlender Blick schien einen weit entfernten Punkt zu sichten. Dann schloss sie:

 

»Wer weiß, vielleicht werde ich später in die Kolonie Nosso Lar zurückkehren können und zusammen mit anderen geliebten Geschwistern werden wir ein großes Fest der Freude, Liebe und Vereinigung feiern können. «

 

Ich bewunderte sie für ihre Kraft, dieses Opfer zu bringen, kniete vor ihr nieder und küsste ihr die Hände.

 

Ab diesem Augenblick betrachtete ich meine Mutter nicht mehr nur als meine Mutter, sie war mehr als das. Sie war die hilfsbereite Botin, die sich der Missetäter annahm und sie zu ihren geliebten Kindern machte. Dadurch ermöglichte sie ihnen, ihren Weg als Kinder Gottes wieder aufzunehmen.

 

 

 

(47)

 

FRAU LAURAS RÜCKREISE

 

 

Nicht nur meine Mutter bereitete sich für ihre Rückkehr auf die Erde vor, auch Frau Laura stand kurz vor diesem bedeutenden Ereignis. Als ich erfuhr, dass ihre ehemaligen Mitarbeiter aus den Ministerien für Hilfeleistung und Erneuerung sie für die bevorstehende Rückkehr auf die Erde beglückwünschen wollten, schloss ich mich ihnen an. Am selben Abend überreichte auch der Verwaltungsvertreter der Kolonie Frau Laura die Ehrenurkunde für ihre geleisteten Stunden in Nosso Lar. Es ist schwer die passenden Worte zu finden, um zu beschreiben, was diese Auszeichnung wohl in einer Seele bewirken mag.Das schöne Haus von Frau Laura war erfüllt von Melodie und Licht, sogar die Blumen im Garten schienen noch schöner als sonst zu blühen. Viele Familien kamen und begrüßten die Freundin, die schon bald abreisen würde. Die Mehrheit der Besucher blieb nicht lange und nach der herzlichen Verabschiedung verließen viele wieder das Haus. Nur die engeren Freunde der Familie blieben bis spät in die Nacht. Auch ich blieb und durfte Ungewöhnliches und Kluges erfahren. Frau Laura war in tiefe Gedanken versunken. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie Mühe hatte die allgemeine Zuversicht zu teilen. Im überfüllten Salon versuchte sie, trotz des Gesprächslärms dem Verwaltungsbeamten zu erklären:

 

»Ich glaube, in zwei Tagen wird es soweit sein, denn die notwendigen Vorbereitungen und Aufklärungen sind bereits abgeschlossen. « Sie blickte traurig und sagte:

 

»Wie Sie sehen, bin ich bereit. «

 

Ihr Gesprächspartner sprach ihr freundlich zu und munterte sie auf.

 

»Ich hoffe, dass Sie mit Begeisterung und Enthusiasmus diese Herausforderung annehmen werden. Vergessen Sie nicht, dass Sie innerhalb einer Gemeinschaft von mehr als einer Million Mitgeschwister Abertausende von Arbeitsstunden geleistet haben. Das wird sich in Ihrer neuen Reinkarnation auszahlen. Zudem werden Ihnen Ihre geliebten Kinder von hier aus helfen können. «

 

»Ihre Worte machen mir Mut«, erwiderte sie, konnte aber ihre innere Unruhe nicht verbergen. »Dennoch ist es wichtig für mich, die Bedeutung meiner Reinkarnation so richtig zu begreifen. Es ist mir eine große Hilfe, zu wissen, dass mein Mann diesen Schritt vor mir tat und sich auf der Erde aufhält und dass meine geliebten Kinder immer meine Freunde sein werden...aber...«

 

»Meine Freundin«, unterbrach sie Minister Genésio, » stellen Sie bitte keine Mutmaßungen an! Das Vertrauen in den Göttlichen Schutz und in uns selbst soll Sie stärken. Die Vorsehung ist unendlich. Legen wir lieber die dunkle Sichtweise ab die uns vorgaukelt, dass das Leben im physischen Leib ein bitteres Exil ist. Gedanken des Versagens sind zu meiden, überdenken Sie stattdessen alle Möglichkeiten, die Sie zum Erfolg führen können. Außerdem sind wir, Ihre Freunde, auch noch da. Wir werden schwingungsmäßig gar nicht so weit entfernt von Euch sein. Ihr könnt uns vertrauen. Überlegen Sie doch, wie viel Freude es Ihnen bereiten wird, Ihren Liebsten auf der Erde helfen zu können. Und bedenken Sie bitte auch, wie ehrenvoll es ist, nützlich zu sein. «

 

Frau Laura lächelte nun zaghaft. Es schien, als hätte sie Mut gefasst, denn sie versicherte:

 

»Ich habe all meine Freunde um spirituelle Hilfe ersucht, damit ich wachsam bleibe und alles hier Erlernte beachte. Es ist mir bewusst, dass auf der Erde die Großzügigkeit Gottes überall anzutreffen ist.

 

Nehmen wir als Beispiel die Sonne: Wie für uns hier, so ist auch für den Menschen auf Erden die Sonne eine Energiequelle. Trotzdem, mein lieber Minister, fürchte ich mich vor dem Vergessen, dem wir vorübergehend unterworfen sind. Es lässt mich wie eine Kranke fühlen, die zwar geheilt wurde, aber deren Narben immer noch nicht ganz verheilt sind. Es braucht nur ein neuer Kratzer hinzuzukommen und die Krankheit kehrt zurück. «

 

Der Minister deutete an, dass er diese Überlegung nachvollziehen konnte und entgegnete ihr:

 

»Ich kenne die Schatten, die auf den niedrigeren Ebenen auf uns lauern. Trotzdem ist es unerlässlich, mutig zu sein und vorwärts zu gehen. Wir werden gerne dazu beitragen, dass Sie mehr für das Wohl der Anderen, als für das eigene arbeiten. Die große Gefahr auf Erden ist und wird immer sein, sich in den Fängen des Egoismus zu verstricken. «

 

»Hier, fügte Frau Laura nachdenklich ein, können wir uns auf die spirituellen Schwingungen der meisten Bewohner der Kolonie, deren Mehrheitim Licht des erlösenden Evangeliums erzogen wurde, stützen. Sollten wir rückfällig werden und alte Schwächen tauchen plötzlich auf, finden wir den notwendigen Rückhalt in unserem eigenen Umfeld. Auf der Erde könnten unsere guten Absichten in einem dunklen Meer von Aggressivität versinken. «

 

»Sagen Sie das nicht«, unterbrach sie der Minister gütig, »messen Sie dem Einfluss aus den niedrigeren Sphären nicht so große Bedeutung zu. Es würde sonst heißen, dass wir unseren Gegnern die Waffen, mit denen sie uns niederstrecken wollen, selbst liefern würden. Wo Gedanken entstehen, dort werden auch Schlachten ausgetragen. Jedes Licht der Liebe, das auf der Erde brennt, kann nicht ausgelöscht werden und wird für immer dort bleiben. Der Sturm menschlicher Leidenschaften kann nicht ein einziges Licht Gottes auslöschen. «

 

Frau Laura schien jetzt alles viel deutlicher zu sehen, denn nach dem Gehörten erklärte sie beherzt:

 

»Ich bin jetzt überzeugt, dass Ihr Besuch nicht umsonst war. Ich fühlte mich entmutigt, Ihre Erläuterungen haben mich jedoch wieder aufgerichtet. Es ist wahr, dass Gedanken wie ein Schlachtfeld sind auf dem unablässig Kämpfe ausgetragen werden. In erster Linie müssen wir das Böse und die Finsternis aus unserem Inneren vertreiben. Wir müssen herausfinden, wo sie sich verstecken, ohne ihnen die Beachtung zu geben, die sie von uns erwarten. Ja, jetzt verstehe ich! «

 

Genésio lächelte zufrieden und fügte hinzu:

 

»innerhalb unserer eigenen Welt verhält sich jeder Gedanke wie ein von uns getrenntes Wesen, daran sollten wir immer denken. Wenn wir die guten Gefühle in uns nähren, werden sie für unser Glück arbeiten und werden zu einer Armee, die uns verteidigt. Wenn wir jedoch irgendeine Art von bösen Gefühlen hegen, bereiten wir unseren Peinigern den Boden, auf dem sie wirksam werden können. «

 

Auch der Verwaltungsbeamte äusserte sich zu diesem Thema:

 

»Vergessen wir nicht, dass Frau Laura mit einem außerordentlich hohen spirituellen Guthaben auf die Erde zurückkehrt. Der Minister für Hilfeleistung hat heute von der Regierung ein Schreiben erhalten. In diesem werden die zuständigen Spezialisten für Reinkarnationen gebeten, bei Frau Laura die biologischen Faktoren ihrer Vorfahren, die zur Bildung des neuen Organismus unserer Schwester nötig sind, mit größter Sorgfalt zu behandeln und auszusuchen.«

 

»Ach ja, das ist wahr«, sagte Frau Laura, »ich bat um diese Maßnahme, vor allem was das Blut angeht, damit ich nicht zu sehr dem Gesetz der Vererbung unterworfen bin.«

 

»Also«, meinte der Verwaltungsbeamte, »Ihr Verdienst in Nosso Lar ist so groß, dass sich der Gouverneur persönlich einsetzte und die entsprechenden Anordnungen gab. «

 

»Nun, meine Freundin, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte auch Minister Genésio freudig, »viele Ihrer Geschwister und Gefährten werden um Ihr Wohlergehen besorgt sein. «

 

»Gott sei Dank!«, bemerkte Frau Laura erleichtert, »das war es, was ich hören wollte. Darauf hatte ich gewartet. «

 

Lísias und seine Schwestern waren hoch erfreut über die Äußerungen ihrer Mutter und die dazugekommene Teresa freute sich mit ihnen. Mein Freund Lísias fügte hinzu:

 

»Es war notwendig, dass meine Mutter ihre Sorgen ablegen konnte, denn wir bleiben zwar hier, werden aber nicht untätig sein. «

 

»Du hast recht«, pflichtete sie ihm bei, »ich gebe die Hoffnung nicht auf und vertraue dem Herrn und Euch allen. «

 

Jetzt herrschte unter den Anwesenden wieder Freude und Zuversicht, und man sprach über die Rückkehr auf die Erde als die gesegnete Gelegenheit für den Reinkarnierenden, bekannte Lektionen zu wiederholen und Neues zu lernen.

 

Als ich mich spät in der Nacht von Frau Laura verabschiedete, sagte sie mütterlich zu mir:

 

»Morgen Abend, André, erwarte ich Dich bei uns. Wir werden uns im kleinen Kreis treffen. Das Ministerium für Kommunikation versprach mir, meinen Mann zu uns zu bringen. Obwohl Ricardo gegenwärtig einen physischen Leib hat, wird er mit der brüderlichen Hilfe unserer Freunde hierher gebracht werden. Zudem wird es mein Abschied sein. Also bitte, fehle nicht. «

 

Gerührt bedankte ich mich bei ihr, meine Tränen des Abschiedsschmerzes unterdrückend.

 

 

 

(48)

 

ANDACHT IN DER FAMILIE

 

 

Ich vermute, dass ein mediales Gruppentreffen dieser Art, wie ich es Zuhause bei Lísias erlebte, für Anhänger des Spiritismus nichts Neues darstellt. Für mich jedoch war es einmalig und sehr interessant.

 

Im großräumigen Salon waren nahezu dreißig Personen versammelt. Um mehr Platz zu schaffen, wurden die Möbel an die Wand geschoben und bequeme Sessel in zwei Zwölferreihen vor einem Podium aufgestellt. Minister Clarêncio, der die Sitzung leitete, flankiert von Frau Laura und ihren Kindern, nahm auf dem Podium Platz. In etwa vier Metern Entfernung war eine kristallklare Kugel aufgestellt, die einen Durchmesser von ca. zwei Metern hatte. Amunteren Teil der Kugel befanden sich lange Kabel, die in einen kleinen Apparat eingesteckt wurden. Der Apparat hatte große Ähnlichkeit mit Lautsprecherboxen. Tausend Fragen schössen mir durch den Kopf, jedoch verhielt ich mich ruhig. Alle nahmen, freundschaftlich miteinander plaudernd, ihre Plätze ein.

 

Ich bekam einen Platz neben Nicolas, einem ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Hilfeleistung und engen Freund der Familie und wagte nun doch, einige Fragen an ihn zu richten. Auf meine Frage, worauf denn hier alle warteten, antwortete Nicolas:

 

»Wir warten auf die Erlaubnis des Ministeriums für Kommunikation, um mit unserem Bruder Ricardo Kontakt aufzunehmen. Obschon er auf Erden noch ein Kind ist, wird es für ihn nicht schwer sein, sich für einige Augenblicke von den starken Banden des physischen Leibes zu lösen. «

 

»Wird er denn hierher kommen können? «, fragte ich. »Warum denn nicht? «, antwortete Nicolas. »Nicht alle Inkarnierten sind an das Irdische gefesselt. Es gibt Geistwesen, die wie die Brieftauben längere Zeit zwischen zwei Ebenen hin und her fliegen und in den spirituellen sowie in den materiellen Ebenen leben können.«

 

Er zeigte auf den Apparat vor uns und erklärte:

 

»Diese Kamera wird uns Ricardo zeigen. «

 

»Wozu dient dann die Kristallkugel? Kann er sich nicht ohne diese Hilfe melden? «, wollte ich von ihm wissen.

 

»Bitte bedenke, « sagte Nicolas freundlich, »dass wir durch unsere emotionalen Regungen Strahlungen aussenden, die die Kommunikation stören könnten. Deshalb funktioniert dieser kristallklare Apparat, der aus isolierendem Material gebaut ist, wie ein Filter, der unsere mentalen Schwingungen nicht passieren lässt. «

 

In diesem Augenblick wurde Lísias von den Mitarbeitern des Ministeriums informiert, dass jetzt der Kontakt zu Ricardo hergestellt werden könne. Dies war der Höhepunkt dieser Zusammenkunft. Ich schaute auf die Wanduhr, es war vierzig Minuten nach Mitternacht. Auf meinen fragenden Blick antwortete Nicolas leise:

 

»Erst jetzt ist Ruhe in Ricardos irdischem Heim eingekehrt. Die Eltern schlafen, und im Haus ist es friedlich. Da Ricardo erst kürzlich in den irdischen Leib zurückkehrte, ist er noch nicht vollständig mit dem physischen Körper verbunden. «

 

Er musste schweigen, denn Minister Clarêncio stand auf und bat uns, unsere Gedanken auf eine einheitliche Frequenz zu bringen und alle unsere Gefühle zu bündeln.

 

Es wurde ganz still im Raum. Clarêncio sprach ein ergreifendes, schlichtes Gebet und danach spielte Lísias auf seiner Zither wundervolle Melodien, die den Raum mit Schwingungen tiefen Friedens und Verzauberung erfüllten.

 

Clarêncio ergriff erneut das Wort:

 

»Bruder«, sagte er zu Lísias, »senden wir jetzt unsere Botschaft der Liebe an Ricardo. «

 

Überrascht sah ich, wie die Töchter und die Enkelin von Frau Laura, zusammen mit Lísias, das Podium verließen und neben den Musikinstrumenten Platz nahmen: Judite am Klavier, Iolanda an der Harfe und Lísias an der Zither. Teresa und Eloisa vervollständigten das harmonische Familienensemble.

 

Die auf den Instrumenten gefühlvoll gespielten Melodien klangen sanft und verbreiteten im Raum eine himmlische Stimmung. Als Lísias und seine Schwestern mit reinen, kristallklaren Stimmen ihre wundervollen, selbst geschriebenen Lieder vortrugen, fühlte ich mich auf eine höhere Ebene der Gedanken erhoben.

 

Es ist nicht leicht, diese Verse voller Spiritualität und Schönheit in die menschliche Sprache umzusetzen, aber ich werde es versuchen. Denn nur auf diese Weise können wir begreifen, wie rein die Liebe auf den Ebenen des Lebens nach dem Tod des irdischen Körpers empfunden wird.

 

Liebster Vater,
während die Nacht den Segen des Schlafes bringt,
empfange von uns, geliebter Vater
unsere Liebe und Hingabe

 

Während das Lied der Sterne
bei dämmerndem Licht ertönt,
komm und lass die Stimme
Deines Herzens im gemeinsamen
Gebet sprechen.

 

Lass Dich nicht auf Deinem Weg
vom Schleier des Vergessens stören.
Gib Dich nicht dem Schmerz der Trennung hin.
Verletze Dich nicht am Bösen.
Fürchte den irdischen Schmerz nicht.
Erinnere Dich an unser Bündnis.
Bewahre Dir die Blume der Hoffnung
auf dem Weg zum unsterblichen Glück.
Während Du auf der Erde schläfst
sind unsere Seelen wach und erinnern sich
an die Morgendämmerung des höheren Lebens.
Warte die Zukunft mit einem Lächeln ab und
warte auf uns. Denn wir werden uns irgendwann
im Garten Deiner Liebe
voller Freude wieder treffen.

 

Komm zu uns, gütiger Vater!
Kehre in unser friedliches Heim zurück
und wandere im Licht,
wenn auch nur im Traum.

 

Vergiss für eine Minute die Erde
und trinke mit uns das reine Wasser
des Trostes und der Zuneigung,
das aus den Quellen von Nosso Lar sprudelt.

 

Wir vergessen Dich nicht,
Deine Opferbereitschaft, Deine Güte,
wie Du uns die erhabene
Lehre, Gutes zu tun, nahebrachtest.
Durchquere die dichten Wolken.
Überwinde den fremdartigen Körper
und steige auf den hohen Berg.
Komm zu uns,
damit wir gemeinsam beten können.

 

Als die letzten Klänge des Liedes ertönten, sah ich, wie das Innere der Kugel sich mit einer milchig grauen Substanz füllte. Als sie wieder klar wurde, zeigte sich die Gestalt eines sympathischen Mannes im reiferen Alter. Es war Ricardo. Die Ergriffenheit der Familie war offensichtlich, als sie ihn herzlich begrüßten. Zuerst sprach Ricardo mit seiner Gemahlin und dann mit seinen Kindern. Er schaute uns freundlich an und äußerte den Wunsch das sanfte Lied, das die Liebe seiner Kinder so gut wiedergab, nochmals hören zu wollen. Als das Lied zu Ende war, weinte er und sagte sehr bewegt:

 

»Meine Kinder, wie groß ist die Güte Jesu. Sein Evangelium bereicherte unsere Andacht mit soviel Liebe und Freude. In diesem Raum suchten wir gemeinsam den Weg zu den Höheren Sphären. Viele Male erhielten wir hier das Geschenk der spirituellen Nahrung und es ist wiederum in diesem Raum, dass wir uns treffen dürfen, um uns gegenseitig Mut zu machen. Ich bin wirklich sehr glücklich! «

 

Frau Laura weinte diskret, aber auch aus Lísias und seiner Schwestern Augen flössen reichlich Tränen.

 

Ricardo schien unter Zeitdruck zu stehen. Ich glaube, dass die anderen es ebenso bemerkten, denn ich sah, wie Judite die kristallklare Kugel umarmte. Ich hörte sie zärtlich sagen:

 

»Lieber Vater, sag schnell, was Du von uns brauchst, sag uns bitte, wie wir Dir von Nutzen sein können. «

 

Ricardo schaute tief bewegt zu Frau Laura und sprach dann sanft zu Judite:

 

»In Kürze wird Deine Mutter zu mir kommen. Später werdet Ihr nachkommen können. Was könnte ich mir mehr zum Glückwünschen, als den Meister zu bitten, uns für alle Zeiten zu segnen? «

 

Vor Rührung weinten wir nun alle. Als die Kugel sich wieder mit der milchig grauen Substanz langsam füllte, hörte ich, wie Ricardo, sich verabschiedend, sprach:

 

»Meine Kinder! Ich habe eine Bitte an Euch, die mir sehr am Herzen liegt: Betet zum Herrn, dass ich auf Erden kein leichtfertiges Leben führe, dass das Licht der Dankbarkeit und des Verständnisses immer lebendig in meinem Geist bleibt! «

 

Diese unerwartete Bitte berührte und erstaunte mich sehr. Ricardo grüßte nochmals alle herzlich, dann wurde die Kugel zunächst vollständig von der milchig grauen Substanz ausgefüllt. Danach wurde sie wieder klar.

 

Minister Clarêncio sprach ein sehr bewegendes Gebet und erklärte anschließend die Versammlung für beendet. Wir verspürten alle eine tiefe Freude. Ich ging zum Podium und wollte ebenfalls Frau Laura, die die Beglückwünschungen der Anwesenden entgegennahm, umarmen, ihr meine Dankbarkeit ausdrücken und ihr mitteilen, wie beeindruckt ich war. Ich war schon fast bei ihr, als mir jemand in den Weg trat. Es war Minister Clarêncio, der freundlich zu mir sagte: »André, morgen werde ich unsere Schwester Laura auf die Erde begleiten. Wenn Du willst, kannst Du die Gelegenheit benutzen um Deine Familie zu besuchen. «

 

Welch eine Überraschung - eine größere hätte ich mir nicht vorstellen können -, ich freute mich sehr darauf. Dennoch kam mir meine Tätigkeit in der Rehabilitationsstation in den Sinn. Der gütige Minister wandte sich wieder an mich, als könne er meine Gedanken lesen und sagte:

 

»Du hast bereits viele Überstunden geleistet. Es wird sicher möglich sein, dass Minister Genêsio Dir gestattet, eine Woche frei zu nehmen. Immerhin hast Du Dein erstes Jahr im aktiven Dienst bereits hinter Dir. «

 

Meine Brust drohte vor lauter Freude zu zerspringen. Weinend und gleichzeitig lachend, bedankte ich mich bei ihm. Endlich würde ich meine geliebte Gattin und meine geliebten Kinder wieder sehen.

 

 

 

(49)

 

FRAU LAURAS RÜCKKEHR NACH HAUSE

 

 

In Begleitung meines Wohltäters Clarêncio erreichte ich meine Geburtsstadt. Ich fühlte mich wie ein Reisender, der nach langer Zeit wieder nach Hause kommt. Die Landschaft hatte sich nicht sehr verändert: Die alten Bäume des Wohnviertels, das Meer und sogar der Himmel und die Gerüche waren die gleichen.

 

Ich war so trunken vor Freude, dass mir der sorgenvolle Gesichtsausdruck Frau Lauras entging. Ich verabschiedete mich von ihr und von der kleinen Gruppe, die sich langsam entfernte.Clarêncio umarmte mich und sagte:

 

»Du hast eine Woche Zeit, ich werde täglich hier vorbeikommen, um Dich zu sehen. Ansonsten bin ich mit der Reinkarnation unserer Schwester Laura und allen auftauchenden Problemen beschäftigt. Solltest Du jedoch den Wunsch verspüren, zurück nach Nosso Lar zu gehen, werden wir uns zusammen auf den Weg machen. Lass es Dir gut gehen, André. «

 

Ich winkte nochmals der lieben Frau Laura zu und dann war ich allein und erinnerte mich langsam an die damaligen Zeiten. Ich hielt mich jedoch nicht mit Einzelheiten auf, sondern durchquerte schnell einige Straßen und ging auf mein Haus zu. Mein Herz schlug wild und unregelmäßig, als ich mich dem breiten Eingangstor näherte. Der Wind blies und die Blätter der Bäume im kleinen Park bewegten sich so wie früher, als wolle er ihnen etwas ins Ohr flüstern. Im Frühlingslicht blühten Azaleen und Rosen und gegenüber dem Tor erblickte ich die stolze Palme, die Zélia und ich an unserem ersten Hochzeitstag gepflanzt hatten.

 

Glücklich ging ich ins Haus hinein. Und erst jetzt bemerkte ich, dass es große Veränderungen gegeben hatte. Wo waren die alten, aus Jakarandaholz angefertigten Möbel? Wo war das schöne Photo, das mich zusammen mit meiner Gattin und meinen Kindern zeigte? Ein ängstliches Gefühl überkam mich und ich taumelte. Was war geschehen? Ich ging ins Esszimmer und sah dort meine jüngste Tochter, die jetzt im heiratsfähigen Alter war. Fast zur gleichen Zeit sah ich Zélia in Begleitung eines Herrn, der wie ein Arzt aussah, aus dem Schlafzimmer kommen. Ich wollte meiner Wiedersehensfreude laut Ausdruck verleihen, redete und schrie dann laut, dass es meiner Meinung nach im Hause widerhallte, doch niemand schien meine Worte zu hören.

 

Ich erfasste die Lage sehr schnell und schwieg enttäuscht. Ich umarmte meine Gefährtin voller Sehnsucht und Liebe, aber Zélia zeigte keine Reaktion auf meine liebevolle Umarmung. Mit großem Ernst fragte sie den Herrn etwas, das ich nicht sofort verstehen konnte. Der Angesprochene antwortete ihr respektvoll mit leiser Stimme:

 

»Ich werde erst morgen eine sichere Diagnose stellen können. Dr. Ernesto leidet an einer Lungenentzündung. Wegen seines zu hohen Blutdrucks sind Komplikationen aufgetreten. Sein Gesundheitszustand ist sehr ernst und er braucht absolute Ruhe. «

 

Wer war dieser Dr. Ernesto? Ich überlegte fieberhaft, bis ich die Stimme meiner Frau hörte, die den Arzt anflehte:

 

»Bitte, Herr Doktor, retten Sie ihn, haben Sie Erbarmen, ich flehe Sie an. Zum zweiten Mal Witwe zu werden würde ich nicht ertragen. «

 

Zélia weinte und schien sehr verzweifelt zu sein.

 

Mir war zumute, als hätte mich ein Blitz getroffen. Ein anderer Mann hatte sich meiner Familie bemächtigt. Meine Ehefrau hatte mich vergessen. Das Haus gehörte nicht länger mir. Hatte es sich gelohnt, so lange darauf zu warten, um am Schluss diese Enttäuschung zu erfahren? Ich rannte in mein Zimmer und stellte fest, dass das geräumige Schlafzimmer jetzt anders eingerichtet war. Im breiten Bett lag ein Mann im reiferen Alter, dessen Gesundheitszustand bedenklich war. Ich sah im Zimmer drei dunkle Gestalten, die kamen und gingen. Ich begriff, dass sie versuchten, eine Verschlechterung seines Zustandes zu bewirken.

 

Ich fühlte ganz plötzlich den Wunsch, die Eindringlinge mit aller Kraft zu hassen und doch war ich nicht mehr der Gleiche wie einstmals, denn ich konnte es nicht. Unser Herr hatte mich aufgerufen, seine Lehre der Liebe, der Brüderlichkeit und des Vergebens auszuüben. Ich sah, dass der Kranke von niedrigen Geistwesen umringt war, die nur nach dem Bösen trachteten. Trotzdem wusste ich nicht, wie ich ihm in diesem Moment hätte helfen können.

 

Enttäuscht und bedrückt setzte ich mich und beobachtete Zélia, die mehrmals ins Zimmer kam und es wieder verließ. Zärtlich streichelte sie den Kranken, so wie sie es früher bei mir getan hatte. Ich war verstimmt, rang mit meinen trübsinnigen Gedanken, blieb aber trotzdem im Zimmer. Nach einer Weile kehrte ich aber doch zitternd in das Esszimmer zurück, wo sich meine Töchter unterhielten. Dort warteten noch andere Überraschungen auf mich. Die ältere Tochter hatte geheiratet und trug ihr Kind auf dem Schoss. Und mein Sohn, wo war er?

 

Zélia kam dazu, nachdem sie einer älteren Krankenschwester die Lage erklärt hatte und unterhielt sich, jetzt ruhiger geworden, mit ihren Töchtern.

 

»Mutter, ich besuche euch«, sagte die ältere Tochter, »nicht nur, um zu erfahren wie es Dr. Ernesto geht, sondern, weil mein Herz heute von einer seltsamen Sehnsucht nach Vater erfüllt wird. Ich weiß nicht warum, aber seit heute Morgen muss ich immer an ihn denken. Ich kann es nicht erklären. «

 

Sie musste weinen und konnte nicht weiter sprechen.

 

Erstaunt sah ich, wie Zélia sich ihrer Tochter zuwandte und herrisch sagte:

 

»Was soll das? Das hat noch gefehlt! Bange, wie ich mich fühle, soll ich auch noch Deine Verstörtheit ertragen? Habe ich Dir und Deinen Schwestern nicht ausdrücklich verboten, in diesem Haus über euren Vater zu sprechen oder nur seinen Namen zu erwähnen? Wisst ihr nicht, dass es Ernesto missfällt? Die Vergangenheit soll ruhen, wir sollten uns daran halten. Ich habe bereits alles, was mich an die Vergangenheit erinnern könnte, verkauft und habe sogar die Wände neu tapezieren lassen. Warum kann ich nicht mit Eurer Unterstützung rechnen? «

 

Meine andere Tochter fügte hinzu:

 

»Seit meine Schwester sich mit dem vermaledei­ten Spiritismus eingelassen hat, glaubt sie an diese Hirn­gespinste, dass die Toten zurückkehren. Das kann ja nur Schwachsinn sein. «

 

Die ältere Tochter weinte immer noch, dennoch versuchte sie zu sprechen.

 

»Hier geht es nicht um religiöse Überzeugungen. Ist es denn ein Verbrechen, sich nach seinem Vater zu sehnen? Habt Ihr denn gar keine Gefühle, liebt Ihr nicht? Mutter, wenn Vater noch bei uns wäre, würde sich Dein einziger Sohn nicht herumtreiben und ein solch unstetes Leben führen. «

 

»Also nun hör mal zu«, wandte sich Zélia gereizt und verstimmt ihr zu: »Gott gibt jedem das Glück, das er verdient. Vergesst nicht, dass André tot ist. Kommt also nicht mit Klagen und Tränen, denn die Vergangenheit können wir nicht ändern!«

 

Ich näherte mich der weinenden Tochter, trocknete ihr die Tränen, sprach ihr Mut zu und tröstete sie. Sie nahm meine Worte des Trostes nicht mit dem leiblichen Gehörsinn wahr, aber mit dem des Geistes. Ich befand mich in einer seltsamen Lage, denn ich konnte jetzt verstehen, weshalb meine wahren Freunde bis jetzt von einem Familienbesuch abrieten. Jetzt wurde ich von Ängsten und Enttäuschungen geschüttelt, mein ehemaliges Heim schien aus den Fugen geraten zu sein. Es gab nichts mehr, das an mich erinnerte. Auch die Liebe war nicht mehr spürbar. Es war so, als ob Diebe mein ganzes Hab und Gut genommen hätten. Nur eine meiner Töchter hielt das Andenken an meine wahre und ehrliche Liebe in Ehren. Nicht einmal in den langen Leidensjahren nach dem Übergang ins Jenseits weinte ich so bittere Tränen wie jetzt.

 

Nach einem Tag und einer Nacht befand ich mich immer noch dort. Ich wurde staunender Zeuge von Äußerungen und Verhaltensweisen meiner Familie, die ich ihnen niemals zugetraut hätte.

 

Am Nachmittag schaute Clarêncio vorbei und richtete mich mit seinen freundschaftlichen und gut gemeinten Worten wieder auf. Ich war niedergeschlagen, was ihm nicht entging. Verständnisvoll sagte er:

 

»Ich habe volles Verständnis dafür, dass Du gekränkt bist. Aber ich freue mich für Dich, dass Du diese Situation erleben kannst, denn sie bietet Dir eine wichtige Gelegenheit zum Lernen. Ich habe weder Anweisungen zu geben noch Ratschläge zu erteilen. Das ist Dein Augenblick, mein Lieber! Ich kann höchstens an die Worte Jesu erinnern, als er uns empfahl, Gott über alle Dinge zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst. Wenn wir diesen Rat befolgen, werden wir feststellen können, das er immer bewirkt, dass wir auf unserem Weg wahre Wunder der Liebe und des Verständnisses erleben dürfen. «

 

Seine Worte berührten mich tief. Ich dankte ihm von Herzen und bat ihn, er möge mir immer beistehen.

 

Liebevoll lächelnd verabschiedete sich Clarêncio von mir.

 

Plötzlich war ich nun auf mich selbst gestellt - eine ganz neue Realität. Ich überlegte, wie ich der Empfehlung des Evangeliums nachkommen könnte. Ich hatte mich beruhigt und sah ein, dass es keinen Anlass gab, Zélias Lebensführung zu verurteilen. Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich als Witwer hier weiterleben müsste? Hätte ich die dauernde Einsamkeit ertragen? Hätte ich nicht tausend und einen Vorwand gesucht, um eine neue Ehe zu rechtfertigen? Und der arme Kranke? Warum sollte ich ihn hassen, war er nicht auch ein Bruder im Hause unseres Vaters? Hätte es der Familie nicht schlimmer ergehen können, falls Zélia nicht auf dieses neue Liebesbündnis eingegangen wäre? Ich erkannte, dass es unbedingt notwendig war, gegen den verzehrenden Egoismus und die Eifersucht anzukämpfen. Jesus hatte mir andere Wege eröffnet. Ich konnte mich nicht wie ein Mensch auf Erden verhalten. Meine Familie bestand nicht nur aus der Gattin und den drei Kindern auf der Erde. Meine Familie hatte sich jetzt in eine universelle Gemeinschaft verwandelt, zu der auch die Kranken der Rehabilitationsstation gehörten. Von diesen Erkenntnissen beflügelt, wandelten sich auch meine Gedanken. Erneuert und gestärkt nahm ich wahr, dass auf wundersame Weise ein neues, wahres Gefühl der Liebe aus meinem Inneren emporwuchs und mich erfüllte.

 

 

 

(50)

 

BÜRGER VON NOSSO LAR

 

 

In der zweiten Nacht war ich erschöpft. Allmählich begriff ich, was es heißt, sich von den spirituellen Werten der Liebe und des gegenseitigen Verständnisses zu ernähren. In Nosso Lar kam ich während des strengen Dienstes, den viele von uns gerne übernahmen um unseren Aufstieg zu fördern, tagelang ohne Nahrung aus. Die Gegenwart lieber Freunde, ihre Bezeugungen des Wohlwollens und der Freundschaft, sowie das Einatmen reiner frischer Luft und das Trinken von reinem Wasser waren für mich Nahrung genug. Indessen war es hier auf Erden anders. Es war, als befände ich mich auf einem Schlachtfeld und musste erleben, wie sich meine Liebsten in Peiniger verwandelten. Die guten WortenClarêncios beruhigten meine Emotionen. Endlich war in mir das Verständnis für menschliche Bedürfnisse erwacht und ich sah ein, dass Zélia nicht mir gehörte, sondern dass ich ihr Bruder und Freund sein musste. Ich konnte auch meine Kinder nicht besitzen, aber ihnen bei ihren Bemühungen sich zu entwickeln, zur Seite stehen.

 

Ich erinnerte mich, dass mir einmal Frau Laura anhand des Verhaltens einer Biene erläuterte, wie sich ein Geschöpf verhalten soll, wenn ihm eine schwere Aufgabe gestellt wird. Sie sagte:

 

»Die Biene nährt sich von der Blume und holt sich das Beste daraus, - den Honig. Das heißt: Man soll an edle Seelen denken, sich ihre guten Beispiele in Erinnerung rufen und daraus die entsprechenden Schlüsse ziehen. «

 

Ich folgte diesem wertvollen Rat und dachte an meine Mutter. Hat sie nicht ein Opfer der Liebe zugunsten meines Vaters gebracht, als sie die bedauernswerten Frauen als die Kinder ihres Herzens in ihrem Schöße aufnahm? In Nosso Lar gab es viele solch erhabener Beispiele. Ministerin Veneranda setzt sich seit vielen Jahrhunderten für diejenigen ein, die ihr besonders am Herzen liegen. Narcisa bringt ihr Opfer, indem sie in der Rehabilitationsstation arbeitet, damit sie das Recht erwerben kann, eine erneute Reinkarnation auf der Erde zu erhalten, um dort weiter helfen zu können. Frau Hilda hat den Drachen der niederträchtigen Eifersucht besiegt. Was soll ich zu all den Zeichen der Freundschaft und Brüderlichkeit, die mir viele Freunde in der Kolonie zollen, sagen? Nachdem Clarêncio mich aus der Schwellenregion holte, war er wie ein Vater zu mir. Die Mutter Lísias empfing mich wie einen Sohn und ihr Sohn Tobias wie einen Bruder. Von jedem, der mich von Anbeginn an begleitet hat, habe ich viel Nützliches gelernt. Das unterstützt mich jetzt bei der Neuausrichtung meiner Gedanken und der sich schnell ändernden Betrachtungsweise.

 

Ich versuchte, die anscheinend ungerechten Behauptungen der Familie nicht zu beachten. Stattdessen beschloss ich, die göttliche Liebe über alles und die wahren Bedürfnisse meiner Mitmenschen über meine persönlichen Gefühle zu stellen.

 

Trotz meiner Müdigkeit ging ich das Schlafzimmer des Kranken und sah, dass sich sein Zustand von Minute zu Minute verschlechterte. Zélia stützte seinen Kopf und sagte weinend zu ihm:

 

»Ernesto, Ernesto mein Lieber, hab Erbarmen mit mir! Lass mich nicht allein! Was wird aus mir, wenn Du nicht mehr da bist? « Der Kranke streichelte ihre Hände und trotz seiner Atemnot sprach er liebevoll mit ihr.

 

Ich meinerseits bat den Herrn, mich in meinem Bemühen, das Ehepaar als meine Geschwister zu akzeptieren, zu unterstützen.

 

Ich erkannte, dass Zélia und Ernesto eine tiefe Liebe verband. Wenn ich mich tatsächlich als ihr Bruder fühlen könnte, dann sollte ich ihnen die Hilfe zukommen lassen, die mir zur Verfügung stand.

 

Mein erster Versuch zu helfen war, die unseligen Geister, die sich heftig an den Kranken klammerten, zu bitten, ihn zu verlassen. Es war keine leichte Aufgabe und es kostete mich viel Kraft. Ich fühlte mich sehr niedergeschlagen.

 

In meiner Not erinnerte ich mich an das, was Tobias mir einst gesagt hatte:

 

»Hier in Nosso Lar muss nicht jeder den Aérobus neh­men, wenn er sich fortbewegen will. Die höher entwickelten Geistwesen können sich kraft ihres Willens fortbewegen. Dassel­be geschieht bei Ferngesprächen: Derweil beide Partner sich auf die gleiche Schwingungs-frequenz der Gedanken einstimmen, können sie über weite Distanzen miteinander sprechen. «

 

Wie nützlich würde mir die Hilfe von Narcisa in der jetzigen Situation sein. Sehr konzentriert betete ich voller Inbrunst zum Vater und bat in Gedanken Narcisa um Hilfe. Ich erzählte ihr von meinen bitteren Erfahrungen und meiner Absicht, den beiden zu helfen. Gleichzeitig bat ich sie, mich dabei nicht allein zu lassen.

 

Was dann geschah, hätte ich nicht erwartet.

 

Etwa nach zwanzig Minuten - ich betete immer noch - spürte ich, wie jemand meine Schulter leicht berührte. Es war Narcisa. Sie stand lächelnd neben mir und sagte:

 

»Ich hörte deinen Aufruf mein Freund und nun bin ich hier, um dir zu helfen. «

 

Meine Freude war grenzenlos. Die Gütige erfasste sofort die ernste Lage des Kranken und sagte: »Wir haben keine Zeit zu verlieren. « Als erste Maßnahme behandelte sie den Kranken mit dem magnetischen Passé. Der Kranke beruhigte sich und wurde gleichzeitig von den dunklen Gestalten abgesondert. Wie von Zauberhand entfernten sie sich von dem Kranken. Anschließend bat mich Narcisa, sie nach draußen in die Natur zu begleiten, was ich zögernd auch tat. Als sie mein erstauntes Gesicht sah, erklärte sie:

 

»Nicht nur der Mensch besitzt die Fähigkeit, Empfänger und Sender von Fluiden zu sein. Gleichermassen wirken die Kräfte der Natur in den untergeordneten Rängen verschiedener Bereiche. Für unseren Kranken nehmen wir die Hilfe der Bäume in Anspruch. Sie sind sehr wirksam. «

 

Schweigsam folgte ich ihr, wunderte mich aber über diese neue Unterweisung. Wir gelangten zu einem Ort mit stark belaubten Bäumen. Befremdet hörte ich zu, wie Narcisa seltsame, mir unverständliche Worte in den Wald rief. Nach einer Weile erschienen acht Geistwesen. Überrascht hörte ich, wie Narcisa sich bei ihnen nach Mango- und Eukalyptusbäumen erkundigte. Die Geistwesen gaben ihr die gewünschte Auskunft. Ich wusste nichts über diese Geistwesen, weshalb Narcisa mir erklärte:

 

»Die Brüder die sich gerade meldeten, sind ganz normale Diener des Pflanzenreiches. «

 

Da ich noch überraschter als vorher war, fügte sie hinzu:

 

»Wie Du feststellen kannst, gibt es im Hause des Vaters nichts, was nicht hilfreich ist. Wo der Schüler etwas lernen will, steht auch der Lehrer bereit. Wo es Not gibt, greift die göttliche Vorsehung ein. In Gottes Schöpfung ist nur einer unglücklich: Der leichtsinnige Geist, der sich der Finsternis des Bösen verschrieben hat. «

 

Narcisa bearbeitete kurz einige Substanzen, die sie aus den Eukalyptus- und Mangobäumen entnahm. Während der ganzen Nacht wurde der Kranke mit diesen Mitteln eingerieben. Die Wirkstoffe wurden durch die Atmung und durch die Haut des Kranken aufgenommen und sein Befinden besserte sich auffallend. Am frühen Morgen stellte der Arzt verblüfft fest:

 

»Während der Nacht trat eine außergewöhnliche Reaktion ein. Ein Wunder der Natur!«

 

Zélia strahlte und durch das ganze Haus ging eine Welle der Freude. Auch mich erfüllte ein tiefes Gefühl des Jubels. Dieses Erlebnis löste in meinem Inneren eine Welle der Hoffnung aus. Erstarkt erkannte ich, dass die minderwertigen Fesseln der Eifersucht, die mich bisher festhielten, für immer von mir abfielen.

 

Noch am selben Tag kehrte ich in Begleitung von Narcisa zu unserer Kolonie Nosso Lar zurück. Zum ersten Mal bewegte ich mich mittels der Levitation* fort und in Sekundenschnelle legten wir große Entfernungen zurück. Das Gefühl der Leichtigkeit war für mich überwältigend. Als ich Narcisa davon erzählte, sagte sie:

 

»In Nosso Lar wird auf diese Fortbewegungsmethode der Levitation weitgehend verzichtet, da die Mehrheit der Bewohner von Nosso Lar diese Fähigkeit noch nicht entwickelt hat. Statt der leichteren Fortbewegungsart benutzen wir auf öffentlichen Straßen den Aérobus. Hingegen wählen wir die schnellere Fortbewegung außerhalb der Stadtgrenzen, wenn es gilt, große Entfernungen in kurzer Zeit zurückzulegen. Ich freute mich und fühlte, dass die letzten Ereignisse für meine Seele eine wichtige Bereicherung darstellten. Nun konnte ich unter Narcisas Anleitung ohne nennenswerte Schwierigkeiten von den spirituellen zu den irdischen Sphären reisen. Auf diese Weise konnte die Therapie Ernestos ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Seine Genesung machte rasche Fortschritte.

 

Clarêncio besuchte mich täglich und zeigte sich mit meiner Arbeit sehr zufrieden.

 

Nach einer Woche war meine erste bewilligte Abwesenheit vom Dienst in der Rehabilitationsstation zu Ende und bei Zélia und Ernesto hat sich das Glück wieder eingestellt.

 

Nun war es höchste Zeit, meine Tätigkeit in der Rehabilitationsstation wieder aufzunehmen. Bei Sonnenuntergang kehrte ich nach Nosso Lar zurück. Ich hatte mich in jeder Beziehung stark verändert. In den vergangenen sieben Tagen habe ich die wertvolle Lektion des wahren Verständnisses und der wahren Brüderlichkeit nicht nur gelernt, sondern auch gelebt.

 

In diesen frühen Abendstunden führte ich Selbstgespräche und erhabene Gedanken belebten meinen Geist. Wie wunderbar war die göttliche Vorsehung! Mit welcher Weisheit stellt der Herr uns Aufgaben und schafft Bedingungen, die unser Wachstum fördern! Mit welcher Liebe kümmert er sich um die Schöpfung, dachte ich!

 

Meine schönen Gedankengänge wurden unterbro­chen, denn mehr als zweihundert Gefährten kamen mir entgegen und begrüssten mich freundlich und warmherzig. Lísias, Lascínia, Narcisa, Silveira, Tobias, Salústio und zahlreiche andere Mitarbeiter der Rehabilitationsstation waren dort versammelt. Dieser Empfang erstaunte mich und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Dann eilte Minis­ter Clarêncio, herbei, schüttelte meine Hand und sagte:

 

»Bis heute warst du in der Kolonie mein Mündel. Doch nun erkläre ich dich im Namen der Regierung zum Bürger von Nosso Lar. «

 

Warum wird mir eine solche Ehre zuteil, da mein Sieg doch so klein war, dachte ich? Überwältigt brachte ich kein Wort heraus. Angesichts der großen Gnade, die der Herr mir erwies, warf ich mich in die Arme meines Mentors und weinte aus Dankbarkeit und Freude.

 

 

 


(***)

 

GLOSSAR

 

 

Eine Erklärung von Worten und Ausdrücken, die dem Leser vielleicht nicht vertraut sind.

 

• ATMOSPHÄRISCHE LEBENSPRINZIPIEN

Lebensenergien aus der Atmosphäre.

 

• BRUDERSCHAFT DES LICHTES

Bruderschaft von Lichtwesen. Hochentwickelte Geistwesen aus den Höheren Sphären.

 

• ERDOBERFLÄCHE

Die Region, auf der inkarnierte Menschen leben.

 

• FLUIDUM, FLUIDE

Feinstoffliche Kraft. Die elektrischen, magnetischen Fluide sind Modifikationen des allgemeinen Fluidums, welches eigentlich nur ein vollkommenerer, feinerer Stoff ist, den man als selbständig betrachten darf.

 

• GEISTMISSIONARE (geistige Missionare)

Geistwesen, die mit einer bestimmten Mission beauftragt sind.

 

• GEISTWESEN

Eine nicht inkarnierte Seele.

 

• INKARNATION,

Annahme eines menschlichen Körpers.

 

• INKARNIERT, sein

Das heißt "im physischen Leib sein", noch im menschlichen Körper sein.

 

• LEVITATION:

Sich mittels der Gedanken- bzw. der Willenskraft fortbewegen.

 

• MAGNETISCHER PASSE

Feinstoffliche Heilfluide werden von einem Geistwesen in den Körper eines Heilers eingebracht, der als Vermittler dient und sie wiederum auf den erkrankten Körper des Patienten überträgt. Abgegeben werden die Fluide meistens wieder über die Hände des Heilers, die in einem knappen Abstand langsam über den betroffenen Körperstellen des Patienten bewegt werden. Derselbe Energieaustausch ist auch zwischen zwei Geistwesen möglich. Die kranken Fluiden werden durch neue, mit Vitalstoffen angereicherte Fluide ersetzt. Die übertragenen Fluiden können von den Geistwesen selbst angereichert werden. Der Passé sollte uneigennützig, also gratis gegeben werden.

 

• MAGNETISIERTES WASSER

Mit stärkenden und heilenden Fluiden angereichertes Wasser.

 

• MORADIA

Eine mit den niedrigeren Regionen sehr verbundene spirituelle Kolonie.

 

• NICHTINKARNIERT

Nicht „im physischen Leib" sein, keinen menschlichen Körper haben.

 

• „NOSSO LAR"

Eine astrale Kolonie über Rio de Janeiro, Brasilien, unsichtbar für die Menschen auf Erden.

 

• PHALANX: (griechisch)

Im Altertum leitete die Phalanx den Übergang von Einzel- zu Formationskämpfen.

 

• PRINZESSIN ISABEL.

Am 13. Mai 1888 nutzt Prinzessin Isabel, eine Anhängerin der Sklavenbefreiung in Brasilien, die Abwesenheit ihres Vaters, Dom Pedro II., um das „Goldene Gesetz", das die Freilassung aller Sklaven verfügt, zu unterzeichnen. Versklavt waren damals noch rund eine halbe Million Menschen, ein Anteil von 5,6% der damaligen Gesamtbevölkerung Brasiliens.

 

• PSYCHOGRAPHIE

Bedeutet: nach psychischem Diktat geschrieben. Das Medium leiht im Trancezustand dem Geistwesen, bzw. dem geistigen Autor Arm und Hand als Werkzeug, damit sich dieser unmittelbar - zuweilen in seiner spezifischen menschlichen Handschrift, eventuell auch in einer dem Medium unbekannten Sprache - äußern kann. Automatisches Schreiben ist eine andere Bezeichnung für diesen Vorgang und ist relativ weit verbreitet.

 

• REGION DER FINSTERNIS

Die niedrigsten Regionen, die unmittelbar an die irdische Sphäre angrenzen.

 

• REHABILITATIONSSTATION

Hier werden Geistwesen aus der Schwellenregion aufgenommen und gepflegt. Da sie sehr lichtempfindlich sind, liegt die Station im Dämmerlicht.

 

• REINKARNATION

Wiedergeburt. In einem neuen irdischen Körper geboren zu werden.

 

• REINKARNIEREN

Einen neuen physischen Körper annehmen.

 

• SAMARITER

Gruppe von helfenden Geistwesen, die in der Schwellenregion arbeitet.

 

• SCHWELLENREGION

Siehe Erklärung im Kapitel 12 dieses Buches

 

 

 

 

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